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II.

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Allein die kriegerische „Verwendung“ des Werner Bertin zeigt seinen Werdegang auf: So wurden die Armierungsbataillone, bestehend aus minder Kriegstauglichen – wie auch Bertin aufgrund seiner Kurzsichtigkeit und schwachen körperlichen Konstitution –, zu Beginn des Krieges zur Befestigung der deutschen Festungen und zur Herstellung und Instandsetzung von Transportwegen eingesetzt. Mit Beginn des Stellungskrieges jedoch wurden sie oft an die Front vorverlegt, um diese zu unterhalten. Damit stieg ihr Ansehen im Heer deutlich. Bertins subjektive Wahrnehmung bleibt hiervon jedoch unberührt. Er versteht sich weiterhin als der einfache „Schipper“, der durch die schwere körperliche Arbeit zusehends in seine Aufgabe hineinwächst und für den die Kameraden an erster Stelle stehen.14 Dem Höhepunkt der körperlichen Stärke folgt schließlich aber, im Verein mit dem der psychischen, deren neuerlicher Abbau, ganz im Sinne der „Abnutzungsschlacht“. Und so liegt hier ein typisches Beispiel für die verschleiernden Deutungsmuster im Heer vor: Der Krieg läuft aus dem Ruder und verlangt nach immer mehr Menschenmaterial. Indem nun die Bedeutung dieser verstärkenden Truppen hervorgehoben wird, ist die Parole des „ehrenvollen Todes fürs Vaterland“ vorformuliert.

Wenn am Ende der „Erziehung vor Verdun“ Bertin seiner Frau Lenore vorschlägt, in den Wald zu spazieren, dann liegt das Ende des großen Krieges sieben Monate zurück. Fast eineinhalb Jahre hat er an der Westfront verbracht, ehe er unter Zuhilfenahme von Freunden als Schreiber an die Ostfront gelangen konnte: „‚Diese Wiese‘ sagt Bertin, indem er seinen Arm in den ihren legt, ‚wäre von hier aus durch ein Maschinengewehr gegen zwei Kompanien zu halten; sie kämen nicht über den Bach da unten. Und der Waldrand gäbe eine famose Stellung ab für Flakbatterien.‘“ Und weiter: „‚So‘, sagt Werner Bertin träumerisch, gelehnt an die Schulter seiner Frau, ‚ganz so, nur viel dichter sahen die Wälder vor Verdun aus, als wir hinkamen.‘“15

An dieser Stelle bemüht Bertin sich um einen Vergleich: Er will den einen Wald durch den anderen, über das tertium comparationis „dicht“ vermitteln. Es bleibt zu belegen, dass dies als tertium comparationis dient, da die unbestimmte Weisung, „so“, jene Dichte nicht nennt und im Satz zuvor der Wald mit anderen Attributen beschrieben wird: „Am Waldrand spielen Sonnenflecken auf den grauen Stämmen.“16 Aber die Dichte des Waldes ist über den gesamten Roman hinweg ein Gradmesser der Gefahr. Die Nähe der Front zeigt sich stets am Zustand des Waldes, bis hin zum „Niemandsland“. Und in Bertins Rede heißt es zuvor: „Und der Waldrand gäbe eine famose Stellung ab für Flakbatterien.“ Diese Funktion besitzt der Waldrand aufgrund seiner Dichte. Die nachstehende Beschreibung, „Am Waldrand spielen Sonnenflecken auf den grauen Stämmen“, formuliert der auktoriale Erzähler. Die „Dichte“ ist ihnen also gemeinsam. Wie aber soll der eine Wald den anderen erhellen? Dem dient der Komparativ des tertium comparationis: Der Wald vor Verdun war „dichter“, „ganz so“, „nur dichter“. Diese graduelle Differenz ist das einzige, was Bertin zu formulieren vermag, um den „Wald vor Verdun“ zu evozieren.

Nun könnte diese Differenzierung einerseits in der Tat den „Wald vor Verdun“ stärker veranschaulichen – andererseits könnte sie einen diffuseren Eindruck vermitteln, da sie die Deckungsgleichheit der beiden Wälder stört und, indirekt, das für Zweigs Werk wichtige Motiv der „Grenzziehung“ veranschaulicht: Der „dichtere“ Wald ist für Bertin der konkretere für sein Gegenüber hingegen das Gegenteilige: „‚Wenn du nur zurückgekommen bist aus diesen Wäldern‘“, entgegnet ihm seine Frau. Und weiter: „Heimlich fürchtet sie, es werde noch lange dauern, bis der Freund und Mann aus jenen Zauberwäldern und Gestrüppen in die Gegenwart zurückfindet, ins wirkliche Leben.“17 Daran wird deutlich, dass der Wald vor Verdun ihr das „Ungefähre“ ist, in dem ihr Mann psychisch verharrt, während sie ihn hier, vor dem hiesigen Wald vermisst: „Im Laufe des August war der Armierer Bertin in den verwüsteten Strichen heimisch geworden, die auf der Karte noch immer Fosses-Wald, Chaumes-Wald, Wavrille-Wald hießen.“18

Für Bertin hingegen bedeutet der „Wald vor Verdun“ die Bezugsgröße seiner jetzigen Existenz.

Es wird deutlich, dass jene Formulierung nicht genügt, um „seinen“ Wald sprachlich zu vermitteln. Ihm, „träumerisch“, genügt er. Offenkundig wird hier die Absenz der gelungenen sprachlichen Vermittlung vom Ich zum Du, des Dialogs. Bertin gelingt also ein seltsam diffuser, beinahe hilfloser Versuch der bildlichen Anschauung, der ihn für den Moment nicht unzufrieden sein lässt; seine Frau kann dabei nur als Stellvertreterin seines Ichs fungieren. Die Geste der körperlichen Anlehnung ist die des Ausruhens, seine sprachliche Geste die des Monologs. Martin Buber, auf den sich Zweig vielfältig bezog, würde sagen: „Der Mensch lebt im Geist [d.h., im Wort, N. D.], wenn er seinem Du zu antworten vermag.“19

„‚So […], ganz so, nur viel dichter sahen die Wälder vor Verdun aus, als wir hinkamen.‘“ Dem gegenübergestellt sei das Ende der titelgebenden Erzählung des zwischen 1914 und 1916 entstandenen Novellenzyklus „Gehirne“ von Gottfried Benn. Darin bilanziert der junge Arzt Rönne: „Ich wollte immer auffliegen wie ein Vogel aus der Schlucht; nun lebe ich außen im Kristall.“20 Beide Äußerungen, die Rönnes wie die Bertins, drücken eine Sehnsucht aus. Dieser Rönne, heißt es eingangs, „war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen ohne Besinnen durch seine Hände gegangen, und das hatte ihn in einer merkwürdigen und ungeklärten Weise erschöpft“.21

Der Schipper Bertin verlässt auf einem Munitionszug sitzend die Front. Während der Fahrt begegnen ihm die Schemen all derjenigen getöteten Soldaten, die ihm nahe standen: „Und dann Meter für Meter […], glitt der Zug zurück in die Vergangenheit, ins Abgelebte, und führte mit sich einen eingewickelten Menschen, der nicht mehr wusste, wann er wachte und wann er schlief, die Augen zwanghaft aufriß und wieder schloß.“22 – „Verdammt unheimlich blieb es, als Lebender von hier wegzufahren.“23 Es ist das Motiv der schmerzhaft aufgerissenen Augen, welches auch Rönne bezeichnet: „Ich habe keinen Halt mehr hinter den Augen.“24

In „Erziehung vor Verdun“ handelt ein Kapitel von dem – im Übrigen stark kurzsichtigen – Kriegsgerichtsrat Mertens, der sich angesichts des allgegenwärtigen Unrechts im Krieg selbst tötet, wobei der Prozess der Bewusstwerdung ins Schmerzlichste gesteigert ist: „Und seinen aufgerissenen Augen war es nicht mehr gegeben worden, sich zu schließen.“25 In diesem Schlüsselkapitel wird auch der Kunst gedacht und ihrer destruktiven Potenz – zum einen, da sie die Lüge kolportiere, „vor allem die Dichter, Denker, Schreiber: redend und durch die Zeitungen verbreiteten sie im Volke Betrug“,26 zum anderen, da sie, hier ie Gestalt der Musik Brahms’, Eskapismus ermögliche: „Diese Musik war die Welt noch einmal, nur besser, frei von den Fehlerquellen.“27

Gerade der Eskapismus aber ist die Kehrseite der Bewusstwerdung. Wenn Rönne sich, inspiriert durch seine Kunst des Sezierens, nun dem eigenen Gehirn zuwendet („Nun halte ich immer mein eigenes in meinen Händen und muß immer darnach forschen, was mit mir möglich sei. […] Was ist es denn mit den Gehirnen?“28), dann hat er „keine Macht mehr über den Raum“29: „Der Raum wogt so endlos; einst floß er doch auf eine Stelle.“30 Und für Bertin erhält bereits in „Junge Frau von 1914“ der Raum, hier während des Bades auf Fronturlaub, eine neue Dimension: „Ihm erschien es nicht winzig. Sachkundig sah er: man konnte hier zur Not vier Mann unterbringen. Besonders nach oben fand er den Raum vollkommen unausgenutzt.“31

Der Raum erhält also eine neue Bedeutung als strategisch genauestens zu gestaltender Ort der Entsprechungen, wie es sich auch am Motiv des Waldes („ganz so, nur viel dichter“) zeigt. Während des Spaziergangs in den Wald heißt es über Bertin: „Aber man darf ihm nicht widersprechen, er ist so reizbar jetzt; eigentlich gehörte er in ein Sanatorium, aber dagegen sträubt er sich nun einmal. Und so bleibt einer klugen Frau nur übrig, den Mann, den sie liebt, […] dieses wilde Herz, in den Wald zu begleiten.“32

Es scheint also nicht das erste Mal zu sein, dass Lenore ihren Mann in den Wald begleiten soll, in diesen für ihn einzig sicheren Ort: „Am Steilufer der Schlucht zeigen noch eine Anzahl heiler Bäume Sicherheit an.“33 Der Waldbestand ist das Symbol der Möglichkeit eines gelingenden Lebens, vor „Verdun“ – dem Symbol für die Grausamkeit des Krieges, der verwundeten, umgegrabenen Erde.34 Bertins ungefährer Vergleich ist symptomatisch, denn zu Beginn seiner Erziehung wäre ihm, dem Romancier und Gelegenheitsdichter, das bildliche Sprechen ein Bedürfnis, das Natürlichste gewesen: „Es ist wunderbar schön hier. Die Baumleichen sind schön, die weißen Trichter, das Kalkgestein, die scheußlichen Splitter der großen Kaliber.“35 Doch bald schon bleibt ihm das Wort im Hals stecken: ‚„Für wen machen wir das alle miteinander?‘ – Bertin blieb stehen, um zu verschnaufen; jede Antwort, die ihm durch den Kopf wehte, schien ihm unmöglich; an dieser Stelle schmeckte jedes Wort nach ranzigem Pathos.“36

Der Vergleich, der doch eigentlich den Sinn hat, jemandem etwas anschaulich zu machen, ist dem ehemaligen Soldaten Bertin im Jahre 1919 nicht mehr möglich. Meinte man zunächst, er wolle seiner Frau den Wald vor Verdun veranschaulichen, so ist es doch hier der vor ihnen liegende Wald, den er eigentlich versucht, sich selbst anzueignen. In dieser Umkehrung versucht Bertin also, Verdun so zu veranschaulichen und zu vermitteln, dass es als Bildspender fungieren kann. Diese Unentrinnbarkeit ist der Preis, den er für sein Kriegserlebnis und dessen „Erziehung“ zu zahlen hat.

Bertin versucht, einen ursprünglichen Sinnzusammenhang herzustellen innerhalb widerstreitender Größen, die sich nicht entsprechen können, so sehr er die Vergleichsebene auch bemüht. Der Wald vor Verdun dient ihm zur Bestimmung einer Gegenwart, die ihm traumhaft erscheint. Allein seine Frau scheint ihm die Notwendigkeit zu bedeuten, an dieser Gegenwart teilzunehmen und ein Bild zu finden, das ihn auch außerhalb des Waldes bestimmt sein lässt. Es handelt sich dabei um die Bemühung eines Schriftstellers, dem die Bildlichkeit verloren gegangen ist, gerade in der (Kriegs-)Erfahrung, die nun evoziert und vermittelt sein will: „Die Wahrheit lag zwischen diesen beiden Polen irgendwo, aber, wie ein Weiser verzeichnete, nicht in der Mitte.“37 Dies spricht für das dialektische Denken, aber gegen die Dialektik als Prinzip. Damit kann die „Wahrheit“ nur der Anlass, nicht das Ziel der versuchten Rekonstruktion eines Sinnzusammenhangs sein:

Was hatte der gescheite Sachse bemerkt, als die Franzosen schossen? „Wir“, hatte er gesagt, „wir sind vielleicht Äser.“ Wir: darin lag alles. Wer hatte sein Kochgeschirr einem Franzosen vor die durstigen Lippen gehalten – und recht damit getan? Und dann das hier …? Hoffnungslos, zur Wahrheit durchzudringen.38

Verdun – kein Vergleich – nur reine Absurdität: Der Wald ist eben die Dichte an Bäumen, und auch das eigene Gehirn lässt sich nur mittels seiner Teile bestimmen. Bertin ist ebenso wie Rönne der Subjekt-Objekt-Bezug verloren gegangen: „Immer enger zog ihn der Krieg an sich.“39

In Fritz von Unruhs Verdun-Roman „Opfergang“ von 1916 heißt es: „Sag mir, was das ist, was wir alle erkämpft und gewonnen? Ist mir’s doch, als müßte die Heimat dadurch ganz anders sein!“40 Dies korrespondiert mit Bertins Selbstbefragung: „Vor ein paar Stunden hat er oben gegen die Gewalt gestritten, und jetzt berauscht er sich an ihr. Gibt es denn das? Denkt er. Geht das zusammen?“41 Genau dies ist das Schock-Erlebnis. Zweig selbst spricht in seiner „Bilanz der deutschen Judenheit 1933“ von der „Wiedereinsetzung des Gewaltprinzips“ 1914:

In diesem Sinne erkennen wir zu allem Anfang: der Ursprung der heutigen Einstürze liegt in jenem Augenblick, als in das Leben Europas das Prinzip der Gewalt wiedereingesetzt wurde. Gleichsam rechtmäßig trat es auf und mit dem Anspruch, das einzige Mittel zur Lösung schwerer Streitfälle im Völkerleben zu sein: Einbruch des Krieges in die Welt von 1914.42

„Bertin hatte ähnliches nie auch nur geträumt.“43; „‚Dürfte ich mir leisten, so etwas zu erdichten? Und doch ist es wahr. Und wahr geht es weiter.‘“44

Vor dem psychischen Zusammenbruch gelingt es Bertin 1917 ein letztes Mal zu dichten, die „Kroysingnovelle“. Diesen Vorgang leitet Zweig unter der Kapitelüberschrift „Schreiben!“ ein und mit dem Satz: „Von jetzt an nehmen alle Dinge die scharfe Wirklichkeit von Traumbildern an, ihre festen Umrisse, ihre weich fließende Substanz.“45 Es wird Bertin und dem Leser im weiteren Verlauf nicht mehr klar werden, ob diese Novelle etwas taugt. Deutlich wird aber, dass das traumhafte Moment, das den Riss in der Wirklichkeit markiert, seitdem spricht. Für Zweig ist die Poesie der unvermeidliche „Fehler“, ihr gilt die ständige Revision.

Zweigs Sprache steht damit auf verblüffende Weise in der Tradition der Moderne. Das Motiv der beiden Wälder birgt die Potenz der Dissoziation, des Schreckens, des scheiternden Versuchs, zwei Realitäten miteinander zu vereinbaren. Doch die daraus resultierende gesteigerte Bewusstwerdung mündet bestenfalls in den, nach Baudelaire, schreckhaften Aufschrei des Künstlers, ehe er in einem Duell, dem Schaffensprozess, besiegt wird: „Dem Schrecken preisgegeben, ist es Baudelaire nicht fremd, selber Schrecken hervorzurufen“46, so Walter Benjamin.

Die deutsche Exilliteratur 1933 bis 1945

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