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5 Der Mensch und die ‚Mitgeschöpfe‘

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Auch andere Lebewesen sind nicht, so haben wir argumentiert, zunächst ein Körper im Raum, dem dann Innerlichkeit zugeschrieben wird. Auch sie überschreiten sich immer schon aufgrund ihrer physiologischen Konstitution und des Gespürs für ihre Bedürfnisse. Sie drücken sich in dem Streben, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, durch Bewegungen, Geräusche und Blicke aus. Tiere, so erkannte bereits Jacob von Uexküll, nehmen die Umwelt, vermittelt durch die psycho-physische Ausstattung ihrer Art, unter besonderen sensorischen, emotionalen und kognitiven Bedingungen wahr. Da für ein Lebewesen, das überleben will, alles, was geschieht, eine spezifische Bedeutung hat, die sein Verhalten bestimmt, gibt es, wie Darwin betont, einen artspezifischen Ausdruck von Emotionen durch Mimik und Körpersprache. Wie Menschen können auch andere Lebewesen nur durch den körperlich vermittelten Ausdruck von Gefühlen und Absichten kommunizieren. Indem sie die Bedeutung von Bewegungen, Gerüchen, Lauten oder Blicken erfassen, können sie ihre Aktivitäten aufeinander abstimmen. Bei sozial lebenden Tieren sind Mimik und Körpersprache ebenso wie die Fähigkeit, durch die Beobachtung des Verhaltens von Gruppenmitgliedern zu lernen, besonders ausgeprägt.20 Soweit es sich nicht um einen unmittelbaren Emotionsausdruck, eine Schmerz- oder Schreckreaktion handelt, ist bei vielen höheren Tieren das Repertoire an Ausdrucksformen nicht mehr angeboren; häufig muss auch die Zuordnung von Ruf und ‚Objekt‘ durch soziale Interaktion erlernt werden. Diese Ausdrucksformen zielen darauf, verstanden und beantwortet zu werden. Dabei sind Kommunikationsprozesse keineswegs auf die Interaktion innerhalb eines Sozialverbandes oder einer Art beschränkt. Warnungen etwa werden auch von Mitgliedern anderer Arten verstanden.21

Um nichtmenschlichen Kreaturen methodisch gerecht zu werden, benötigt man daher bei ihnen nicht nur die Perspektive des außenstehenden Beobachters, sondern auch die des empfindenden Individuums, das mit anderen kommuniziert. Die Natur ist kein von Naturgesetzen kausal determiniertes Gefüge von Kräften, sondern beruht auf einem dynamischen Zusammenspiel unterschiedlicher Lebensformen und anorganischer Stoffe. Berücksichtigt man bei der Definition der ‚Natur‘ die Eigenaktivität von Lebewesen als Ausdruck ihrer Bedürfnisse, dann kann man buchstäblich die ‚Sprache der Natur‘ entziffern.

Durch die Doppelperspektive von physiologisch funktionsfähigem Körper und beseeltem Leib bei Menschen und Tieren nehmen Menschen daher nicht nur biologisch an der Natur teil, sondern können auch die Lebensäußerungen anderer Kreaturen innerhalb bestimmter Grenzen verstehen. Sie können in ein nichtobjektivierendes, auf Partizipation beruhendes Verhältnis zu ihnen treten. Sobald die Zentriertheit einen gewissen Grad erreicht, ist ein Tier in seiner Individualität ansprechbar und zur Gegenseitigkeit fähig. Es erfährt sich als gemeint. Schon 1922 hat daher T. Geiger das 1922 von K. Bühler entwickelte Konzept der Du-Evidenz auf die Mensch-Tier-Beziehung übertragen;22 auch Martin Buber ging in seinem 1923 publizierten Werk ‚Ich und Du‘ davon aus, dass man schon nichtmenschliche Kreaturen als ein Du ansprechen könne, obwohl noch keine volle Wechselseitigkeit, die die menschliche Sprache und das Ich-Bewusstsein voraussetzt, möglich sei.23

Durch das Einbeziehen der Subjektivität von Beobachtetem und Beobachter ändern sich die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis: Um Lebewesen in ihrer Subjektivität zu erforschen, muss man die Gegenüberstellung von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt aufgeben; stattdessen partizipiert der Erkennende aufgrund seiner eigenen Subjektivität an der Subjektivität des Gegenübers – in seelisch-geistiger wie körperlich-leiblicher Hinsicht. Partizipation bedeutet keine vollständige Identifikation; es kann unterschiedliche Grade der Teilhabe geben. Das Verstehen des Gegenübers ist daher nie vollständig, und doch bleibt das andere Lebewesen in seinen Äußerungen nicht gänzlich fremd. Wie kleine Kinder, die den Ausdruck eines Gesichtes oder die Intention einer Stimme begreifen, lange bevor sie kausale Zusammenhänge erfassen und gesprochene Worte verstehen, haben auch höhere Tiere die Fähigkeit, eine Geste oder den Klang einer Stimme in ihrer emotionalen Bedeutung zu erfassen und sich entsprechend zu verhalten.24 Die Grenze der Welt und die Grenze dessen, was verstanden und beantwortet werden kann, ist daher nicht die der Sprache. Mit der Überschreitung der anthropozentrischen Weltsicht eröffnen sich daher die Möglichkeiten einer Begegnung mit anderen Kreaturen, die eine emotionale und kognitive Erweiterung des eigenen Horizontes beinhaltet.

Dass die Deutung von Stimmungen und Absichten nicht nur von subjektiver Relevanz und eine bloße Projektion ist, zeigt sich wiederum am Verhalten: Es kann adäquat oder inadäquat sein und wird ein entsprechendes Verhalten des Gegenübers nach sich ziehen. Zwischen dem wissenschaftstheoretisch immer wieder diskutierten Gegensatz von erster und dritter Person-Perspektive vermittelt daher auch im Hinblick auf nichtmenschliche Kreaturen die Perspektive der zweiten Person, des Individuums also, das sich angesprochen fühlt und durch sein Verhalten darauf antwortet. Die Kategorie des Verstehens, die aus der Hermeneutik vertraut ist, umfasst auch das Verstehen des Ausdrucks von Absichten, Interessen, Gefühlen und Empfindungen vermittels des Leibes, durch die nichtmenschliche und menschliche Lebewesen bekunden, welche Bedeutung bestimmte Situationen für sie haben.

Bei allen höheren Tieren sind viele Verhaltensweisen nicht angeboren, sondern müssen durch Beobachtung, Nachahmung und Ausprobieren erlernt werden. Um ihr Verhaltensrepertoire zu erweitern, sind sie darauf angewiesen, Artgenossen oder auch artfremde Lebewesen zu beobachten. Dabei wird nicht ein bewegter Gegenstand wahrgenommen, sondern vermittels des Körpers Gefühle und Bestrebungen, die im Inneren des Beobachters eine Resonanz erzeugen und so Lernprozesse auslösen.25 Die „verkörperte Kognition“26 ist eine Voraussetzung, um seine Kräfte und Fähigkeiten im Hinblick auf eine Situation einschätzen und angemessene soziale Beziehungen aufbauen zu können.27 Durch das Verständnis der körperlichen Bewegungen profitiert ein Lebewesen vom Erfahrungswissen seines Gegenübers. Empathie, die Fähigkeit zu Einfühlung und Perspektivenübernahme, hat sich nicht durch die abstrakte Vorstellung der Innenwelt eines anderen Lebewesens entwickelt, sondern ist ursprünglich leiblich vermittelt. „Empathie“, so Frans de Waal, „bietet einen direkten Zugang ‚zum fremden Ich‘.“28 Sie führt allerdings nicht unbedingt zu Mitgefühl: In dem Moment, in dem ein Lebewesen nicht nur emotional mitschwingt, sondern seine Gefühle von denen anderer unterscheiden kann, kann die Fähigkeit zur Empathie auch benutzt werden, um andere um eigener Vorteile willen zu täuschen.29

Die Fähigkeit, zu denken und zu sprechen, wurde nicht auf einen physiologisch zu erklärenden Körperbau und funktional zu bestimmende Triebreaktionen wie eine neue Schicht aufgesetzt. Wie alle anderen Lebewesen sind Menschen eine Gestaltund Funktionsganzheit, so dass sich die höheren geistigen Fähigkeiten, die die Entwicklung der Kultur ermöglichen, nicht von ihren biologisch-vitalen und emotionalen Ursprüngen abtrennen lassen. Menschen, so betonen Scheler und Cassirer einhellig, erschließen sich die Welt durch eine Vielfalt intentionaler Akte, zu denen die Vernunft ebenso gehört wie Akte des Fühlens, verschiedene Formen der Sympathie, des Urteilens und Leibbewusstsein.30 Die Weite des Lebenshorizontes hängt vom Umfang ab, in dem das Spektrum intentionaler Akte konkretisiert wird, durch die sich Menschen auf die Welt mitsamt der Fülle anderer Lebensformen beziehen können. Je größer die Bandbreite intentionaler Akte ist, desto umfassender ist die Möglichkeit, auch mit nichtmenschlichen Lebewesen zu kommunizieren, sie in ihren nonverbalen Ausdrucksformen zu verstehen und sich auf sie einzustellen. Im Spiegel anderer Kreaturen erfahren Menschen Aspekte ihres eigenen Gefühlslebens, das wiederum die Grundlage für differenzierte zwischenmenschliche Beziehungen, für Freundschaft und Liebe oder einfach nur für Kollegialität, Hilfsbereitschaft und Kooperation ist. Die menschliche Existenz ist geprägt durch ein Netzwerk von Beziehungen, ohne die das Leben auf ein Minimum reduziert wäre.31

Die Auffassung Schelers, dass Menschen alle Seinsstufen in sich zusammenfassen und deshalb zu ‚Einsfühlung‘ und Sympathie fähig sind, findet ihre Entsprechung in evolutionsgeschichtlichen Überlegungen.32 In menschlichen Kommunikationsformen konvergieren Impulse aus bewusstem, emotionalem und vital-sensorischem Erleben. Deshalb können sich Menschen auf die Bedürfnisse und Artikulationsformen einfacherer Lebewesen einstellen, während diese ihrerseits immer nur bestimmte Aspekte der menschlichen Psyche ansprechen können. Höhere und evolutionär später entstandene Prozesse, so lehrt auch die Neurophysiologie, bauen auf niedrigere auf, während diese ohne jene ablaufen können.

Vermittels seines Leibes ist jeder Mensch daher nicht nur mit anderen Personen, sondern auch mit der belebten Natur als Einheit physischer und psychischer Prozesse verbunden. Und da kein Lebewesen aus seinem Umfeld herausgelöst werden kann, bezieht sich die Achtung vor ihm immer auch auf sein Lebensumfeld, an dem die Menschen aufgrund ihres eigenen Lebensprozesses partizipieren. Benutzen sie andere Kreaturen nur als Mittel zur Befriedigung eigener Interessen, schaden sie, da sie innerlich wie äußerlich auf sie bezogen sind, nicht nur ihnen, sondern auch sich selbst. Sie untergraben ihre eigene Lebensgrundlage, die auf den leiblich vermittelten Relationen nicht nur zu den Mitmenschen, sondern zur gesamten Natur beruht. Trotz der Zentrierung in sich ist Leben in all seinen Formen relational bestimmt.

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