Читать книгу Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann" - Группа авторов - Страница 21
III Glauben und Wissen – das »Unheimliche« im Konflikt der Erkenntnisformen
ОглавлениеDas ebenso problematische wie komplexe Verhältnis zwischen Glauben und Wissen, das in der immer wieder versuchten und doch unmöglichen Liebe zwischen Nathanael und Clara ausgetragen wird, prägt viele philosophische, einzelwissenschaftliche und literarische Debatten um 1800. So zeigt der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) in einer seiner frühesten Schriften,6 dass sich beide Erkenntnisformen gerade durch den Prozess der Aufklärung gegenseitig ebenso ausschließen wie bedingen, ohne diese erzwungene Abhängigkeit zu reflektieren (Hegel 1986).
Um dieses komplexe Verhältnis von Glauben und Wissen als einem entscheidenden Verständnishorizont der Erzählung präzise und anschaulich herauszuarbeiten, bedient sich der Erzähler in der Folge nach seinem Selbstkommentar verschiedener Techniken: Nach einer kurzen Ergänzung zur Vorgeschichte, die Nathanaels Leben in der Familie Claras und Lothars darstellt, gibt er eine ausführliche Charakteristik Claras, die den Handlungsverlauf zunächst nicht vorantreibt. Dabei erweist sich die weibliche Protagonistin zwar nicht als schöne, wohl aber als moralisch integre Person, was schon an ihrer Physiognomik abzulesen sei. Darüber hinaus sei sie mit »lebenskräftige[r] Fantasie« ausgestattet, vor allem aber durch einen »hellen scharf sichtenden Verstand« (21/[20]) ausgezeichnet, was ihr (nach zeitgenössischen Vorstellungen als Frau) den Vorwurf der Gefühllosigkeit einträgt. Insgesamt aber wird die Figur der Clara nicht nur durch ihren Brief, sondern auch vom Erzähler ausnehmend positiv gezeichnet.7
Nathanael dagegen erlebt durch das Treffen mit dem Wetterglashändler eine Bestätigung und Verschärfung seines Hanges zu den ir- bzw. transrationalen Vermögen des Menschen und dem mit ihrer Hinnahme bzw. sogar Nobilitierung einhergehenden religiösen Selbst- und Weltverhältnis. Im Zentrum dieser Einstellung steht die Überzeugung von der grundlegenden Unfreiheit des Menschen:
»Recht hatte aber Nathanael doch, als er seinem Freunde Lothar schrieb, dass des widerwärtigen Wetterglashändlers Coppola Gestalt recht feindlich in sein Leben getreten sei. […] Er versank in düstre Träumereien, und trieb es bald so seltsam, wie man es niemals von ihm gewohnt gewesen. Alles, das ganze Leben war ihm Traum und Ahnung geworden; immer sprach er davon, wie jeder Mensch, sich frei wähnend, nur dunklen Mächten zum grausamen Spiel diene, vergeblich lehne man sich dagegen auf, demütig müsse man sich dem fügen, was das Schicksal verhängt habe.« (21/[21])
Die erkenntnistheoretische Nobilitierung von Träumen und Ahnungen als Nacht- und Tagträume gehört zu den Grundzügen einer rationalitätskritischen Romantik, und zwar nicht allein in der Dichtung, sondern auch in den Wissenschaften. Die von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) ausgehende romantische Naturforschung beschäftigte sich ausführlich mit diesen Vermögen des Menschen, weil sie wie Johann Heinrich Schubert (1800–1885) davon überzeugt war, dass der Mensch im Zustand des Traumes mit dem Jenseits kommuniziere und so einen höheren Bewusstseinszustand erreiche. Daher zählte es zu den Aufgaben des romantischen Wissenschaftlers, solche Träume zu deuten (vgl. u. a. Schubert 1968).
Nathanael ist vor diesem Hintergrund gleichzeitig Wissenschaftler und sein eigener Proband, der Clara gleichsam als Publikum nutzt und ihr seine Träume und Ahnungen berichtet und sie gleichzeitig auch noch deutet. Darüber hinaus geht es Nathanael aber auch darum, Clara von seinem religiösen Weltverhältnis zu überzeugen, d. h., »Claras kaltes Gemüt dadurch« zu entzünden. Diese Überzeugungsabsicht gilt aber auch für Clara: Zwar vermeidet sie es weitgehend, sich gegenüber der »mystische[n] Schwärmerei« ihres Verlobten »auf Widerlegung einzulassen« (22/[21 f.]), weil sie darum weiß, dass Glauben und Wissen in den von beiden ausgetragenen Formen sich durch den ›zwanglosen Zwang des besseren Arguments‹ nicht vermitteln lassen. Gleichwohl sucht sie dem Treiben ihres geliebten Nathanael Einhalt zu gebieten, wenn er erneut über die Objektivität des dämonischen Prinzips reflektiert, das ihn in der Misshandlung des Coppelius erfasst habe. Sie wiederholt allerdings schlicht ihre Psychologisierung aus dem oben zitierten Brief, was nur erneut an Nathanael abprallen kann; der Glaube – in welcher Form auch immer – lässt sich und seine Überzeugungen nicht psychologisieren, er kann und darf dies auch nicht, zerstörte er damit doch jeglichen Anspruch auf die Wahrheit und den damit verbundenen Anspruch auf Normativität.
Neben dieser eher kontraproduktiven Reproduktion ihres Standardarguments, das Nathanael nur stets wütender macht, unterlaufen ihr andere Ungeschicklichkeiten in der Begegnung mit der religiösen Melancholie ihres Verlobten: So macht sie sich über einzelne Überzeugungen lustig, indem sie metaphysische Prinzipien zu Alltagsproblemen herabsetzt; außerdem bringt sie deutlich zum Ausdruck, dass sie Nathanaels Dichtungen, mit denen er seinen Überzeugungen ein Ausdrucksmedium bieten will, langweilig findet: Dabei wird jedoch deutlich, dass »[n]ichts […] für Clara tötender« war »als das Langweilige« (22/[22 f.]). Letztlich befiehlt sie ihrem Geliebten, eine größere Dichtung, in der dieser seine Ängste und Ahnungen über den gewaltsamen Tod der beiden in die für ihn prägendsten Bilder fasste, als »tolle[s] – unsinnige[s] – wahnsinnige[s] Märchen« (24/[25]), mithin als Produkt einer kranken Seele, ins Feuer zu werfen.
Diese ebenso verständliche wie unangemessene Reaktion Claras führt zu einem erneuten Streit, in dessen Verlauf Nathanael seine Verlobte als »lebloses, verdammtes Automat« (24/[25]) beschimpft und deshalb von Lothar zum Duell gefordert wird, das Clara nur mit knapper Not und der Androhung eines Selbstmordes abzuwenden vermag. Der Prozess der zunehmenden Verschärfung der religiösen Überzeugungen und damit der Pathogenese8 Nathanaels sowie der damit notwendig einhergehenden Eskalation der Kontroversen mit seiner vernünftigen und psychisch gesunden Geliebten hat damit einen ersten Höhepunkt erreicht, dessen tödliche Gefahren nur äußerlich abgewehrt werden konnten. Dies gelang u. a. deshalb, weil Nathanael durch die Bereitschaft Lothars und Claras, die Situation zu deeskalieren, besänftigt werden kann; besänftigt, jedoch nicht geheilt, wie der weitere Verlauf der Handlung zeigen wird. Der Konflikt zwischen Glauben und Wissen, die sich gegenseitig hervorbringen, ausschließen und als solche jedoch ebenso anziehen, kann und wird nur tödlich enden.