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IV. Gegenwart und Vergangenheit
ОглавлениеIn „Gestaltung und Lehre“ thematisiert Heinrich Mann jedoch nicht nur das Verhältnis von deutscher und französischer Geschichte als dialektisch aufeinander bezogene Muster einer möglichen historischen Erkenntnis. Seine Selbstdeutung fokussiert auch die Gestalt des Königs Heinrich im Sinne jener speziellen „Befähigung zur Wertschätzung der Größen aller Zeiten und Richtungen“, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat, wie Jacob Burckhardt in dem Kapitel „Die historische Größe“ seiner „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ formuliert.18 In der Nachfolge des Exempels und der Legende erzählt der Doppelroman von dem beispielhaften Leben eines guten Königs und schreibt zugleich jenen kulturhistorischen Diskurs fort, der seit der späten Aufklärung die Bedeutung der Persönlichkeit für den Prozess der Geschichte behauptet und sich philosophisch in Ralph Waldo Emersons Essays „Representative Men“ aus dem Jahr 1850 ebenso abzeichnet wie in Stefan Zweigs im Jahr 1927 veröffentlichten „Sternstunden der Menschheit“.
Auf diese Weise kontrastiert die Fokussierung der feudalen Gesellschaft auf einen, in der letzten Konsequenz göttlich legitimierten Herrscher und die damit verbundene Idee einer Gemeinschaft, die durch die Verantwortung des Stärkeren für den Schwächeren definiert wird, mit den Erfahrungen der totalitären Herrschaft des Nationalsozialismus in der eigenen Gegenwart. Die Figur Heinrich IV. ist, sowohl in der Anlage ihres Charakters als auch in der um Verantwortung bemühten Ausübung ihrer Macht, deshalb als eine komplementäre Figur zu Adolf Hitler zu lesen.19 „Bewahrt euch all euren Mut, mitten im fürchterlichen Handgemenge, in dem so viele mächtige Feinde euch bedrohen“, sagt Heinrich in diesem Sinne auf die Gegenwart des 20. Jahrhunderts rekurrierend. „Es gibt immer Unterdrücker des Volkes, die habe ich schon zu meiner Zeit nicht geliebt, kaum, daß sie ihr Kleid gewechselt haben, keineswegs aber ihr Gesicht.“20 Indem der Roman die historische Wirklichkeit überzeichnet und zu einer Legende überhöht, entsteht das Idealbild einer zwar absoluten, aber gerechten Regierungsgewalt als „Gegenbild einer immer mehr sich verdüsternden Zeit“.21
Der Roman zitiert somit auch ein geschichtsphilosophisches Muster, das seit der Romantik in der deutschen Literatur wiederholt aufgegriffen worden ist: Der Blick in die Vergangenheit meint eine Utopie und verweist als solche auf die Möglichkeiten einer kommenden Zeit. Er ist weder als Ausdruck eines regressiven Eskapismus noch als Verwirklichung fordernde Zukunftsvision zu lesen, vielmehr ist sein humanistischer Idealismus als utopische Antithese eine kritisch-reflexive Kontrafaktur der fragwürdigen und bedrohlichen Entwicklungen der europäischen Zivilisation in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. In der Ambivalenz aber von negativem Spiegel und positivem Beispiel zeigt sich jene Haltung, die auch andere historische Romane des deutschsprachigen Exils, wie Stefan Zweigs „Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam“ (1934) oder Lion Feuchtwangers „Der falsche Nero“ (1936), programmatisch bestimmt hat und die ein wesentliches Merkmal der Gattung ist.
Wenngleich Heinrich Mann bereits in den späten zwanziger Jahren, nachdem er angefangen hatte, sich mit der Gestalt Heinrichs von Navarra zu beschäftigen, an dem Roman gearbeitet hat, gewinnt das Werk erst Kontur mit dem Abschied des Schriftstellers von seiner deutschen Heimat und der Übersiedlung in das französische Exil. Die Fiktion einer Vergangenheit und das in ihr implizit aufscheinende Wunschbild einer Gesellschaft aus dem Bewusstsein ihrer kulturellen Herkunft wird – so kann die Entstehungsgeschichte des Werkes individualpsychologisch gedeutet werden – für den Schreibenden zu einem Regressionsraum. Die zeitlich weit entfernte Herrschaft eines gerechten Monarchen wird jedoch nicht aufgrund ihres Widerstandspotentials entfaltet. Die Legende, die in der Apotheose Heinrichs auch textimmament als solche ausgewiesen wird, bleibt eine Imagination, ein der dunklen Wirklichkeit mühsam abgerungenes Gedankenspiel, das dem Leser mit den Schlussworten „Wie ein Vorhang schließt sich die goldene Wolke wieder über dem König“ auch als solches noch einmal bewusst gemacht wird.22
Weil es aber im Exil für Heinrich Mann keine Notwendigkeit gab, seine Erzählung historisch zu verklausulieren, zeigt sich, dass er über die Vergangenheit Frankreichs schrieb und nicht über die Gegenwart Deutschlands, dass er einen historischen Roman verfasste und keinen Zeitroman, weil ihm – wie auch den anderen Emigranten – der direkte Kontakt, die Anschauung der politischen Verhältnisse und ihrer alltäglichen gesellschaftlichen Implikationen im Deutschen Reich fehlte. Weil die deutsche Gegenwart dem Exilanten fremd war und mit der Dauer seiner Heimatlosigkeit fremder wurde, ist der Un-Ort der Vergangenheit in dem Doppelroman auch ein Sinnbild für die persönliche Tragik, die mit der Vertreibung einer ganzen Generation von Künstlern und Intellektuellen aus dem Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus verbunden ist. In diesem Sinne beendet der Erzähler die Lebensgeschichte Heinrichs von Navarra mit dem auf das Potential der Fiktion verweisenden Gedanken: „Seul roi de qui le pauvre ait gardé la mémoire.“23
1 Zit. nach: Hans Mayer: Einführung, in: Pierre Bertaux: Zur Entstehung des Henri Quatre. Heinrich Mann in den Pyrenäen, Berlin 1973 [Anmerkungen zur Zeit, hg. v. d. Akademie der Künste, H. 17], S. 3–8, hier S. 6f.
2 Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, Düsseldorf 1974, S. 348.
3 Bertaux [Anm. 1], S. 16f.
4 Georg Lukács: Der historische Roman, Berlin 1955, S. 283. Vgl. hierzu auch Ulrich Kittstein: „Mit Geschichte will man etwas“. Historisches Erzählen in der Weimarer Republik und im Exil (1918–1945), Würzburg 2006, S. 169–193.
5 Menno ter Braak: Emigranten-Literatur, in: Das Neue Tage-Buch, 2. Jg., Nr. 52, vom 29. Dezember 1934, S. 1244f.
6 Franz Carl Weiskopf: Hier spricht die deutsche Literatur! Zweijahresbilanz der ‚Verbannten‘, in: Der Gegen-Angriff, 3. Jg., Nr. 19, vom 12. Mai 1935.
7 Lion Feuchtwanger: Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans, in: Das Neue Tage-Buch, 3. Jg., Nr. 27, vom 6. Juli 1935, S. 640–643, hier S. 641.
8 Heinrich Mann: Gestaltung und Lehre, in: ders.: Verteidigung der Kultur, Hamburg 1960, S. 516.
9 Vgl. hierzu Ulrich Stadler: Von der Exemplarursache zur Dialektik. Über den Gleichnischarakter von Heinrich Manns „Henri-Quatre“-Romanen, in: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich, hg. v. Helmut Arntzen [u.a.], Berlin/New York 1975, S. 539–560 sowie Kittstein [Anm. 4], S. 188.
10 Helmut Koopmann: Der Sieg des guten Königs, in: Romane von gestern – heute gelesen, Bd. 3: 1933–1945, hg. v. Marcel Reich-Ranicki, Frankfurt a. M. 1990, S. 179–185, hier S. 180.
11 Kittstein [Anm. 4], S. 188.
12 Heinrich Mann: Die Vollendung des Königs Henri Quatre. Roman, Hamburg 1962, S. 979.
13 Vgl. hierzu Wolf Jöckel: Heinrich Manns „Henri Quatre“ als Gegenbild zum nationalsozialistischen Deutschland, Meisenheim am Glan 1977 [Deutsches Exil 1933–45. Eine Schriftenreihe, Bd. 9], Peter Sprengel: Teufels-Künstler. Faschismus und Ästhetizismus-Kritik in Exilromanen Heinrich, Thomas und Klaus Manns, in: Exilliteratur 1933–1945, hg. v. Wulf Köpke u. Michael Winkler, Darmstadt 1989 [Wege der Forschung, Bd. 647], S. 424–450 und Helmut Koopmann: Der gute König und die böse Fee. Geschichte als Gegenwart in Heinrich Manns „Henri Quatre“, in: ebd., S. 300–332.
14 Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 6: Kunstlehre, 2. Aufl., München 1923, S. 188.
15 Kittstein [Anm. 4], S. 178. Vgl. außerdem Renate Werner: Transparente Kommentare. Überlegungen zu historischen Romanen deutscher Exilautoren, in: Exilliteratur 1933–1945 [Anm. 13], S. 355–393.
16 Vgl. hierzu Ilse Grieninger: Heinrich Manns Roman „Die Jugend und Vollendung des Königs Henri Quatre“. Eine Strukturanalyse, Mannheim 1970, S. 162–173.
17 Mann [Anm. 8], S. 521.
18 Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, hg. v. Rudolf Max, Stuttgart 1955, S. 212.
19 Vgl. Sprengel [Anm. 13], S. 430f. sowie Thomas Koebner: Die Fiktion vom guten Herrscher. Heinrich Manns Roman „Henri Quatre“, in: ders.: Unbehauste. Zur deutschen Literatur in der Weimarer Republik, im Exil und in der Nachkriegszeit, München 1992, S. 261–271.
20 Mann [Anm. 12], S. 981f.
21 Koopmann [Anm. 10], S. 181.
22 Mann[Anm. 12], S. 983.
23 Ebd., S. 974.