Читать книгу Die Weltreligionen und wie sie sich gegenseitig sehen - Группа авторов - Страница 6
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Rudyard Kipling und ein Missverständnis
Oh, East is East, and West is West, and never the twain shall meet,
Till Earth and Sky stand presently at God’s great Judgment Seat;
But there is neither East nor West, Border, nor Breed, nor Birth,
When two strong men stand face to face, though they come from the ends of the earth!
„Oh, Ost ist Ost und West ist West – nie werden die beiden einander begegnen“ – so lautet die wohl berühmteste und am meisten zitierte Eröffnungszeile des Gedichts „The Ballad of East and West“ (1889). Dieselben vier Zeilen beschließen auch das Gedicht. Schon ein flüchtiger Blick auf die religiöse Weltlage beweist, dass sich der Verfasser der Ballade, der Dschungelbuch-Autor und Literaturnobelpreisträger Rudyard Kipling (1865–1936), geirrt hat. Sind die Religionen auf allen Kontinenten nicht schon lange zu einer Herausforderung geworden? Haben nationale Minderheiten und unterdrückte Völker die Religion(en) nicht als Bewahrerin ihrer Identität entdeckt? In der Spanne von Fundamentalismus und postmodernem Anything goes wird der Blick frei auf das sich in vielfältigen Formen abspielende Wiedererwachen der Religionen. Wohin man blickt: Religion scheint auf dem Vormarsch. Dass das 20. und 21. Jahrhundert religiös boomen, davon können Religionswissenschaftler viel berichten. In das öffentliche Bewusstsein getreten sind solche Einsichten aber erst allmählich, durch die fälschlich sogenannten „Jugendreligionen“, durch „New Age“-, Esoterik- und Okkult-Welle, durch die Problematik unserer früher als Gastarbeiter romantisch verklärten Arbeitsmigranten, durch Samuel Huntingtons Clash of Civilizations, den 11. September.
Aber hat sich Ruddy, wie Kipling mit Kosenamen hieß, wirklich komplett geirrt? Muss man seinen Vierzeiler auf der Grundlage seiner Abenteuerballade nicht vielleicht doch anders lesen? Dann nämlich relativiert sich die steile Aussage der Eröffnungszeile, dann erscheint sie nicht mehr in dem für uns mittlerweile so unerträglichen rassistisch-imperialistischen Licht. Zusammengefasst mag sich Kiplings „Botschaft“ vielleicht eher so lesen: Auf der Grundlage gemeinsamen Menschseins – verkörpert durch die beiden Kämpfer an der Nord-West-Grenze Indiens, dem pure-bred Englishman and dem pure-bred Afghan – zerbrechen die Grenzen zwischen Ost und West. Hermeneutisch gesprochen, haben wir es hier im Unterschied zu einer Hermeneutik der Identität bzw. totaler Differenz mit der von Ram Adhar Mall so genannten „analogischen Hermeneutik“ zu tun, die von „Überlappungen“ der Kulturen und Religionen ausgeht, die vom Biologisch-Anthropologischen bis hin zum Politischen reichen.1
Die Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit haben im Gefolge der Dialektik der Aufklärung längst ihre Attraktion eingebüßt. Das verbreitete Unbehagen an der Kultur hat zur Wiederentdeckung von Religion(en) geführt. Dabei hebelten Modernisierung und Technisierung die Suche nach religiösen Sinnangeboten nicht etwa aus, sondern intensivierten sie. Die großen Religionen, allgemein unscharf als „Weltreligionen“2 bezeichnet, erlebten Renaissancen. Es entstanden neue Religionen sowie Individualisierungen traditioneller Religionen, auch Politisierungen, Fundamentalismus, nationalistische Instrumentalisierungen.
Der Islam mit weltweit 1,5 Milliarden Bekennern ist, nachdem er noch in den 1950er und 60er Jahren totgesagt war, zu einer bedeutenden Lebensmacht geworden, die aus dem heutigen Europa nicht mehr wegzudenken ist. Jeder fünfte Europäer glaubt an Seelenwanderung / Wiedergeburt.3 In diesem „Supermarkt“ von Glaubens- und Weltanschauungen ist die Kenntnis anderer Religionen eine Forderung der Zeit.