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3 Mehr als ein Neuronenflimmern

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„Der Mensch in seinen Bewegungen, Handlungen, in seinem Reden, Schreiben etc. ist nicht eine bloße Verbindung, Zusammenknüpfung eines Dinges, genannt Seele, mit einem anderen, genannt Leib. Der Leib ist als Leib durch und durch seelenvoller Leib. Jede Bewegung des Leibes ist seelenvoll, das Kommen und Gehen, das Stehen und Sitzen, Laufen und Tanzen etc.“27

Über ein Phänomen wie die menschliche Angst haben sich schon viele Denker vor uns Gedanken gemacht. Heutige Neurowissenschaftler bereichern unser Wissen dadurch, dass sie uns sagen, dass wir einen intakten Mandelkern und weitere Hirnstrukturen benötigen, um Angst zu empfinden.28 Die Angst eines Menschen versteckt sich aber nicht irgendwo im Zerebrum! Die lebendige Person erlebt „mit Haut und Haar“, was es heißt, Angst zu haben. Thomas Fuchs macht darauf aufmerksam, dass es wichtig ist, z.B. die ökonomische Situation (Wirtschaftskrise, Krise des Euro), das soziale Wertesystem, die realistische oder weniger realistische Chance einer beruflichen Weiterbildung bzw. Umschulung sowie viele andere Faktoren ins Visier zu nehmen, um zu verstehen, warum Menschen Angst haben. Also sind nicht nur zerebrale Entwicklungen, sondern (im wahrsten Sinne des Wortes) unser Leben, unser soziales, politisches, kulturelles und religiöses Umfeld mit zu berücksichtigen. Angst versteht Fuchs daher als eine „integrale Lebensäußerung, in [der] der Gesamtorganismus auf spezifische Umweltsituationen wertend und motivierend gerichtet ist“29.

Es ist erstaunlich, dass der ein oder andere Neurowissenschaftler und Neurophilosoph darüber schreibt, wo im Gehirn Angst auftaucht und er sich in den Hirnwindungen auf die Verfolgungsjagd begibt. Wir haben es bei der Angst mit einem Phänomen zu tun, welches die leib-seelische Personeinheit betrifft und sich, wie wir weiter oben sagten, im leiblichen Ausdruck entladen kann bzw. mir in meiner Leibwahrnehmung gegeben ist.30

Holk Cruse vertritt in einem Beitrag mit dem Titel Ich bin mein Gehirn. Nichts spricht gegen den materialistischen Monismus31 die Sichtweise, er selbst verdanke sich seinem Hirnkasten. Das, was wir erleben, wird schnell zu einer Schöpfung unseres Oberstübchens erklärt, wobei die Dimension des erlebten Leibes völlig ausgespart bleibt:

„Die Daten, die die Sinnesorgane dem Gehirn liefern, sind fast immer mehrdeutig – offensichtlich ist das bei bestimmten optischen Täuschungen, gilt aber für jeden Wahrnehmungsvorgang. Um dennoch eine Entscheidungsgrundlage zu haben, muss sich das Gehirn für eine dieser Interpretationen entscheiden. Der hierbei eingesetzte Mechanismus verwendet angeborene und erlernte Regeln und wählt aus vielen möglichen Interpretationen diejenige Interpretation, die zu diesen Regeln am besten passt.“32

Das Gehirn schlüpft bei Cruse in die Rolle des Entscheidungsträgers. Nicht Sie planen also, wie und mit wem Sie Ihre Freizeit gestalten. Das übernimmt laut Cruse Ihr Hirn! Und die Entscheidung, diesen Sammelband zu kaufen, hat Ihnen demnach auch Ihr Hirn abgenommen. „Dabei wägt das System die Argumente ab und trifft eine Entscheidung.“33 Erstaunlich, was das kleine Organ alles können soll. Anscheinend „weiß“ es sogar, was „wahr“ und was „falsch“ ist.

Nicht nur für Cruse ist es geradezu selbstverständlich, dem Hirn Zuständigkeiten und Lebensäußerungen zuzuschreiben (Entscheidungen treffen, lesen, denken, philosophieren), als sei dieses Organ ein kompletter Organismus. Weit gefehlt! Das Problematische hierbei ist, dass ein Teil (meros) von Ihnen oder von mir (also das Gehirn) mit Ihnen bzw. mir (also der leib-seelischen Personeinheit) vertauscht wird.

Eine Sichtweise, wonach Sie Ihr Gehirn sein sollen, kann nicht erklären, warum es sich für mich so anfühlt, wie es sich anfühlt, wenn ich mich an einem farbenreichen Blumenstrauß auf meiner Fensterbank erfreue oder in einen süßen Apfel beiße.34 Es ist wissenschaftlich unredlich (und wohl auch ziemlich blind gegenüber dem „prallen Leben“), zu behaupten, es genüge, auf zerebrale Abläufe zu verweisen, um alles zu verstehen. Geht man davon aus, dass Sie Ihr Gehirn sind, bleibt zudem völlig offen, was denn nun mit Ihrem Erleben ist. Und darüber hinaus bleibt völlig unklar, was denn das Medium unserer Wahrnehmung ist, da wir eben nicht nur „Gehirne in Welt“ sind.

Dass wir leiblich-strukturierte Wesen sind, wird in der Gleichung, dass Sie ihr Gehirn sind, völlig übersehen. Und noch etwas: Wenn Sie Eigenschaften haben, die Gehirnzustände eben nicht haben (und vice versa!), spricht dies ganz deutlich gegen eine solche Gleichsetzung.35 Es ist die lebendige leib-seelische Personeinheit, die ihr Hirn einsetzt, um zu denken. Aber nicht der Leib, nicht irgendwelche Neuronenkoalitionen, nicht das Zerebrum oder die Seele überlegt etwas, sondern wir sind es, die unsere „grauen Zellen“ arbeiten lassen, wenn wir z.B. über das Thema Leib und Leben nachdenken. Das Gehirn denkt nicht, rechnet nicht und es liebt auch nicht. Das können nur Personen in ihrer leib-seelischen Ganzheit. Der portugiesisch-amerikanische Hirnforscher Antonio Damasio sagt das so: „Gehirne gehören zu lebenden Organismen, die mit einer physikalischen, biologischen oder sozialen Umwelt interagieren.“36

Mentale Lebensäußerungen treten nicht an einem Gehirn im Tank (also an einem leiblosen Organ) auf, sondern gehören zu einem lebendigen Organismus, welcher für den Metabolismus sorgt, auf den jede Hirnsubstanz angewiesen ist. „Das Gehirn wäre nichts ohne den Körper, es braucht den Körper als seine Grundreferenz.“37 Bei dem, was in unseren Köpfen alles passiert, handelt es sich um lebendige Entwicklungsprozesse des menschlichen Organismus. Die Arbeitsprozesse der Nervenzellen sind eine Facette unseres Lebendigseins und bedeutsam für den ganzen leib-seelischen Organismus, zu dem unser Enzephalon gehört. Hierzu gehören, wie Thomas Fuchs hinweist, vermittelnde Vollzüge für unser In-Beziehung-Sein mit Anderen und mit unserer Umwelt.

„Bedürfnisse des Organismus wie das nach Nahrung, Wasser, Erholung, Schlaf oder Fortpflanzung müssen als Mangel und Trieb gespürt und in zielgerichtete, von Emotionen unterstützte Aktivitäten umgesetzt werden. Dazu ist aber eine ständige Rückmeldung über den momentanen Zustand des Organismus erforderlich.“38

Unser Gehirn ist, mit Fuchs gesprochen, ein Organ, das „elementare und komplexe Systemzustände wechselseitig ineinander übersetzt und so dem Organismus integrale Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen in seiner Umwelt eröffnet“39. Wir sind, wie er bekräftigt, keine geistlosen Handlanger unserer Gehirne. Und es ist ihm auch wichtig hervorzuheben, dass das, was wir erleben und wahrnehmen, keine bloße „Kopfgeburt“ bzw. ein „Hirngespinst“ ist:

„Wird das Gehirn von der Rolle des Weltschöpfers befreit, mit der es zweifellos überfordert ist, dann können wir seine faszinierenden Vermittlungsleistungen würdigen, ohne uns selbst, unser Erleben und Handeln nur noch als Output einer informationsverarbeitenden neuronalen Maschine begreifen zu müssen.“40

Es ist äußerst wichtig für unseren Organismus, dass unser Hirn das, was wir wahrnehmen, und unsere Bewegungen nicht unverbunden sein lässt, sondern verknüpft. Eine notwendige Voraussetzung für so unterschiedliche Lebensäußerungen wie Sehen, Hören, Tasten, Schmerzen erleben ist, dass unsere Organe (Augen, Ohren, Haut, Gehirn) in einer lebendigen Bezugnahme zueinander stehen. Sie gehören zu einem geeinten Ganzen.

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