Читать книгу Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" - Группа авторов - Страница 13
Was ist Literatur? Was ist Literaturwissenschaft? Was ist Literaturtheorie?
ОглавлениеIm Fall der Literaturwissenschaft werden die beiden Aspekte »Was ist Literatur?« und »Was ist Literaturtheorie?« systematisch miteinander verbunden: Der literarische Status oder die Eigenschaft eines Textes als Literatur, seine Literarizität, und die Art und Weise, wie wir Zugang zu ihm finden (ihn interpretieren), hängen also aufs Engste miteinander zusammen. Ja, man kann so weit gehen, wie Manfred Frank es in einem Aufsatztitel wunderbar zum Ausdruck gebracht hat, zwischen diesen beiden Fragen einen engen Zusammenhang zu sehen: »Was ist ein literarischer Text und was heißt es, ihn zu verstehen?« (vgl. Frank 1990; Jahraus 2004).
Die Frage, was Literatur sei, ist die Grundfrage der LiteraturheorieGrundfrage der Literaturtheorie. Oder anders gewendet: Literaturtheorie ist die Beantwortung der Frage: Was ist Literatur? Beziehungsweise: Was ist ein literarischer Text?
Diese Frage erscheint ganz eigentümlich, weil wir doch anscheinend schon alle wissen, was ein literarischer Text ist. Literaturtheorie hat aber die Aufgabe, unser Selbstverständnis in dieser Frage zu irritieren und das, was uns in oberflächlichen Bezügen und Routinen der Praxis selbstverständlich erscheint, zu hinterfragen und zu verfremden. Sie soll aufzeigen, dass unser Verständnis von Literatur selbst wiederum auf einer Reihe von historischen und konzeptionellen Voraussetzungen beruht. So kann sie die Möglichkeit eröffnen, das betreffende Phänomen (unsere Erfahrung von und mit Literatur) völlig neu zu konzipieren. Wer einen literarischen Text interpretiert, hat ihn zumeist vor sich liegen, und die Frage, was denn dieser Text als literarischer Text sei, stellt sich gar nicht. Wird also der Status des literarischen Textes selbst in Frage gestellt, macht man also den literarischen Text zum Gegenstand einer Literatur-Wissenschaft, so radikalisiert sich die Grundlagenforschung – ›radikalisieren‹ hier durchaus in der eigentlichen Wortbedeutung: Sie geht zurück zu den Wurzeln, zu dem Ursprung ihres eigenen Tuns. Sie geht hinter ihre eigene Praxis zurück und fragt nach dem, womit sie ohnehin schon immer umgeht. Eben dadurch öffnet sie neue Perspektiven, ermöglicht neue Bestimmungen und verändert so auch die Art des Umgangs mit literarischen Texten fundamental.
Damit werden die historischen Wurzeln unseres heutigen, modernen Literaturbegriffs offenbar. Spätestens im 18. Jahrhundert hatte sich (im deutschsprachigen Bereich) ein LiteraturbegriffLiteraturbegriff entwickelt, der drei wesentliche Kennzeichen miteinander verknüpfte:
1 die Schriftlichkeit,
2 den ästhetischen, den rhetorischen, den semantischen und den semiotischen Charakter sowie
3 die Interpretationsbedürftigkeit des literarischen Textes.
Schriftliche Texte, die nicht mehr in eine Gesprächssituation eingebunden sind, sind potentiell ohnehin interpretationsbedürftig (Eco 1992). Moderne Literatur in diesem Sinne konnte und musste deshalb interpretiert werden, weil Sinngebungsinstanzen (Religion, Gesellschaft, Werte z. B.) außerhalb der Literatur nicht mehr umfassend dafür sorgten, dass jede Leserin und jeder Leser wusste oder wissen konnte, worauf er Literatur zu beziehen hatte, um sie zu verstehen. Vielmehr wurde die Frage nach dem Sinn des Textes selbst zu einem genuinen Bestandteil des Rezeptionserlebnisses.
Literatur kann diese Tendenz so weit radikalisieren, dass sie ihren eigenen literarischen Charakter in Frage stellt. 1969 hat Peter Handke ein Gedicht mit dem Titel Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg am 27. 1. 1968 veröffentlicht, das tatsächlich aus nichts anderem besteht als den Namen einer Mannschaftsaufstellung. Der Text wirft damit implizit die Frage auf, wann wir bereit sind, einen Text als literarisch einzustufen und anzuerkennen.
Literaturtheorie hat demnach die Aufgabe, überhaupt erst zu bestimmen, was Literatur ist. Literaturtheorie und LiteraturwissenschaftLiteraturtheorie erfüllt damit eine wesentliche Funktion für die Literaturwissenschaft: Sie bestimmt auch, was Gegenstand der Literaturwissenschaft ist. Sie löst die naive Vorstellung auf, wir wüssten immer schon ganz genau, was Literatur ist, und müssten uns dieser nur wissenschaftlich zuwenden. Stattdessen zeigt sie, dass der Text so komplex ist, dass er uns eine Fülle von Möglichkeiten bietet, wie wir uns seiner annehmen können, ja, mehr noch: Sie zeigt uns, dass wir das, was wir als literarischen Text lesen oder verstehen, überhaupt durch diese Form der Zuwendung erst schaffen. Wir konstituieren das Objekt der Literaturwissenschaft, indem wir einen Text als literarischen lesen. Und ihn als literarischen zu lesen ist selbst Teil seiner Interpretation.
Aus diesem Verständnis von Literaturtheorie heraus hat Niels Werber die Idee entwickelt, die das Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft umdreht. Der Vorstellung, es gäbe keine Literaturwissenschaft ohne Literatur, hält er entgegen: »Es gibt keine Literatur – ohne Literaturwissenschaft« (Werber 1997). Damit ist gemeint, dass Literatur seit ihrem Bestehen immer schon eines Begleitdiskurses bedarf, der Auskunft darüber gibt, wann ein Text als literarischer Text zu lesen und zu verstehen ist und wann nicht. Dies haben lange Zeit Poetologien (also Überlegungen darüber, wie man poetische, also im weitesten Sinne auch literarische Texte schreibt) geleistet,1 bevor die Literaturwissenschaft diese Aufgabe übernommen hat.2