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Verfall der römischen Bildung?

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„Da die Pflege der freien Wissenschaften (liberalium cultura litterarum) in den Städten Galliens in Verfall geraten, ja sogar im Untergang begriffen ist, hat sich kein in der Redekunst erfahrener Grammatiker gefunden, um in Prosa oder Versen zu schildern, was sich unter uns zugetragen hat; […] So mancher hat oftmals jenen Mangel beklagt und gesprochen: ‚Wehe über unsere Tage, dass die Pflege der Wissenschaften bei uns untergegangen ist, und niemand im Volke sich findet, der das, was zu unseren Zeiten geschehen ist, zu Pergament bringen könnte!‘“

So schrieb der bedeutendste Geschichtsschreiber der Merowingerzeit, der Bischof Gregor von Tours (538/39–594), im Prolog seiner Chronik „Zehn Bücher Geschichten“. Immer wieder berief man sich auf das Vorbild des antiken Bildungswesens.

Die alte römische Bildung beruhte auf dem mos maiorum, dem Beispiel der Vorfahren, und wurde mit strenger Zucht vermittelt. Das römische Kind lernte Lesen und Schreiben und auch schon etwas über die Rechtsgrundlagen des römischen Staates am Text des Zwölftafelgesetzes, meist unter der Aufsicht des Vaters. Etwas älter geworden, erfuhr der römische Junge eine Einführung in die Landwirtschaft und – sobald er die Männertoga trug – ins politische Leben. Schule war Privatsache; Angehörige der Oberschicht, die es sich leisten konnten, ließen ihre Kinder durch Sklaven oder Freigelassene unterrichten. Es entstanden aber auch öffentlich zugängliche Schulen; die Lehrer waren eine Art privater „Unternehmer“, die gegen oft schlechte Bezahlung Elementarunterricht in Lesen und Schreiben erteilten. Die heute übliche ganzheitliche Methode war noch unbekannt; durch Üben einzelner Buchstaben wurde langsam das ABC gelernt, ehe es zu Silben und dann zu ganzen Wörtern ging, schließlich zu kürzeren Texten. Da die antiken Texte keine Wort- und Satztrennungen aufwiesen, bereitete das Lesenlernen viel größere Mühe als heute. Moderne Pädagogik hätte diesen Unterricht kaum als kindgerecht bezeichnet. Harte Zurechtweisungen, ja selbst körperliche Strafen waren üblich, wie etwa ein Sgraffito aus einer römischen Villa zeigt: „Wer nicht gut gelernt hat, ist für gewöhnlich ein Schwätzer. Das Schreiben hat mir die grausame Peitsche des Gratus beigebracht.“


Schülersgraffito aus einer römischen Villa. (Villa rustica „Am Silberberg“ in Bad Neuenahr-Ahrweiler)

Nur für eine Minderheit der Römer, vor allem die Angehörigen des Senatoren- und des Ritterstandes, kam der Literaturunterricht beim grammaticus als die nächsthöhere Schulstufe infrage. Die Bezeichnung des Lehrers täuscht allerdings: Grammatik im Sinne sprachlicher Formen- und Satzlehre war nicht vorrangiges Ziel des Unterrichts, sondern diente nur als Hilfestellung bei der Erarbeitung von Texten. Es ging um die Beschäftigung mit – lateinischen wie griechischen – literarischen Werken. Von der einleitenden Textkritik (alle Bücher waren handgeschrieben!) über Übungen im Vorlesen und Auswendiglernen kam man zu Erklärungen zu Form und Inhalt der Texte (mit oft pedantischen Erläuterungen des Satzbaus, der Metrik, einzelner Wörter und Redewendungen). Nicht die Beurteilung der dichterischen Leistung im Sinne heutiger Interpretation war das Ziel, sondern die Erkenntnis moralischer Vorbilder in den Texten sollte bei der Erziehung der jungen Römer helfen. Das alles lief im Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Lehrer und Schüler ab: eine ziemlich monotone Unterrichtsform. Allenfalls kleinere Aufsätze und Stilübungen förderten die Selbsttätigkeit der Schüler.

Hatte man diese Stufe erfolgreich absolviert, so stand der Weg offen für den Rhetorikunterricht, der – modern gesprochen – das antike Hochschulstudium bildete. Allerdings existierten keine Universitäten; vielmehr gab es freiberuflich tätige, aber auch vom Staat oder von Städten angestellte und besoldete Rhetoriklehrer. „Die Lehre der Beredsamkeit umfasste von der Gedanken- und Stoffsammlung über das Gliedern und Verfertigen der Rede unter Berücksichtigung von Stil, Ausdruck, Sprachklang und -rhythmus bis hin zur Beachtung äußerer und innerer Wirkung der Ansprache auf die Zuhörer ein ganzes Denksystem, das seine Bestimmung in der Öffentlichkeitswirkung des gesprochenen Wortes hatte“ (Ulrich Lambrecht). Einführend wurden Erläuterungen zur rhetorischen Technik gegeben; hierzu benötigte Regeln mussten auswendig gelernt werden. Wichtiger Bestandteil war die Lektüre großer Vorbildtexte, an erster Stelle die rhetorischen Meisterwerke Ciceros. Schließlich waren dem Schüler vorbereitende schriftliche Übungen aufgegeben, in denen er Aufsätze zu rhetorisch relevanten Themen zu verfassen hatte. Das alles sollte ihn schließlich dazu befähigen, selber zu einem vom Lehrer gestellten Thema eine Rede zu halten. Der sorgfältig schriftlich ausgearbeitete Text musste dann auswendig gelernt werden, wurde er doch ohne Manuskript vor Lehrer und Mitschülern vorgetragen. Nach erfolgreichem Abschluss gab es nicht wie heute ein Zeugnis oder ein Diplom; die Empfehlung eines angesehenen Rhetors genügte, um seine standesgemäße Ausbildung zu bezeugen und sich für eine Tätigkeit auf den vielfältigen Gebieten als geeignet auszuweisen. Der Senat benötigte Männer, die „vor allem richtig denken, schreiben, reden, also auch handeln konnten“ (Lambrecht).

Seit seiner Einführung in der Republik blieb dieses dreistufige römische Bildungssystem bis in die Spätantike weitgehend unverändert bestehen. Mit der Anerkennung des Christentums unter Konstantin dem Großen (306–337) traf nun die christliche Erziehung auf die weltliche Bildung der römischen Klassik; gerade das Christentum als „Buchreligion“ bedurfte ja sprachlich-literarisch gebildeter Menschen als ihrer Vermittler. Hier kam es nun zu einer wirklichen Symbiose zwischen der althergebrachten humanistischen Erziehung und den Anforderungen der christlichen Bildung. Wir sehen christliche wie heidnische Schüler, die dasselbe klassische Bildungssystem durchlaufen, und zunehmend begegnen auch christliche Lehrer. Daran konnte auch die heidnische Reaktion des Kaisers Julian Apostata (361–363), der sogar ein Berufsverbot für christliche Lehrer erließ, auf Dauer nichts mehr ändern. Die intensive Christianisierung der römischen Kultur war nicht mehr aufzuhalten. Als nördlich der Alpen im 5. Jahrhundert dann die römischen Verwaltungsstrukturen zunehmend verloren gingen, waren es die mit kirchlichen Leitungsfunktionen betrauten Männer, die jetzt auch weltliche Führungsaufgaben übernahmen. Auch der Wechsel vom Staatsdienst in kirchliche Führungsämter war nicht selten.

Mit dem Verfall des spätantiken Staates in der Zeit der sog. Völkerwanderung gingen auch die öffentlich organisierten Schulen unter; die Wissensvermittlung sank allmählich in den privaten Bereich zurück. Für eine Karriere im Hofdienst, etwa in der Kanzlei der merowingischen Könige, war profane Bildung jedoch nach wie vor Voraussetzung. Die merowingischen Referendare (im Unterschied zum heutigen Wort kein Ausbildungsstatus, sondern ein angesehenes Amt), für die Ausstellung der (lateinischen!) Königsurkunden zuständig, waren keine Kleriker. Einige von ihnen fanden auch außerhalb des Königshofes Verwendung und machten später weiter Karriere, konnten sogar das Bischofsamt erlangen. Und auch die merowingischen Könige selbst waren noch in der Lage, ihre Urkunden eigenhändig zu unterschreiben; nur bei minderjährigen Königen findet sich stattdessen ein Namensmonogramm. Und Gregor von Tours, dessen Klage über den Verfall der Bildung wir oben zitierten, berichtet in seiner Chronik über einen sprachlich-literarisch gebildeten und um das Schulwesen in seinem Reich sich kümmernden merowingischen König, Chilperich I. (561–584): „König Chilperich schrieb auch einige Bücher in Versen, worin er den Sedulius [lateinischer christlicher Dichter in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts] sich zum Vorbild nahm, aber seine Verse wollen sich durchaus nicht den Regeln des Versbaus fügen. Er fügte auch unserem Alphabet einige Buchstaben hinzu, nämlich ω, wie es die Griechen haben [Omega, langes o], ae, the, wi, wofür die Schriftzeichen folgende sind: , und sandte Schreiben an alle Städte seines Reiches, dass die Knaben so unterrichtet und die alten Bücher mit Bimsstein radiert und umgeschrieben werden sollten.“ (Hist. V,44).


Monogramm König Chilperichs II. (Urkunde Chilperichs II., Compiègne 18. Februar 717)

Erst seit der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, als das merowingische Königtum immer mehr verfiel, nahmen auch die elementaren Kenntnisse wie Lesen und Schreiben bei den Laien rasch ab; zunehmend verschwanden die Unterschriften von Zeugen in den Urkunden und wurden durch ein Kreuzzeichen ersetzt. Schriftbildung wurde mehr und mehr ein Reservat von Klerus und Mönchtum. Aber selbst in kirchlichen Kreisen gingen die Kenntnisse immer weiter zurück. So beklagte der heilige Bonifatius 746 das äußerst mangelhafte Latein bayerischer Priester, die in nomine patria et filia et spiritus sancti („im Namen Vaterland und Tochter und des heiligen Geistes“) tauften. Diese Missstände wollte dann Karl der Große beheben; nach seinem ausdrücklichen Willen sollte die Reform der fränkischen Kirche in eine Reform der Bildung übergehen.

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