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III. „Mythischer Synkretismus“63 versus nationaler Mythos

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Thomas Mann setzt in seinem Roman „Joseph und seine Brüder“ gegen den irrationalen völkischen Mythos der Nationalsozialisten seine Idee eines Mythos, der sich aus unterschiedlichen Kulturkreisen speist, und das Ideal einer universalen „Menschheitsdichtung“64 vertritt. Sein Ziel war es, den „Mythos […] dem Faschismus aus den Händen“ zu nehmen „und bis in den letzten Winkel der Sprache hinein [zu, M. A.] humanisier[en]“.65 Diesen humanen Universalismus sah er bereits bei Goethe und in dessen Werk verwirklicht, und so wurde für Thomas Mann seine „Goethe-Imitatio, das bewußte In-den-Spuren-Gehen“, im Exil zur „durchgängige[n] Lebensstütze“.66 Thomas Manns Hinwendung zur deutschen Kultur im Exil ist somit zugleich eine Hinwendung zu einem „Weltdeutschtum“, zu einem Fremdes einbeziehenden und nicht ausgrenzenden Universalismus. Auch Joseph geht in Spuren und zieht hieraus Sinn und Kraft für seinen Lebensweg, aber er ist sich seiner imitatio genauso bewusst wie sein Schöpfer. In Joseph gestaltet Thomas Mann die gute, große Persönlichkeit, die als Künstler ein „Fest der Erzählung“67 veranstaltet. Und so verzahnt sich im Protagonisten des Romans die Idee eines großen Mannes, der die Fähigkeit zur Gestaltung und Abwandlung besitzt, mit der Idee der „Gottesklugheit“, die gegen die Barbarei gerichtet ist.

1 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 21. Aufl., Frankfurt a.M. 2013, S. 1.

2 Ebd., S. 72. „Gesittung“ ist auch im Werk Thomas Manns ein häufig verwendeter Begriff, vgl. etwa „Der Zauberberg“, GkFA 51, S. 746. Im „Joseph“ (GW IV und V) und in der Moses-Erzählung „Das Gesetz“ (GW VIII), die im Anschluss an die Tetralogie entsteht, wird die Frage nach den Bedingungen von „Gesittung“ dann zum prägenden Moment. Die Werke Thomas Manns werden, sofern nicht bereits in der GkFA erschienen, nach der Ausgabe: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Frankfurt a.M. 1960 zitiert. Alle weiteren Werke aus: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Frankfurt a. M. 2002f.

3 Vgl. Herbert Lehnert: Thomas Manns Vorstudien zur Josephstetralogie, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 7 (1963), S. 458–520, S. 465. Lehnert weist jedoch darauf hin, dass „[d]ie Anfänge der Beschäftigung mit dem Josephsstoff […]noch in die Zeit der Niederschrift des ‚Zauberbergs‘ zurück“ (S. 464) gehen.

4 Eckhard Heftrich: Joseph und seine Brüder, in: Thomas-Mann-Handbuch, hg. v. Helmut Koopmann, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 2005, S. 447–474, hier S. 467f.

5 GW XI, S. 48 („Pariser Rechenschaft“).

6 GW XIII, S. 669 („Die Wiedergeburt der Anständigkeit“).

7 Ebd., S. 672. Diese Äußerungen in den 1920er Jahren dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Thomas Mann nicht kontinuierlich gegen die aufkommenden Nationalsozialisten opponierte. Zwischen 1933 und 1936 stellte Mann seine öffentlichen Äußerungen diesbezüglich ein. Der „Protest der Richard Wagner Stadt München“ von 1933 als Reaktion auf Manns Rede „Leiden und Größe Richard Wagners“ und der Entzug des Ehrendoktortitels der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn 1936 veranlassten ihn schließlich dazu, öffentlich Stellung gegen Hitler zu beziehen. Zu den Gründen für das öffentliche Schweigen zwischen 1933 und 1936 vgl. Philipp Gut: Thomas Manns Idee einer Deutschen Kultur, Frankfurt a. M. 2008, S. 235f.

8 GW IV, S. 9.

9 GW IX, S. 495 („Freud und die Zukunft“).

10 Ebd.

11 Ebd., S. 497; Vgl. auch Jan Assmann: Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 6 (1993), S. 133–158.

12 GW XI, S. 666 („Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag“).

13 Vgl. Gut [Anm. 7], S. 242: „Die Notwendigkeit, die zivilisierte Welt zu verteidigen und ihr eine Existenz in der Zukunft zu ermöglichen, ging einher mit einer Rückbesinnung auf deren Fundamente.“

14 GW XI, S. 666 („Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag“).

15 Ebd., S. 668.

16 GkFA 5.1, S. 746 („Der Zauberberg“).

17 So etwa die Gewalt der Brüder gegen Joseph und das „Gemetzel“ der Brüder in der Stadt Schekem. Vgl. die Kapitel „Joseph wird in den Brunnen geworfen“ (GW IV, S. 554–566) und „Das Gemetzel“ (ebd., S. 180–185).

18 Vgl. ebd., S. 181: „Nur junge Leute von körperlichem Wert wurden zu Gefangenen gemacht, die übrigen erwürgt, und wenn es dabei über das bloße Töten hinaus grausam zuging, so ist den Würgern zugute zu halten, daß sie bei ihrem Tun nicht minder in poetischen Vorstellungen befangen waren als jene Unglücklichen; denn sie erblickten darin einen Drachenkampf, den Sieg Mardugs über Tiâmat, den Chaoswurm, und damit hingen die vielen Verstümmelungen zusammen, das Abschneiden vorzuweisender‘ Glieder, worin sie sich beim Morden mythisch ergingen.“

19 GW XIII, S. 747 („Deutsche Hörer!“).

20 GW XI, S. 670 („Sechzehn Jahre. Zur amerikanischen Ausgabe von ‚Joseph und seine Brüder‘ in einem Bande“). Zur Bedeutung des Exils im Spätwerk Thomas Manns siehe exemplarisch: Sybille Schneider-Philipp: Überall heimisch und nirgends. Thomas Mann – Spätwerk und Exil, Bonn 2001 und Thomas Blubacher: Paradies in schwerer Zeit. Künstler und Denker im Exil in Pacific Palisades und Umgebung, München 2011.

21„Der HERR ist mein Hirte;/mir wird nichts mangeln.//Er weidet mich auf grüner Aue/und führet mich zum frischen Wasser.//Er erquicket meine Seele;/er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.//Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,/fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir,/dein Stecken und dein Stab trösten mich.//Du bereitest vor mir einen Tisch/im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl/und schenkest mir voll ein.//Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang,/und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar.“ (Ps 23,1–6)

22 GW XI, S. 660 („Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag“).

23 Ebd., S. 662.

24 Vgl. Herbert Lehnert: Repräsentation und Zweifel. Thomas Manns Exilwerke und der deutsche Kulturbürger, in: Die deutsche Exilliteratur 1933–1945, hg. v. Manfred Durzak, Stuttgart 1973, S. 398–417.

25 Zit. n. Helmut Koopmann: Lotte in Amerika, Thomas Mann in Weimar. Erläuterungen zum Satz „Wo ich bin, ist die deutsche Kultur“, in: Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich, hg. v. Heinz Gockel [u.a.], Frankfurt a. M. 1993, S. 324–342. Der Ausspruch Manns findet sich zuerst in: New York Times, 22. Februar 1938; vgl. auch Heinrich Mann: Ein Zeitalter wird besichtigt, Frankfurt a. M. 1988, S. 236; vgl. ebenso Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 2012, S. 15.

26 Hans Wißkirchen: Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns „Zauberberg“ und „Doktor Faustus“, Bern 1986, S. 123 [Thomas-Mann-Studien 6].

27 Vgl. ebd., S. 144f.

28 Ebd., S. 144.

29 GW XII, S. 848 („Bruder Hitler“). Auch Hitler war für Thomas Mann ein „Lebensphänomen“ (ebd., S. 845), eine große Persönlichkeit, aber eben erneut auf der „Stufe der Verhunzung“ (ebd., S. 48). Als moralisch integre und große Persönlichkeit sah Thomas Mann den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Er nannte ihn den „große[n] Politiker des Guten“ (GW XI, S. 216; „Die Entstehung des ‚Doktor Faustus‘“).

30 Vgl. GW XII, S. 848 („Bruder Hitler“).

31 Vgl. ebd.

32 GW XII, S. 929 („Schicksal und Aufgabe“).

33 Vgl. Wißkirchen [Anm. 26], S. 146f.

34 GW XIII, S. 747 („Deutsche Hörer!“).

35 Vgl. Vaget [Anm. 25], Kapitel „Unterwegs in Amerika: From Sea to Shining Sea“, S. 219–266.

36 Vgl. GW IX, S. 499 („Freud und die Zukunft“); vgl. exemplarisch Helmut Koopmann: Zu Thomas Manns Goethe-Nachfolge. Orientierungsverlust und Imitatio, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch 17 (1999), S. 29–62.

37 Tagebuch, 14. März 1934 (Thomas Mann: Tagebücher 1933–1934, hg. v. Peter de Mendelssohn, Frankfurt a. M. 1977, S. 356); vgl. auch Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2005, S. 405.

38 Gut [Anm. 7], S. 234.

39 GkFA 9.1, S. 327 („Lotte in Weimar“). Ein weiterer Teil des inneren Monologs Goethes, der sich zugleich kritisch auf Thomas Manns eigene Gegenwart bezieht, sei hier zitiert: „Aber daß sie [die Deutschen, M. A.] die Klarheit hassen, ist nicht recht. Daß sie den Reiz der Wahrheit nicht kennen, ist zu beklagen, – daß ihnen Dunst und Rausch und all berserkerisches Unmaß so teuer, ist widerwärtig, – daß sie sich jedem verzückten Schurken gläubig hingeben, der ihr Niedrigstes aufruft, sie in ihren Lastern bestärkt und sie lehrt, Nationalität als Isolierung und Roheit zu begreifen, – daß sie sich immer erst groß und herrlich vorkommen, wenn all ihre Würde gründlich verspielt, und mit so hämischer Galle auf Die blicken, in denen die Fremden Deutschland sehn und ehren, ist miserabel.“ (Ebd.)

40 Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 6: Der Fall Wagner u.a., München 1988, S. 55–161, hier S. 151. Nietzsche sah Goethe denn auch nicht als „deutsches Ereigniss, sondern [als, M. A.] ein europäisches“. (Ebd.)

41 Vgl. Wißkirchen [Anm. 26], S. 151.

42 Ebd., S. 150.

43 Zum Phänomen des großen Mannes, siehe auch Nietzsche [Anm. 40], S. 145f.

44 Vgl. Vaget [Anm. 25], Kapitel: „Thomas Mann, Präsident Roosevelt und die Politik der Vereinigten Staaten“, S. 67–156 und Miriam Albracht: Joseph, Roosevelt, Obama. Der Ruf nach einem New Deal in Zeiten der Krise, in: literaturkritik.de, Mai 2009. (www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12888; letzter Zugriff: 7. Oktober 2014)

45 GW XI, S. 216 („Die Entstehung des Doktor Faustus“).

46 GW IX, S. 549f. („Schopenhauer“).

47 Ebd.

48 GW XI, S. 665 („Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag“): „‚Faust‘ ist ein Menschheitssymbol, und zu etwas dergleichen wollte mir unter den Händen die Josephsgeschichte werden.“ Vgl. auch Friedhelm Marx: „Ich aber sage Ihnen …“. Christusfigurationen im Werk Thomas Manns, Frankfurt a. M. 2002, S. 248f. Marx stellt hier dar, wie Thomas Mann der „virulenten Heroisierung und Germanisierung der Faust-Figur“ (ebd., S. 248) entgegenwirken wollte.

49 In diesem „Vorspiel“ ist ebenso eine Analogie zum Vorspiel von Richard Wagners „Götterdämmerung“ zu sehen, in welcher sich die Nornen, ähnlich den Engeln bei Thomas Mann, darüber unterhalten, warum die Welt so schlecht ist, wie sie eben ist. Vgl. auch GW XI, S. 677 („Sechzehn Jahre“): „Es ist wahr, meine Art, den Mythos zu traktieren, stand im Grunde der Humoristik von Goethe’s ‚Klassischer Walpurgisnacht‘ näher als Wagner’schem Pathos; aber der unerwartete Entwicklungsweg, den die Erzählung von Joseph eingeschlagen, war insgeheim gewiß doch auch immer von der Erinnerung an Wagners grandiosen Motivbau bestimmt, eine Nachfolge dieses Sinnes gewesen.“ Vgl. auch Dieter Borchmeyer: „Kulissengeschiebe“ – Thomas Manns „Joseph und seine Brüder“ und Richard Wagners „Ring des Nibelungen“: eine Kontrafaktur, in: wagnerspectrum 2 (2011), S. 95–113.

50 Mit seinem „Vorspiel“ zu Beginn des vierten Bandes knüpft Thomas Mann zugleich an den ersten Band seiner Tetralogie an, der ebenfalls mit einem Vorspiel, der „Höllenfahrt“, beginnt, die den Leser auf eine Reise zu den Anfängen der stofflichen Welt führt. Die Schöpfung der Welt, „die wesentlich auf Scheidung beruhte, auch gleich mit der Scheidung von Licht und Finsternis begonnen hatte“ (GW V, S. 1281), wird hier noch einmal skizziert und erinnert an Goethes Gedicht „Wiederfinden“ aus dem „West-östlichen Divan“: „Auf that sich das Licht. So trennte Scheu/sich Finsternis von ihm,/Und sogleich die Elemente/Scheidend auseinander fliehn.“ (Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan, in: ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe, hg. v. Friedmar Apel [u.a.], Bd. 3/I, Frankfurt a.M. 1994, S. 399).

51 Vgl. GW XI, S. 666.

52 Wißkirchen [Anm. 26], S. 157.

53 Ebd., S. 153; Vgl. auch Nietzsche [Anm. 40], S. 151: Goethe „löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Totalität“.

54 Wißkirchen [Anm. 26], S. 157.

55 GW V, S. 1005.

56 In diesem Sinne, als einen „vor sich selber ehrfürchtigen Menschen“, sah auch Nietzsche Goethe (Nietzsche [Anm. 40], S. 151).

57 GW V, S. 1590.

58 GkFA 9.1, S. 444f. („Lotte in Weimar“).

59 GW V, S. 1745.

60 GW V, S. 1499.

61 Ebd. [Hervorhebung, M. A.].

62 Vgl. Herbert Lehnert: Der sozialistische Narziß. „Joseph und seine Brüder“, in: Thomas Mann. Romane und Erzählungen, hg. v. Volkmar Hansen, Stuttgart 1993, S. 186–227.

63 Gerhard von Rad: Biblische Josephserzählung und Josephsroman, in: Joseph. Bilder und Gedanken zu dem Roman „Joseph und seine Brüder“ von Thomas Mann, hg. v. Gisela Röhn, Hamburg 1975, S. 141–149, hier S. 146.

64 GW XI, S. 658 („Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag“).

65 Ebd.

66 Wißkirchen [Anm. 26], S. 145.

67 GW IV, S. 54.

Die deutsche Exilliteratur 1933 bis 1945

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