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II. Thomas Manns Idee eines „Weltdeutschtunis“19

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„Ich bin diesem Werk dankbar, das mir Stütze und Stab war auf einem Wege, der oft durch dunkle Täler führte – Zuflucht, Trost, Heimat, Symbol der Beständigkeit war es mir, Gewähr meines eigenen Beharrens im stürmischen Wechsel der Dinge.“20 Mit diesen Worten, die die Metaphorik von Psalm 2321 aufnehmen, beschreibt Thomas Mann in seinem Essay „Sechzehn Jahre“, welche ganz persönliche Bedeutung der „Joseph“-Roman für sein Selbstverständnis als Künstler, aber auch als Deutscher in den Jahren der Naziherrschaft hat. Die Tetralogie ist das Werk Thomas Manns, das den Dichter durch all seine Exilstationen, zunächst in Europa, dann in Amerika, begleitet hat, und das ihm gleichermaßen als Zufluchtsort und Reflexionsmedium diente. Während Band eins und Band zwei noch in Deutschland entstanden sind, fiel „[i]n die Arbeit am dritten Bande, ‚Joseph in Ägypten‘, […] der Bruch meiner äußeren Existenz, die Nicht-Heimkehr von einer Reise, der jähe Verlust meiner Lebensbasis: er ist schon größtenteils ein Werk des Exils.“22 Durch die Nationalsozialisten seiner Wurzeln und seines Wirkungskreises beraubt, besinnt sich Mann auf die Grundfeste seiner Künstlerexistenz, die er für die der deutschen Kultur überhaupt hält: sein „Weltdeutschtum“. Im Folgenden soll gezeigt werden, was Thomas Mann unter diesem Begriff verstand, warum er für ihn in den Exiljahren immer bedeutender wurde und welche Spuren sich hiervon im „Joseph“-Roman finden lassen. Ich konzentriere mich hierbei auf den letzten Band der Tetralogie, der fernab von Deutschland, „unter dem heiteren, dem ägyptischen verwandten Himmel Californiens“23 entstanden ist, aber dennoch am deutlichsten zeigt, was Thomas Mann unter „Weltdeutschtum“ verstanden hat.

Als Thomas Mann im August 1940 die Arbeit an seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ wieder aufnimmt – er hatte nach Abschluss des dritten Bandes 1936 sein Werk ruhen lassen und seinen Goethe-Roman „Lotte in Weimar“ zwischengeschaltet –, stellt sich ihm die Weltlage pessimistischer dar als jemals zuvor. Eine Niederlage Nazi-Deutschlands ist nicht absehbar, ganz im Gegenteil: Die deutschen Truppen feiern Siege in Europa, Frankreich kapituliert am 22. Juni 1940, und durch den Kriegseintritt Italiens weitet sich der Eroberungsfeldzug der Deutschen bis nach Nordafrika aus. Manns zunehmenden Hass gegen ein Deutschland unter nationalsozialistischer Führung, und vor allem gegen Adolf Hitler, dokumentieren die Tagebücher und die öffentlichen Reden dieser Jahre. Thomas Mann selbst ist zu diesem Zeitpunkt den Papieren nach längst kein Deutscher mehr; 1936 hatte er nach seiner Ausbürgerung die tschechische Staatsbürgerschaft angenommen. Dass er dennoch beansprucht, der Repräsentant der deutschen Kultur24 zu sein, ist seit seinem berühmten Ausspruch bei seiner Ankunft an der amerikanischen Ostküste im Jahr 1938 sprichwörtlich bekannt: „Where I am, there is Germany. I carry my German culture with me.“25 Man mag hinter diesem Ausspruch vor allem die Hybris eines gekränkten Künstlers sehen, unter den Umständen jedoch, aus denen heraus sie gesprochen wurden, und um die es im Folgenden gehen soll, wird verständlich, dass Thomas Mann in seinem Anspruch auf die deutsche Kultur zugleich auch das beschreibt, was als sein ‚Sitz im Leben‘ bezeichnet werden kann, und was ihm half, seine Identität im Exil zu wahren. Zunächst einmal glaubte Thomas Mann in der Tat daran, dass ihm ein ganz besonderer ‚Sitz‘ zukomme und dass es seine Aufgabe sei, diesen ‚Sitz‘ zu einem ganz besonders bedeutenden, seinen Anlagen gemäßen auszugestalten. Dies mag – erneut – vermessen klingen, es zeigt jedoch vor allem den Respekt und auch die Demut vor einer Rolle, die er sich selbst zugedacht glaubt und die ihm mitunter Verzicht und Disziplin abnötigt. Thomas Mann begriff sein Ich als „Primat […] vor der geschichtlichen Wirklichkeit, das auf dem stillschweigenden Einvernehmen basiert, daß die Weltläufe immer das Schicksal für das Ich bereithalten, das ihm zukommt“.26 Spätestens ab 1933, mit dem bereits erwähnten „Protest der Richard Wagner Stadt München“ und dem Beginn seiner Emigration, geht diese Übereinkunft von Ich und Schicksal für Thomas Mann nicht mehr auf.27 Der Schriftsteller wird in seinem innersten Selbst, seinem Deutschtum erschüttert, indem man ihm eben dieses absprechen will. Die historischen Ereignisse laufen dem zuwider, was er als den Sinn seines Seins empfunden hat, nämlich den „auf Schopenhauer basierenden Zusammenhang von Sein und Schicksal“,28 und dieses Sein war für Thomas Mann aufs engste mit der deutschen Kultur verwoben. Er fühlt sich also auch ganz privat in seiner Existenz von Hitler bedroht, der für ihn den Inbegriff der „Verhunzung“29 der deutschen Kultur darstellte. Nazi-Deutschland war im Begriff, sich seine Kultur anzueignen – allen voran die Richard Wagners30 –, aber eben auf der Ebene der „Verhunzung“, in der Verkehrung des Guten zum Bösen.31

An dieser Stelle kann nur stichwortartig skizziert werden, was für Thomas Mann „Deutschtum“ bedeutet, im Kern kann man es aber als „Universalismus“ definieren:

Wir wollen Psychologen genug sein, zu erkennen, daß der ungeheuerliche deutsche Versuch der Weltunterwerfung […] nichts anderes ist als ein verzerrter und unglückseliger Ausdruck jenes dem Deutschtum eingeborenen Universalismus, der ehemals so viel höhere, reinere, edlere Gestalt hatte und diesem bedeutenden Volk die Zuneigung, ja die Bewunderung der Welt erwarb. Machtpolitik hat ihn verdorben und ins Unglück gebracht […]. Wir wollen vertrauen, daß der deutsche Universalismus in seinen alten Ehrenstand zurückfinden, daß er sich des frevelhaften Gedankens der Welteroberung für immer entschlagen und wieder als Welt-Sympathie, Welt-Offenheit und geistige Bereicherung der Welt bewähren wird.32

Dieser Universalismus ist der Kern von Thomas Manns „Weltdeutschtum“, das er in seine Kunst hineinzutragen hoffte, und das er bereits bei Goethe vollendet33 und nun durch Hitler bedroht sah. In seiner Radioansprache „Deutsche Hörer!“ von 1945 verteidigt Thomas Mann seine Repräsentantenrolle im amerikanischen Exil:

Ich habe aber auch von dem deutschen Elend dieser Jahre wahrhaftig nichts versäumt, wenn ich gleich nicht zugegen war, als in München mein Haus in Brüche ging. Man gönne mir mein Weltdeutschtum, das mir in der Seele schon natürlich, als ich noch zu Hause war, und den vorgeschobenen Posten deutscher Kultur, den ich einige Lebensjahre mit Anstand zu halten suchen werde.34

In dieser, für seine Kunst und die Einheit seines Ichs bedrohlichen Lage reagiert Thomas Mann sowohl auf öffentlicher wie auch privater und ästhetischer Ebene. Als öffentliche Person, die er unweigerlich in Amerika war, entwickelt er sich zum überzeugten und leidenschaftlichen Redner und Essayisten, der kaum Mühen und physische sowie psychische Strapazen scheut, gegen Nazi-Deutschland anzureden und zu schreiben. Hans Rudolf Vaget hat kürzlich in seinem Buch „Thomas Mann, der Amerikaner“ Manns enormes antifaschistisches Engagement in Amerika ausführlich nachgezeichnet.35

Als private Person – und dies spielt natürlich auch ganz entscheidend in seine öffentliche Rolle und sein ästhetisches Schaffen mit hinein – versucht er, seine Persönlichkeit zu festigen und zu schützen, indem er sich seines Deutschtums, seiner Wurzeln, umso mehr vergewissert, und auf seinen ‚alten‘ Gewährsmann Goethe zurückgreift, und das verstärkt, was er selbst als Goethe-imitatio bezeichnet hat.36 Und so vermerkt Thomas Mann am 13. März 1934 in seinem Tagebuch: „Daß ich aus dieser [Goetheschen, M.A.] Existenz hinausgedrängt worden, ist ein schwerer Stil- und Schicksalsfehler meines Lebens“.37 Unter diesen Gesichtspunkten ist Manns oben zitierter Ausspruch von 1938 zu sehen, mit welchem „[d]er vertriebene Schriftsteller […] den Anspruch der nationalsozialistischen Machthaber parieren [musste, M. A.], Gralshüter allen Deutschtums zu sein“.38

Sicher ist es also kein Zufall, dass Thomas Mann 1936 den „Joseph“-Roman für den Goethe-Roman „Lotte in Weimar“ unterbricht, und hier einen alt gewordenen, aber immer noch potent schaffenden Dichter zeigt, der ein ebenso ambivalentes Verhältnis zu Deutschland hat wie Thomas Mann zu jener Zeit. Und so lässt Mann seinen Goethe sagen:

Sie [die Deutschen, M. A.] mögen mich nicht – recht so, ich mag sie auch nicht, so sind wir quitt. Ich hab mein Deutschtum für mich – mag sie mitsamt der boshaften Philisterei, die sie so nennen, der Teufel holen. Sie meinen, sie sind Deutschland, aber ich bins, und gings zugrunde mit Stumpf und Stiel, es dauerte in mir.39

Goethe war Thomas Mann darin ein Vorbild, dass er sich trotz der Vorbehalte gegen seine Zeit nicht aus der Welt zurückzog, sondern sich als anderen, aber eben wahrhaften Repräsentanten seiner Kultur zu inszenieren verstand. Das, was Nietzsche in seiner „Götzen-Dämmerung“ über Goethe sagt, „er disciplinierte sich zur Ganzheit, er schuf sich“,40 gilt auch für Thomas Mann – und für dessen Helden Joseph.41 Indem sich Thomas Mann in der Nachfolge Goethes sieht, sich als legitimen Erben eines übernationalen, kosmopolitischen Kunstschaffenden versteht, gelingt es ihm, das Schicksal als falsch, als nicht passend zu interpretieren, während sein Ich unangetastet bleibt. „Was die moderne Welt im Großen nicht mehr leisten kann, soll nun die große Persönlichkeit verbürgen. “42 In diesem Zusammenhang, dem Glauben an den großen Mann,43 ist auch Thomas Manns Roosevelt-Verehrung44 zu sehen, in dem er den „geborene[n] Gegenspieler“45 Hitlers erblickte und dessen autoritärer Führungsstil literarischen Niederschlag in der Gestaltung des zum ägyptischen Wirtschaftsminister aufgestiegenen Joseph gefunden hat.

Aus den Worten vom „geborene[n] Gegenspieler“ erkennt man die lebensbestimmende Überzeugung Manns, die er von Goethe übernahm, dass die Großen dieser Welt mit „angeborenen Verdiensten“46 ausgestattet seien. Thomas Mann erläutert dieses Paradox in seinem Essay „Schopenhauer“ aus dem Jahre 1938 und identifiziert damit in dem Philosophen seinen zweiten Gewährsmann für die These des naturhaft Besonderen:

Goethe spricht mit Vorliebe von ‚angeborenen Verdiensten‘, – was eine in logischer und moralischer Hinsicht eigentlich absurde Wortkoppelung ist. Denn ‚Verdienst‘ ist durchaus und von Hause aus ein moralischer Begriff, und was angeboren ist, also etwa Schönheit, Klugheit, Vornehmheit, Talent – oder, ins Schicksalsmäßige gewendet: Glück – dabei kann logischerweise kein Verdienst sein. Damit man hier von Verdienst reden könne, müßte dergleichen das Ergebnis freier Wahl, der Ausdruck eines vor der Erscheinung liegenden Willens dazu sein, – und eben das ist es, was Schopenhauer behauptet, wenn er hart und aristokratisch erklärt, daß einem jeden, dem Glücklichen und dem Unglücklichen, immer nur Recht geschieht.47

Wenn Thomas Mann hier von „Schönheit, Klugheit, Vornehmheit, Talent“ und „Glück“ spricht, muss man unweigerlich an seine biblische Joseph-Figur denken. Und damit sind wir wieder im Jahr 1940 angelangt, in dem Thomas Mann nach seinem Goethe-Intermezzo den „Joseph“-Roman wieder aufnimmt. Den stilistischen Einstieg in die mythische Welt findet Thomas Mann denn auch über Goethe, genauer über dessen „Faust“, den er – ebenso wie seinen „Joseph“ – als „Menschheitssymbol“48 verstanden wissen wollte. Der vierte Band, „Joseph, der Ernährer“, beginnt mit einem „Vorspiel in Oberen Rängen“,49 in welchem, ebenso wie in Goethes „Prolog im Himmel“, die Engel ein Gespräch über die Geschicke der Menschen führen.50 Er zeigt aber vor allem eine Entwicklung des Helden, die in direktem Zusammenhang zu Thomas Manns Goethe-Bild steht. Joseph wird nun das, was Thomas Mann als den „Regisseur“51 seiner eigenen Geschichte bezeichnet hat. Dass diese Wendung des Helden mit Goethe und somit mit Thomas Manns Idee der großen Persönlichkeit zu tun hat, die es vermag, in das Weltgeschehen einzugreifen, und die in dieser Ausprägung Produkt des Exils und des Kampfes gegen Hitler ist, hat bereits Hans Wißkirchen betont: Denn in „Joseph, der Ernährer“ werde „sich Joseph bewußt, daß er als Persönlichkeit im Sinne Goethes agiert“.52 An der Joseph-Figur zeigt sich der Versuch Thomas Manns, seine verloren gegangene Übereinkunft von Ich und Welt in einer „totalitätsstiftenden Persönlichkeit“53 wieder zu gewährleisten:

Joseph holt die Welt in sein Ich, indem er sich die Geschichte zu eigen macht. […] Joseph wird[…] zum Künstler […]. Die Metapher des Künstlers steht hier für den in der Gegenwartsgeschichte verstellten Wunsch, das eigene Sein zum Fixpunkt des geschichtlichen Ablaufs zu machen.54

Joseph, der kluge, schöne und talentierte Lieblingssohn Jaakobs, ist die große Persönlichkeit, der große Mann, der durchdrungen ist von „Welt-Sympathie“ und „Welt-Offenheit“, die sich aber eben aus dem Wissen um seine „angeborenen Verdienste“ und aus seiner Selbstliebe speisen. Die biblische Geschichte, deren Bekanntheit Thomas Mann zumindest in der Entstehungszeit des Romans voraussetzen konnte, ist denn auch besonders gut geeignet, um das zu zeigen, was Mann mit Goethe und Schopenhauer unter „angeborenen Verdiensten“ verstand, und was es heißt, sich selbst zu schöpfen, seine vorgesehene Rolle möglichst gut und möglichst schön zu spielen. Denn, dass Joseph zum Traumdeuter des Pharaos wird und durch seine Wirtschaftsmaßnahmen die Hungernot besiegt, ist dem bibelkundigen Leser bekannt, nun geht es jedoch darum, zu erzählen, wie er dies tut. Der Erzähler kommentiert dies wie folgt: „Kommt nicht der Erörterung des ‚Wie‘ soviel Lebenswürde und -wichtigkeit zu wie der Überlieferung des ‚Daß‘? Ja, erfüllt sich das Leben nicht recht erst im ‚Wie‘?“55 Es erfüllt sich also nicht nur die Ästhetik des Textes im ‚Wie‘, sondern auch die Ästhetik des Lebens selbst. Auch Joseph weiß das, er weiß, dass er in einer Geschichte ist und dass es nun an ihm ist, diese möglichst schön auszugestalten – und zwar aus dem oben bereits erwähnten Respekt vor seinem eigenem Leben, vor dem Gefühl der eigenen Besonderheit.56 Dieses Bewusstsein Josephs für die eigene Geschichte, wird besonders im vierten Band deutlich, wenn er, längst Vertrauter des Pharaos, erfährt, dass seine Brüder Nahrung suchend nach Ägypten reisen:

„Mai [Josephs Hausvogt, M. A.], wenn du wüßtest, wie mir zumute ist! Aber ich weiß es selber nicht […]. Und dabei hab’ ich’s gewußt und erwartet und darauf gewartet seit Jahren und Tagen. Gewußt hab’ ich’s, als ich vor Pharao stand, und als ich ihm deutete, da habe ich’s mir gedeutet, wo Gott hinauswollte, und wie er diese Geschichte lenkt. Was für eine Geschichte, Mai, in der wir sind! Es ist eine der besten! Und nun kommt’s darauf an und liegt uns ob, daß wir sie ausgestalten recht und fein und das Ergötzlichste daraus machen und Gott all unseren Witz zur Verfügung stellen. Wie fangen wir’s an, einer solchen Geschichte gerecht zu werden? Das ist’s, was mich so aufregt …“57

Es geht also darum, seine Geschichte möglichst gut zu erzählen, und um so talentierter man ist, und um so bewusster, einem die eigene Rolle wird, desto gewinnbringender und menschenfreundlicher kann diese ausgefüllt werden.

Dies bedeutet aber auch, Opfer zu bringen. Das weiß bereits Goethe in „Lotte in Weimar“, der Charlotte in der Abschiedsszene das Geheimnis des (Lebens-)Opfers enthüllt:

„Du handelst vom Opfer, aber damit ist’s ein Geheimnis und eine große Einheit wie mit Welt, Leben, Person und Werk, und Wandlung ist alles. Den Göttern opfert man, und zuletzt war das Opfer der Gott. […] Alte Seele, liebe, kindliche, ich zuerst und zuletzt bin ein Opfer – und bin der, der es bringt.“58

Joseph bringt ebenfalls Opfer. So opfert er für die Ausschmückung seiner Geschichte seine Familie. Sein ägyptisches Leben fernab von Vater und Brüdern disqualifiziert ihn als Segensträger, aber mehr noch, es bringt ihm die Absonderung von seinem Stamm, seiner Familie, und so hört er das Wort von „absprechender Liebe“ aus dem Munde seines Vaters Jaakob:

„Hast du je die Stimme absprechender Liebe vernommen? So vernimmst du sie jetzt an deinem Ohre, nach dem Gehorsam. […] Der Erstgeborene bist du in irdischen Dingen und ein Wohltäter, wie den Fremden, so auch Vater und Brüdern. Aber das Heil soll nicht durch dich die Völker erreichen und die Führerschaft ist dir versagt. […] Du bist der Gesonderte. Abgetrennt bist du vom Stamm und sollst kein Stamm sein.“59

Auch wenn der Roman damit endet, dass Joseph inmitten seiner Brüder steht und diesen verzeiht, so ist dies doch nur eine Momentaufnahme. Die Zugehörigkeit zu seinem Stamm, seiner Familie ist ihm verwehrt. Und auch die ägyptische Welt hält im Grunde keine Heimat für ihn bereit. So lässt der Erzähler denn auch keinen Zweifel daran, dass andere Gründe als das Wohl Ägyptens bei Josephs Ernährerrolle im Vordergrund standen und gesteht den Lesern,

daß des Reiches Herrlichkeit ihn, so sehr er seiner äußeren Gesittung nach zum Ägypter geworden war, im Grunde nichts anging, und daß, so energische Wohltaten er den Dortigen erwies, so umsichtig er dem Öffentlichen diente, sein innerstes Augenmerk doch immer auf Geistlich-Privates und Weltbedeutend-Familiäres, auf die Förderung von Plänen und Absichten gerichtet blieb, die mit dem Wohl und Wehe Mizraims wenig zu tun hatten.60

Joseph hat sein Leben gelebt im Bewusstsein der „Pflicht […], den Absichten Vorschub zu leisten und Gott bei ihrer Verfolgung nach besten Kräften behilflich zu sein“.61

Vor dieser großen Inszenierung seiner Lebensgeschichte tritt die Wendung des Helden zum sozialen Wohltäter62 in den Hintergrund. Der „Joseph“-Roman erzählt nicht die Geschichte eines geläuterten Narzissten, der seine Selbstliebe in Nächstenliebe umwandeln kann. Er handelt vielmehr davon, wie der ganz Besondere, die große Persönlichkeit durch Wertschätzung der eigenen Person und des eigenen Lebens sowie durch die Vervollständigung der eigenen „angeborenen Talente“ in der Lage ist, eine gute Geschichte zu erzählen und damit ein gutes Leben zu inszenieren. Und dieses sieht nebenbei noch vor, human tätig zu sein – eben weil es zur Lebenspflicht dazu gehört, eben weil es die Zeit einfordert.

Die deutsche Exilliteratur 1933 bis 1945

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