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Wurzel oder Bedrohung der Orthodoxie? Der Blick auf das Judentum
ОглавлениеDas Urchristentum erhielt bekanntlich seine erste Gestalt innerhalb des Judentums. Vor seiner Verselbstständigung durch die missionarische Öffnung zur außerjüdischen Welt war das Judentum die allererste Religion, mit der das Christentum konfrontiert war. Trotz seiner jüdischen Wurzeln und der gemeinsamen Merkmale, z. B. des Monotheismus, differenzierte sich das Christentum früh von der jüdischen Umwelt, ohne jedoch seine jüdische Vergangenheit vollständig zu verwerfen. Die Christen bedienten sich freilich des – ihrer Meinung nach – Alten Testaments, das sie aus eigener Perspektive deuteten und zur Interpretation des Neuen Testaments heranzogen. Grundsätzlich argumentierten die ersten kirchlichen Autoren (z. B. Justin der Märtyrer Mitte des 2. Jahrhunderts), das Christentum sei die Erfüllung der jüdischen Verheißungen und Erwartungen, und Jesus Christus sei der seit Langem erwartete Messias. Auch wenn die anfängliche christliche Mission unter den Juden heute als erfolgreich gilt, war die Trennung und stufenweise Entfremdung zwischen Juden und Christen früh deutlich. Dies verfestigte sich im Laufe der Zeit und brachte dauerhafte Spannungen mit sich, insbesondere nach der Institutionalisierung des Christentums im 4. Jahrhundert. Von dieser Spannung zeugen Schriften von Kirchenvätern und anderen christlichen Autoren jener Zeit. Auf der anderen Seite verhinderte dies jedoch nicht eine (teilweise produktive) Interaktion zwischen den beiden Religionen, auch wenn diese meist inoffiziell und auf lokaler Ebene funktionierte, wie z. B. bei der Entwicklung der allegorischen Interpretationsmethode der Bibel.
Was insbesondere die orthodox-christliche Haltung gegenüber dem Judentum anbelangt, so ist zuerst die Zeit des Oströmischen bzw. Byzantinischen Reiches von Bedeutung. Obgleich es bis zum 11. Jahrhundert keine formelle Trennung der Kirchen in Ost und West gab, lassen sich dennoch seit der Spätantike Differenzierungen in beiden Teilen des Römischen Reiches und nicht zuletzt im kirchlichen Bereich beobachten, die besonders das Judentum betreffen. Im Oströmischen Reich war das Judentum präsent und galt rechtlich als erlaubte Religion. Jedoch wurden die Juden von Staat und Kirche tatsächlich weitestgehend isoliert, Kontakte zu den Orthodoxen waren für sie eingeschränkt oder verboten. Antijüdische Stimmen in der Bevölkerung waren verbreitet, was nicht selten zu Diskriminierungen führte. Diese Stimmen lassen sich auch in der Zeit der Osmanenherrschaft über Südosteuropa finden, auch wenn der rechtliche Status der Juden dort deutlich besser war.
Historisch gesehen gab es zahlreiche Fälle von negativen und feindlichen Haltungen gegenüber den Juden in orthodoxen Kulturen (beispielsweise in Russland), und dasselbe lässt sich bis heute in Russland und Serbien in unterschiedlichen Ausprägungen beobachten. Diese Haltung beschränkte sich nicht allein auf theoretische Kritik am Judentum und an den Juden, sondern führte nicht selten zu negativen praktischen Maßnahmen (Pogrome). In Osteuropa gab und gibt es noch viele Juden (in Russland heute ca. 233 000), was notwendigerweise zu Kontakten häufig auch zu Konflikten mit Orthodoxen führt. Der berüchtigte antisemitische Text Die Protokolle der Weisen von Zion, zu dessen Entstehung politische und kirchliche Kreise in Russland gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entscheidend beitrugen, spricht von einer jüdischen Weltverschwörung.5 In vielen, großenteils radikal eingestellten orthodoxen Kreisen herrscht heute noch die Angst vor einer weltweiten jüdischen Verschwörung, die u. a. die Vernichtung der Orthodoxie zum Ziel habe.6 Sicher ist zudem, dass die Orthodoxen viel weniger als Katholiken und Protestanten nach dem Holocaust über den christlichen Antisemitismus reflektiert und Konsequenzen daraus für ihre gegenwärtige Theologie gezogen haben. Dies hat zur Folge, dass alte, aus dem Mittelalter stammende antijüdische Vorurteile innerhalb orthodoxer Kulturen immer noch aktuell sind. Darüber hinaus gibt es heute eine Diskussion über antijüdische Passagen in byzantinischen liturgischen Texten (insbesondere der Karwoche), die entfernt werden sollen.
Auf der anderen Seite lässt sich auch eine gegenläufige Tendenz beobachten. Immer wieder kam es zu positiven Interaktionen – wenn auch zahlenmäßig geringer – zwischen orthodoxen Christen und Juden. So verfasste Metrophanes III., Patriarch von Konstantinopel, 1568 eine Enzyklika über die Christen auf der Insel Kreta, die gegen die Verfolgung von Juden Stellung bezog und denjenigen mit Exkommunikation drohte, die Juden unterdrückten. Während der deutschen Besatzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg rettete Erzbischof Damaskinos (1941–1949) mehrere Juden in Athen vor der Deportation, indem er ihnen gefälschte christliche Taufscheine und Papiere besorgte – eine Leistung, die später große Anerkennung fand.
Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang auch die offiziellen orthodoxjüdischen interreligiösen Dialoge.7 Hier liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf der orthodoxen Missionierung der Juden, sondern auf der Überwindung historischer Missverständnisse, der Beseitigung von gegenseitigen Vorurteilen und der Bildung einer tragfähigen künftigen Beziehungsebene zwischen beiden Religionen. Darüber hinaus werden die Gemeinsamkeiten thematisiert, die das orthodoxe Christentum und das Judentum verbinden. Solche Initiativen gingen besonders vom Orthodoxen Zentrum des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel (Chambésy-Genf) in Zusammenarbeit mit einflussreichen jüdischen Organisationen (z. B. dem International Jewish Committee on Interreligious Consultations) aus. Bisher gab es fünf Treffen (Luzern 1977, Bukarest 1979, Athen 1993, Jerusalem 1998 und Thessaloniki 2003) zu unterschiedlichen Themen wie der Begegnung der Orthodoxie und des Judentums mit der Moderne. Es gibt weitere Initiativen auf bescheidenerer Basis, insbesondere dort, wo beide Religionen in Nachbarschaftsbeziehungen stehen – z. B. im Heiligen Land, wo orthodoxe Christen unterschiedlicher Provenienz aktiv sind; oder in den multikulturellen Vereinigten Staaten, wo mehrere orthodoxe Diasporagemeinden und einflussreiche jüdische Gemeinden existieren. Insgesamt kann man den orthodox-jüdischen Dialog als Konsequenz der nach dem Holocaust erfolgten Aufwertung der jüdischen Frage sehen, ein Phänomen, das überall in der christlichen Welt zu beobachten ist.
Das hat auch Konsequenzen für die heutige Bewertung des Judentums in der orthodoxen Theologie. Während in byzantinischer und nachbyzantinischer Zeit der Schwerpunkt auf der Widerlegung des Judentums sowie auf der Bekehrung der Juden lag, verlagerte sich das Interesse in der Moderne auf andere Aspekte: auf die geschichtlichen Gemeinsamkeiten und wechselseitigen Einflüsse zwischen Christentum und Judentum, auf die jüdischen Wurzeln der christlichen Liturgie, und insgesamt auf die Bedeutung der Religion des antiken Israel für das Christentum. Auch Vergleiche zwischen orthodoxer und jüdischer Mystik stießen auf Interesse. Bemerkenswert ist auch, dass die Bedeutung des Alten Testaments für das Christentum besonders hervorgehoben wird, um Angriffen vonseiten eines Neuheidentums (z. B. in Griechenland) entgegenzuwirken: Das Christentum sei eine jüdische Religion, die mit der hellenischen/griechischen Tradition nichts zu tun habe. Diese Argumentation zielt jedoch nicht unbedingt auf eine Bejahung der Selbstständigkeit des Judentums, sondern letztlich auf eine christliche Vereinnahmung jüdischer Traditionen.