Читать книгу Die deutsche Exilliteratur 1933 bis 1945 - Группа авторов - Страница 21
II. Entstehung und Gattungsdiskurs
ОглавлениеDie ersten Jahre seines Exils verbrachte Heinrich Mann in Frankreich. Wenige Tage nach dem Ausschluss aus der Preußischen Akademie und noch vor dem Brand des Reichstages verließ der Schriftsteller seine deutsche Heimat und emigrierte über Sanary-sur-Mer nach Nizza, wo er bis 1940 lebte. An der Côte d’Azur entstand ein zweiteiliger Roman, der, indem er von dem Leben des guten Königs Heinrich erzählt, ein Panorama der französischen Geschichte im Zeitalter der Glaubenskämpfe des 16. Jahrhunderts entfaltet. Die Gestalt Heinrichs von Navarra hatte den Schriftsteller bereits seit einem Aufenthalt in den Pyrenäen im Sommer des Jahres 1927 beschäftigt, wie Pierre Bertaux in einer Rede, die er anlässlich des einhundertsten Geburtstages des Schriftstellers in der Akademie der Künste in Berlin hielt, berichtet.3
Die beiden 1935 und 1938 bei Querido in Amsterdam erstveröffentlichten Romane nehmen nicht nur im Werk Heinrich Manns eine herausragende Stellung ein. Sie zählen auch zu den großen historischen Romanen, welche die deutsche Literatur im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Georg Lukács urteilt in seiner Schrift „Der historische Roman“ sogar, das Werk sei „das höchste Produkt“ dieser Gattung in der zeitgenössischen Literatur.4 Die Abhandlung des ungarischen Philosophen und Literaturwissenschaftlers, die zwar bereits 1936 und 1937 entstanden ist, jedoch erst 1955 in deutscher Sprache publiziert werden konnte, erscheint aus der Retrospektive als ein Beitrag zu einer umfangreichen Debatte, die unter den emigrierten Autoren in den dreißiger Jahren geführt wurde. Bereits im Dezember 1934 hatte der niederländische Schriftsteller Menno ter Braak in der Pariser Wochenschrift „Das Neue Tage-Buch“ einen Artikel veröffentlicht, in dem er forderte, die Exilliteratur müsse sich qualitativ von der durch das Dritte Reich geförderten Dichtung unterscheiden und damit alternative Perspektiven auf die geistes- und kulturgeschichtlichen Traditionen Deutschlands eröffnen.5 Die Diskussion wurde unter anderem von Ludwig Marcuse, Hans Sahl und Alfred Döblin aufgegriffen und fortgeführt. So publizierte Franz Carl Weiskopf in der Wochenschrift „Der Gegen-Angriff“ einen Beitrag unter dem Titel „Hier spricht die deutsche Literatur! Zweijahresbilanz der ‚Verbannten‘“, in dem er die literarische Auseinandersetzung mit historischen Stoffen als einen Rückzug aus der Gegenwart und ihren Problemen kritisierte: „Die Wahl eines historischen Stoffes bedeutet für einen emigrierten deutschen Schriftsteller in der Regel Ausweichen oder Flucht vor den Problemen der Gegenwart“, konstatiert er. „Flucht und Ausweichen sind keine Zeichen von Stärke. Das muß sich auch in den Werken der ausweichenden oder flüchtigen Autoren zeigen. Und es zeigt sich auch.“6
In der in Paris gehaltenen Rede „Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans“ reagiert Lion Feuchtwanger auf diese Vorwürfe, indem er die literarische Gestaltung der Geschichte als Instrument zur „zeitlichen Distanzierung“ des „zeitgenössischen Weltbildes“ deutet.7 Der Mangel an Gegenwart und der regressive Blick auf die Vergangenheit, die von den Emigranten diskutiert wurden, ist auch von Heinrich Mann thematisiert worden. In dem Essay „Gestaltung und Lehre“ aus dem Jahr 1939, das nicht nur eine Betrachtung über die Möglichkeiten historischen Erzählens ist, sondern auch eine Selbstdeutung seines Romans beinhaltet, schreibt er:
Wir werden eine historische Gestalt immer auch auf unser Zeitalter beziehen. Sonst wäre sie allenfalls ein schönes Bildnis, das uns fesseln kann, aber fremd bleibt. Nein, die historische Gestalt wird, unter unseren Händen, ob wir es wollen oder nicht, zum angewendeten Beispiel unserer Erlebnisse werden, sie wird nicht nur bedeuten, sondern sein, was die weilende Epoche hervorbringt oder leider versäumt. Wir werden sie den Mitlebenden schmerzlich vorhalten: seht dies Beispiel.8
Heinrich Mann negiert eine Sonderstellung des historischen Romans, indem er, in der Nachfolge hegelscher Denkfiguren, das literarische Kunstwerk als Beitrag zu dem Diskurs jener Zeit deutet, während derer es entstanden ist. Der zweiteilige Roman um den guten König Heinrich ist in der Interpretation des Autors somit nicht – in der Nachfolge der spätzeitlichen Verlaufsformen der Romantik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – als Flucht aus einer als defizitär verstandenen Gegenwart zu verstehen, sondern als Beispiel, als exemplum im Sinne jener mittelalterlichen Moralisten, die kurze Erzählungen historischen Charakters als persuasive rhetorische Strategie nutzten.9 In diesem Sinne bemerkt Helmut Koopmann über den Roman: „Ein historischer Roman im strengen Sinne ist Heinrich Manns Buch allerdings nie gewesen und wollte es auch gar nicht sein. Denn was Heinrich Mann beschrieben hatte, war im Grunde genommen die Legende des großen Henri.“10
Formal wird das (Vor-)Bildhafte des literarischen Geschehens einerseits durch Kommentare und Deutungen des Erzählers herausgestellt, mit denen der Leser unmittelbar angesprochen und zur Reflexion über Handlung wie Figurenreden angeregt wird, zum anderen durch die in der „Jugend des Königs Henri Quatre“, also in dem ersten Band des Romans, jedes Kapitel beschließenden „Moralités“, die als Paratexte die wesentlichen Gedanken des vorangegangenen Erzählabschnittes noch einmal zusammenfassen und, indem sie in französischer Sprache gehalten sind und damit den epischen Fluss unterbrechen, die auktoriale Intentionalität herausstellen. Die „ausdrückliche Wendung an den Leser“ beinhaltet zugleich eine Distanzierung von jenen Formen der Gattung des historischen Romans, die seit den Werken des schottischen Schriftstellers Sir Walter Scott eine Vergangenheit durch die Identifikation des Lesers mit den handelnden Figuren evoziert haben.11 Insbesondere das ebenfalls in französischer Sprache abgefasste Schlusskapitel, in dem der tote König „von der Höhe einer Wolke“ eine Ansprache an die Nachgeborenen richtet, durchbricht die Illusion der geschichtlichen Authentizität, auf die der historische Roman stets Bezug nimmt, und lenkt so die Aufmerksamkeit auf das paradoxe Verhältnis von historischer Wahrheit und erzählerischem Anspruch, das der Gattung immanent ist.12
Auf diese Weise unterläuft der Roman die Bereitschaft des Lesers zu Mitgefühl und Identifikation und erzeugt stattdessen eine kritische Distanz, welche die Analogien zwischen der Geschichte Frankreichs im Zeitalter der Glaubenskriege und dem nationalsozialistischen Deutschland sichtbar werden lässt. Die Vergangenheit dient als ein zwar indirekter, aber gleichwohl evidenter Kommentar zum Zeitgeschehen.13