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Thomas Mann „Joseph und seine Brüder“ (1933–1943) I. Gesittung und Barbarei
Оглавление„Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschen, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinken.“1 Was Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Vorrede zur „Dialektik der Aufklärung“ als Leitfrage für ihre „Philosophischen Fragmente“ formulieren, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von „Gesittung“2 und „Barbarei“, könnte auch als Leitfrage für Thomas Manns Roman-Tetralogie „Joseph und seine Brüder“ (1933 bis 1943) gesehen werden. Als Thomas Mann im November 19263 mit der Niederschrift des ersten Bandes, „Die Geschichten Jaakobs“, begann, ahnte er sicher nicht, welche katastrophalen Ausmaße die beobachtbare neuerliche Hinwendung zu Mythos und Nation annehmen würde. Doch bereits im selben Jahr hatte Thomas Mann die Gefahren einer „falsche[n], anachronistisch-reaktionäre[n] Romantik mit ihrer Verbindung zur völkischen Deutschtümelei“4 soweit erkannt, dass er in seinem autobiographischen Essay „Pariser Rechenschaft“ mit bitterem Unterton festhält,
ob es eine gute und lebensfreundliche, eine pädagogische Tat ist, den Deutschen von heute all diese Nachtschwärmerei, diesen ganzen Joseph Görres-Komplex von Erde, Volk, Natur, Vergangenheit und Tod, einen revolutionären Obskurantismus, derb charakterisiert, in den Leib zu reden, mit der stillen Insinuation, dies alles sei wieder an der Tagesordnung, wir ständen wieder an diesem Punkt […] – das ist die Frage, die beunruhigt.5
Thomas Mann nannte das, was er in Europa beobachtete, einen „unheimlichen Prozeß der Rebarbarisierung“6 und meinte, den „Irrationalismus als populäre Denkrichtung und geistige Stimmung [als, M. A.] etwas spezifisch Deutsches“7 erkannt zu haben. In diese Grundstimmung der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, mit ihrer Hinwendung zum völkischen Mythos, scheint sich auch zunächst Thomas Manns mythisches Großprojekt „Joseph und seine Brüder“ zu fügen, das den Leser tief in den „Brunnen der Vergangenheit“8 zu Menschen führt, deren Ich „weniger scharf umgrenzt“ ist, also „gleichsam nach hinten offen“9 steht, und das Gewesene, Vergangene wiederholt. Dieses „mythische Ichgefühl[ ]“10 bezieht sein Selbstverständnis nicht aus seiner Individualität, sondern aus der Gewissheit, einen bestimmten Typus wieder vorzustellen, in seinen Spuren zu gehen und ein „zitathafte[s] Leben“11 zu führen. Doch bei diesem mythischen Ich bleibt der Roman nicht stehen, vielmehr zeigt er, wie sich das Ich mehr und mehr seiner Individualität bewusst wird, und somit aus der ewigen Wiederholung in die gerichtete Zeit eintritt. Dabei entledigt sich das Ich jedoch nicht gänzlich seiner mythischen Wurzeln, sondern wird sich dieser bewusst und lernt, spielerisch mit ihnen umzugehen, sie abzuwandeln und sich von ihrer Determiniertheit zu emanzipieren. Joseph, der Protagonist der Tetralogie, ist diejenige Figur, die sich ihrer mythischen Wurzeln am stärksten bewusst wird und am deutlichsten das vorgegebene Schema abzuwandeln weiß. Dadurch ist er nicht nur „der Held seiner Geschichten, sondern ihr Regisseur, ja ihr Dichter […] ein künstlerisches Ich“.12 Joseph, der Künstler, spielt mit Mythen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, er ist Tammuz, Gilgamesch und Adonis, Osiris und Hermes. Der Roman führt so einen mythischen Universalismus vor, der sich gegen den nationalen Mythos der Nationalsozialisten richtet und die gemeinsamen antiken Wurzeln13 der europäischen Kultur betont.
Der Weg hin zum Individuum jedoch, der verknüpft ist mit einer anthropozentrischen Gottesidee, bedeutet auch, sich des Alten, Überständigen zu entledigen. Das Mythisch-Archaische, das Barbarische, das durch Gewalt und Chaos geprägt ist, muss zugunsten einer moralischen Gesittung überwunden werden. Die beiden Pole des Romans – Barbarei und Gesittung – werden im „Joseph“ mit Gottesdummheit und Gottesklugheit übersetzt:
Die „Gottessorge“ ist die Besorgnis, das, was einmal das Rechte war, es aber nicht mehr ist, noch immer für das Rechte zu halten und ihm anachronistischerweise nachzuleben; sie ist das fromme Feingefühl für das Verworfene, Veraltete, innerlich Überschrittene, das unmöglich, skandalös oder in der Sprache Israels, ein „Greuel“ geworden ist. Sie ist das intelligente Lauschen auf das, was der Weltgeist will, auf die neue Wahrheit und Notwendigkeit, und ein besonderer, religiöser Begriff der Dummheit ergibt sich dabei: die Gottesdummheit, die diese Sorge nicht kennt […].14
Diese Ausführungen Manns zum Programm des „Joseph“-Romans, erstmals vorgetragen am 17. November 1942 in der Library of Congress in Washington, machen deutlich, dass der Rückfall in den unreflektierten Mythos ein Anachronismus ist, der gegen die bereits erreichte Gesittung der Menschen verstößt. Im Roman wird dies an dem von Gott verwehrten Isaak-Opfer verdeutlicht:
Das eigentliche und ursprüngliche Opfer war Menschenopfer. Wann kam der Augenblick, wo es zum Greuel und zur Dummheit wurde? Die Genesis hält ihn fest, diesen Augenblick, im Bilde des verwehrten Isaak-Opfers, der Substituierung des Tieres. Hier löst sich ein in Gott fortgeschrittener Mensch von überständigem Brauch, von dem, worüber Gott mit uns hinauswill und schon hinaus ist.15
Doch der Roman zeigt keinen linearen Weg hin zur Humanität, vielmehr offenbart er das dialektische Verhältnis von Gesittung und Barbarei, das bereits das Traumkapitel des Vorgängerromans, „Der Zauberberg“ (1924), gezeigt hatte. Hans Castorp erblickt hier in seinem Schneetraum die Bedingung und gleichzeitige Gefährdung der „frommen Gesittung“ der Sonnenleute im „Blutmahl“16 dee Hexen. Der rücksichtsvolle, gesittete und liebevolle Umgang ersterer miteinander ist Produkt der dionysischen Grausamkeit des Menschenopfers im Hexentempel. Die vorsichtige Zartheit ihres Benehmens zeigt jedoch, wie dünn die Decke der Zivilisation, wie brüchig das Errungene stets bleibt. Der „Joseph“-Roman schließt hier gedanklich direkt an, indem er atavistische Gewaltausbrüche17 schildert, die von den Tätern im Wahn mythischer Nachahmung18 begangen und gerechtfertigt werden, jedoch ein grober Verstoß gegen die „Gottesklugheit“ sind.