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5. Moderne: Rechtserzeugung als Rechtsgrund

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Im 19. Jh. kommt es erneut zu gravierenden Veränderungen der Sozialstruktur. Die feudale Ständeordnung weicht endgültig einer bürgerlichen Ordnung, in der alle Einzelnen gleich berechtigt werden. Im Zuge der Industrialisierung und |48|Ökonomisierung der Gesellschaft bilden sich Parteien und Interessengruppen, die Einfluss auf die politische Macht und auf die Entwicklung des Rechts nehmen. Die Vorstellung universaler Machbarkeit, die mit der wechselseitig beschleunigten Entwicklung von Naturwissenschaften und Technik einhergeht, ersetzt die Vorstellung einer vorgegebenen natürlichen Ordnung. Natur wird zur Verfügungsmasse menschlicher Interessen, und insb. auch die zweite Natur, d.h. die institutionalisierte gesellschaftliche, politische und rechtliche Ordnung. Die Gesetzgebung wird zunehmend deliberativ. Recht kann wechseln wie die partikularen Interessen untereinander wechseln und in der Zeit sich wandeln. Auch eine ordnende Kraft der Vernunft wird nicht mehr gesehen. Der gleichzeitig wachsende Bedarf an verbindlich gültigen Gesetzen führt zu einer umfassenden Kodifizierung des geltenden Rechts, die das Naturrecht weitgehend ablöst (Wieacker 2016). Dem Naturrecht tritt ein positivistisches Rechtsverständnis gegenüber, demzufolge jedes wirkliche und wirksame Recht Rechtskraft hat.

Karl Marx (1818–1883) erkennt hinter dieser Positivität (dem Gesetztsein) des Rechts seine gesellschaftliche Funktion. Das historisch gegebene Recht ist ein Instrument zur Interessenkoordination in der kapitalistischen Gesellschaft, in der die Menschen nicht frei, sondern pseudo-natürlichen Sachzwängen unterworfen sind. Das um seine naturrechtliche Verve gebrachte positivistische bürgerliche Recht ordnet nur diese Sachzwänge. Deren Nicht-Natürlichkeit ist bei Marx die Voraussetzung ihrer Veränderbarkeit.

Das Naturrecht, so der Positivist Hans Kelsen (1881–1973), konnte nur deshalb aus der Natur Recht ableiten, weil es von der falschen Voraussetzung ausgegangen sei, dass die Naturordnung eine göttliche Anordnung, also normativ sei (Kelsen [1960] 2000: 80). Das Naturgesetz beschreibt aber faktische Funktionszusammenhänge (→ II.7), wogegen die Aussagen der Rechtswissenschaft (Rechtssätze) Funktionszusammenhänge im Modus des Sollens beschreiben. Die Wissenschaft selbst schreibt aber keine Normen vor; das tut nur der Gesetzgeber.

Die Naturrechtsdiskussion flammt in Deutschland nach dem Ende des Dritten Reiches noch einmal auf. Gustav Radbruch (1878–1949) vertritt die These, dass der Rechtspositivismus den deutschen Juristenstand gegenüber dem Führerprinzip „wehrlos“ (Radbruch 1946) gemacht habe. Erst später, nach dem Abklingen des Schocks, konnte erkannt werden, dass nicht bloß der Positivismus, sondern mindestens ebenso ein naturrechtlich aufgeladener Führer- und Volkskult der Grund gewesen war.

Die folgende Naturrechtsdiskussion berief sich auf theologische, existenzialistische oder ontologische Gründe, selten auch auf den Vernunftbegriff Kants (Kühl 1984), konnte sich aber letztlich nicht gegen das positivistische Rechtsverständnis durchsetzen. Zwar wird auch heute, besonders im Bereich der Menschenrechte, also im Staats- und Völkerrecht, gelegentlich an Naturrechtsinhalte unter dem Titel ‚überpositives Recht‘ appelliert; das ist aber der logischen Form nach nur ein Konstrukt, das durch die Negation des Positiven (nicht positiv, sondern über-positiv) entsteht und dessen Geltungsgrund – Natur oder etwas Anderes – nicht weiter benannt werden kann.

Die moderne Rechtstheorie reagiert auf den faktischen Positivismus. Die Systemtheorie Niklas Luhmanns (1927–1998) versteht sich selbst als nicht-normative Theorie, als Beobachterposition. Theorie erzeugt kein Recht und beeinflusst es auch nicht. |49|Recht wird erzeugt durch Verfahren, die selbst rechtlich geregelt sind (Gesetzgebung, Rechtsanwendung, Verträge usw.): So erzeuge das Recht sich fortwährend selbst, es wird zum autopoetischen System erklärt, zu einem System, das sich durch Anwendung immanenter Regeln auf Gegenstände in seiner Umgebung (Systemumwelt) bezieht und diese dadurch zu Rechtsgegenständen macht. Außerhalb des Rechts gibt es kein Recht und innerhalb des Rechts gibt es nichts Anderes als Recht. Das Rechtsdenken hat sich insofern von der Normativität, die aus dem Naturrechtsdenken überliefert war, abgekoppelt.

Auch Jürgen Habermas (geb. 1929) lehnt den objektiven Begründungsanspruch des Naturrechts, auch des Vernunftrechts, ab, fürchtet aber ebenso die Konsequenz eines sich verselbständigenden Rechtssystems. Er schlägt vor, Rechtsgeltung an intersubjektive Rechtfertigungsdiskurse zurückzubinden, ohne freilich deren Verlässlichkeit begründen zu können.

Das Zurücktreten reflektierter und normativer menschlicher Subjektivität aus dem Rechtsverständnis hat viele Facetten; die krasseste ist die neo-naturalistische Auffassung von der menschlichen Natur, die sich in den letzten Jahren durchsetzt: Menschen seien durch ihre Physis determiniert (→ III.9), ihr Geist bestehe aus neurophysiologischen Reaktionen im Gehirn und im Nervensystem, und es gebe keine Freiheit des Willens. Der Naturalismus im Recht geht nun davon aus, dass Menschen zwar keinen freien Willen haben, aber dennoch für Handlungen verantwortlich gemacht werden können. Das läuft auf den Unterschied hinaus, dass Handlungen zwar durch wissenschaftliche Analyse letztlich als determiniert ausgewiesen werden könnten, dass sie aber in der alltäglichen Erfahrungsperspektive als selbstbestimmt und frei wahrgenommen werden. Deshalb lässt sich in diesem Erfahrungsraum das Handeln auch durch Sanktionen steuern. Das positivistische Rechtsverständnis sieht dementsprechend die Aufgabe des Rechts nicht mehr im Schutz von Rechtsgütern wie Freiheit, Eigentum oder Leben, sondern im Schutz der Normgeltung selbst. Das Recht beschützt um des gesellschaftlichen Friedens Willen sich selbst und darf, ja muss zu diesem Zweck den faktischen Normverletzer symbolisch bestrafen, auch wenn theoretisch unklar bliebe, ob es Schuldfähigkeit überhaupt gibt. In einer Gesellschaft, in der die Menschen weitgehend durch Sachzwänge beherrscht werden und faktisch die Kontrolle über ihr Leben verlieren, liegt ein solches Rechtsverständnis nahe.

Der zugrunde gelegte Naturbegriff ist allerdings, bei aller neurophysiologischen Subtilität, mechanistisch, wogegen der Naturbegriff im Naturrecht ein organisch-teleologischer gewesen ist. Positivismus und Naturalismus tendieren deshalb dazu, den Gegensatz im Verhältnis von Natur und Recht zur Natur hin aufzulösen: Rechtsverbindlichkeit wird wie Naturdeterminismus angesehen. Was eine Analogie war, tendiert zur Identifikation.

Zu Beginn waren zwei Elemente im Verhältnis von Natur und Recht benannt worden: Analogie und Entgegensetzung. In den positivistischen und naturalistischen Strömungen wird dieses Verhältnis auf das Element der Analogie verkürzt. Das andere Element, der Unterschied zwischen Naturgesetz und Rechtsgesetz, war aber die notwendige Bedingung dafür, die Normativität des Rechts nicht nur zu beschreiben, |50|sondern an sie die begründete Forderung zu richten, der vernünftigen menschlichen Freiheit gerecht zu werden.

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