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2 Leben als Prozess

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Aber ist nicht schon die Vorstellung, dass der Körper dem außen stehenden Beobachter wie ein raum-zeitlich lokalisierbares Ding erscheint, verfehlt? Gibt es tatsächlich keinen erkennbaren Unterschied zwischen organisch gebundenen Lebensformen und leblosen Objekten?

Schon unter der Perspektive des außen stehenden Beobachters sind Lebewesen, biologisch gesprochen, offene Systeme. Sie sind Funktionsganzheiten, die nicht in Teile zerlegbar sind und sich nur erhalten können, indem sie Stoffe aus der Umwelt aufnehmen, sie teilweise integrieren und Abfallprodukte wieder ausscheiden. Anders als ein Computer, den man vorübergehend vom Netz nehmen, oder ein Auto, dessen Motor man abschalten kann, kann der Stoffwechsel nicht eingestellt werden. Grundlage der Selbsterhaltung ist daher die ständige Selbstüberschreitung. Das Sein eines Lebewesens gibt es nur vor dem Hintergrund unablässigen Werdens, so dass die Beziehung zur Umwelt konstitutiv ist für die Existenz einer Entität, für ihre Dauer.7

Die Beziehungen, die einen Organismus mit der Umwelt verbinden, beruhen nicht nur auf äußerlich einwirkenden physikalischen Kräften, sondern werden auch durch dessen Eigenaktivität aufrechterhalten. Die Umwelt ist daher kein unstrukturierter Energielieferant, die der Organismus für seine Bedürfnisse benutzt. Während makroskopische Körper umweltungebunden sind, ist ein organischer Körper in seiner Funktion auf die Umwelt angewiesen, die die Substanzen enthält, die er für den Stoffwechsel benötigt: auf eine spezifische Zusammensetzung der Atmosphäre und der Nahrung oder eine bestimmte Menge an Flüssigkeit. Auch eine künstliche Umwelt, etwa in einem Raumschiff, muss deshalb die natürlichen Lebensbedingungen erzeugen. Doch ein Lebewesen ist nicht nur durch die Stoffe, die es zur Selbsterhaltung benötigt, mit einer bestimmten Umwelt verbunden; es verändert seinerseits durch Ausscheidungsprodukte, Präferenzen und Verhalten, wie minimal auch immer, die Bedingungen seines eigenen Überlebens. Aufgrund des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik leben alle Kreaturen zu Lasten ihrer Umwelt. Als leibgebundene Wesen müssen auch Menschen atmen, essen und trinken und treten so schon durch die Befriedigung ihrer vitalen Grundbedürfnisse in eine Relation zu der Umwelt, die ihnen die Erhaltung ihrer biologischen Grundfunktionen gestattet.

Eine notwendige Bedingung für die Möglichkeit der körperlichen Existenz und damit auch der biographischen Identität sind die ständige Selbstüberschreitung und Transformation der Umwelt durch den Stoffwechsel. Eine raum-zeitliche Lokalisierung des lebendigen Körpers ist daher schon unter der Perspektive der dritten Person verfehlt. Könnte man ihn tatsächlich wie ein Ding behandeln, dann könnte man ihn wie einen Stein in den Weltraum schießen oder im Meer versenken, ohne dass sich sein Zustand dadurch verändern würde. Löst man dagegen einen lebendigen Organismus aus seinem Umfeld und unterbindet den Stoffwechsel, dann stirbt er. Erst wenn alle Lebensfunktionen erloschen sind, kann man ihn wie eine Sache aus den Beziehungen zu einem konkreten Umfeld herauslösen.

Doch Lebewesen sind nicht nur physiologisch funktionsfähige Systeme, sondern zugleich mit Innerlichkeit begabte Organismen. Sie haben zumindest eine rudimentäre Sensitivität für Reize, die es ihnen gestattet, sich in der Umwelt so zu orientieren, dass sie ihre Bedürfnisse nach Nahrung, Reproduktion und Schutz befriedigen können. Innerlichkeit ist die Sphäre, in der ein Lebewesen kein Gegenstand der Beobachtung ist, sondern in qualifizierter Weise sich und das, von dem es berührt wird, empfindet. Es fühlt sich, wie Nagel sagt, ‚irgendwie an zu sein‘8; dadurch hat alles, was im Umfeld geschieht, in Bezug auf das eigene Sein eine Bedeutung. Empirisch mit Hilfe der an der objektivierenden Methode orientierten Naturwissenschaft lässt sich Innerlichkeit nicht nachweisen; nur durch empathische Einfühlung in das Verhalten lässt sie sich erschließen. Auch bei Menschen, bei denen Subjektivität unbezweifelbar gewiss ist, lässt sich empirisch nicht die gefühlte Qualität des Hungers, sondern nur elektrochemische Prozesse beobachten. Aufgrund der Fähigkeit zu qualifizierten Perzeptionen, die mit wachsender Komplexität völlig unterschiedliche Ausdrucksformen annehmen kann, können sich Lebewesen zielgeleitet in der Umwelt orientieren. Die Selbstüberschreitung zur Umwelt wird motiviert von Perzeptionen, die den eigenen Zustand ebenso wie die Möglichkeiten der Umwelt anzeigen.

Sieht man Leben als einen Prozess der Selbstüberschreitung, dann greifen Organismen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich über sich hinaus: Schon die biologischen Funktionen beruhen auf einer zeitlichen Korrelation zahlloser Einzelprozesse; diese sind ihrerseits wiederum an Zeitstrukturen der Umwelt angepasst, vor allem an den Wechsel von Licht und Dunkel. Dadurch ist die Lebensweise eines Organismus ein wirkender Teil der zeitlichen Dynamik seiner Umwelt. Ein Ökosystem verdankt seine relative Stabilität daher nicht nur der räumlichen, sondern auch der zeitlichen Koordination der Lebenszyklen von Organismen und der Dynamik anorganischer Prozesse. Sie beruht weniger auf der quantitativ bestimmbaren Zeitdauer einzelner Prozesse als vielmehr auf der Vernetzung unterschiedlicher Eigenzeiten, die sich in komplexen Zeithierarchien überlagern, die von einzelnen Zellen über Organismen bis zu Ökosystemen und der Biosphäre reichen. Außerdem überschreitet ein Organismus die Gegenwart auch aufgrund qualifizierter Perzeptionen: Aufgrund seiner Bedürfnisse erstreckt sich sein Verhalten in die Zukunft; durch Erfahrungen und Lernprozesse, zu denen schon einfache Organismen, vermutlich sogar Pflanzen fähig sind, wird er durch die Vergangenheit geprägt.9 Die Ordnung der Natur ist daher nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche. Zeit beruht nicht nur auf der Form der inneren Anschauung, wie Kant dachte, noch handelt es sich um eine rein mentale oder kulturelle Konstruktion. Zeitliche Korrelationen sind die Voraussetzung für die Stabilität der Biosphäre als der umfassendsten Lebensgrundlage aller leibgebundenen Lebensformen, auch der menschlichen. Das Leben selbst ist nur als raum-zeitlich strukturierter Prozess möglich.10

Jedes Lebewesen, auch der Mensch, ist folglich durch innere und äußere Relationen mit seiner Umwelt verbunden. Weder wird es nur durch Kräfte bewegt noch reagiert es nur auf Reize; es bezieht sich aufgrund physiologischer Prozesse ebenso wie aufgrund qualitativer Perzeptionen aktiv auf die Umwelt, die es dadurch seinerseits modifiziert. Dabei lassen sich physiologische Prozesse und zielgeleitete Aktionen nicht eindeutig voneinander trennen: Die Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme wird im Inneren gespürt und die Geschehnisse in der Umwelt im Licht dieser Bedürfnisse bewertet. Elementare Urteilsakte sind die Grundlage schon der lebenserhaltenden Aktivitäten einfacher Lebewesen. Während makroskopische Objekte durch ihre Bahn in der Raum-Zeit identifiziert werden können, erhält sich ein Organismus nur durch seine eigene Tätigkeit, die durch die Sensitivität für seine Zuständlichkeit eine Zielgeleitetheit gewinnt.11

Während man Dinge, zumindest im Rahmen physikalischer Grenzwerte, die den Bestand von Körpern erlauben, in jede Umwelt hineinstellen und wieder aus ihr entfernen kann, können Organismen nur in der Umgebung überleben, an die sie durch ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse angepasst sind. Viele Eigenschaften entfalten sich sogar erst aufgrund des Zusammenspiels von Organismus und Umwelt. Die Ordnung der Natur besteht daher nicht aus einer Ansammlung voneinander unabhängiger Entitäten, über die Menschen nach eigenem Gutdünken verfügen können. Sie stellt die Möglichkeiten für das Werden der Organismen bereit; und die Organismen ihrerseits bilden zusammen mit einer Vielzahl anorganischer Stoffe die Umgebung für andere Kreaturen. Es handelt sich um eine Wechselbeziehung: Die Umwelt wäre anders ohne bestimmte Lebewesen; und diese könnten sich ihrerseits ohne die dynamische Interaktion mit der Umwelt nicht erhalten. Anders als für leblose Körper sind die Relationen, die sie mit der Umwelt verbinden, nicht unbewegt und starr, sondern beruhen auf einem unablässigen Austausch von Stoffen, Informationen, Gefühlen und Ideen. Die Struktur und die Qualität des Raumes sowie die zeitliche Dynamik des Werdens entstehen erst aufgrund einer hochgradig strukturierten Interaktion zahlreicher Lebensformen und anorganischer Stoffe. Die Umwelt ist aufgrund von Perzeptionen im Inneren gegenwärtig; indem sie das Verhalten bestimmen, verbinden sie das Lebewesen wiederum mit der Umwelt. Dadurch sind Lebewesen durch innere und äußere Relationen mit der Umwelt verbunden, die sie durch ihre Eigenaktivität aufrechterhalten. Verschwindet ein Lebewesen, lösen sich auch die Beziehungen zur Umwelt auf, die auf seiner Eigenaktivität beruhen. Doch sogar nach seinem Tod bleibt es ein Teil der Umwelt: Die Regeneration eines Ökosystems hängt von der Zersetzung von Stoffen ab, die wiederum die Grundlage für die Regeneration anderer Lebewesen bilden.12 Kein Lebewesen besteht allein aus sich heraus. Identität, so kann man mit Platon sagen, gibt es nur durch die Beziehung zur Andersheit. Die Lebewesen, die ihre Umwelt und deren Vielfalt vernichten, zerstören ihre eigenen Möglichkeiten und damit sich selbst.13

Als Lebewesen steht auch der Mensch der Natur nicht wie einem kausal determinierten Objekt gegenüber, sondern ist aufgrund seines Leibes ein integraler Teil von ihr. Alle Eingriffe in die Biosphäre wirken wie vermittelt auch immer wieder auf ihren Verursacher zurück und verändern die Bedingungen, unter denen er in Zukunft leben wird. Dadurch wird die Natur zu einem Korrektiv für menschliche Interessen. Als leibgebundenes Wesen kann der Mensch nicht aus der Biosphäre heraustreten, um sie wie ein Werkzeug, das man jederzeit beiseite legen kann, zur Befriedigung seiner Interessen zu benutzen. Als Handelnder befindet sich der Mensch inmitten der Natur, so dass er nie alle Wirkungen berechnen kann, ohne im selben Moment bereits neue Wirkungen zu erzeugen.

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