Читать книгу Die deutsche Exilliteratur 1933 bis 1945 - Группа авторов - Страница 22
III. Biographisches Narrativ und Erzähler
ОглавлениеDas biographische Narrativ, das Heinrich Mann in der Figur des französischen Königs Heinrich von Navarra (1553 bis 1610) zum Gegenstand seines Doppelromans macht, steht zudem im Widerspruch zu den theoretischen Reflexionen, die den Gattungsdiskurs des historischen Romans seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland bestimmt haben. So konstatiert der Philosoph und Literaturwissenschaftler Friedrich Theodor Vischer in seiner 1846 erstveröffentlichten „Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen“, dass das „große Schicksal der Völker und das Bild der politischen Charaktere“ lediglich „Hintergrund und Mittelgrund bleiben“ und dass „der Romanheld im Vordergrund“ nicht „historisch bedeutend sein“ dürfe, weil der „Roman einmal das Allgemeine, genreartig Namenlose des Privatlebens, das rein Menschliche der Persönlichkeit zum Inhalt“ habe.14 Das historische Geschehen, das bei Heinrich Mann erzählerisch reflektiert wird – womit der Schriftsteller sein Werk auch zu einem Beitrag zu jener Debatte über das Verhältnis von epischer Erzählung und Geschichtsschreibung macht, die seit der „Poetik“ des Aristoteles in der abendländischen Dichtungstheorie geführt worden ist – steht jedoch keineswegs im Zentrum des Romans. Mann entfaltet kein Panorama der französischen Geschichte des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, sondern wählt für seinen Roman die biographische Form: Der Lebensweg des Königs, beginnend mit seiner Herkunft aus Pau in der Gascogne, am Fuße der französischen Pyrenäen, und endend mit seinem ebenso gewaltsamen wie rätselhaften Tod in Paris, bildet stattdessen den „Leitfaden der Erzählung“ und ihren Gegenstand.15 Das Zeitalter der Glaubenskriege dient lediglich als Hintergrund der sich entwickelnden Lebensgeschichte des Helden. Die Bedeutung dieses Entwicklungsgedankens ist bereits in den Titeln der beiden Teile des Romans „Die Jugend des Königs Henri Quatre“ und „Die Vollendung des Königs Henri Quatre“ angelegt und wird zudem durch die sorgsam psychologisierende, auf das Individuum sich konzentrierende Erzählweise hervorgehoben.
Zum einen hat die Fokussierung der wirkungsgeschichtlichen Debatten auf das Genre des historischen Romans, die bereits unter den deutschen Schriftstellern im Exil zu beobachten ist, die psychologische Dimension, die den Text in die Tradition des Entwicklungsromans einreiht, überlagert. Zum anderen aber ist die Erzähl(er)haltung wesentlich so angelegt, diesen Aspekt des Werkes zu überblenden: Wenngleich der Erzähler im Sinne einer auktorialen Perspektive einen gesamten Überblick über das Geschehen hat, Handlungen und Figurenreden direkt wie indirekt einordnet und sowohl das Vergangene als auch das Zukünftige im Prozess des Erzählens in Analepsen und Prolepsen reflektiert, wahrt er eine unüberbrückbare Distanz zu dem Geschehen, von dem er berichtet.16 So werden zwar die Gedanken und Stimmungen, die Gefühle und Motivationen Heinrichs sowie anderer Figuren dargestellt, indem aber die Sprache expressiver Emphasen und Wendungen entkleidet ist und auf eine metaphorische Dimension verzichtet, indem die Entwicklungen, Ereignisse, Begegnungen und Gespräche in großer Ausführlichkeit geschildert werden, indem eine bildhafte, szenische Erzählform Verwendung findet, die von monologischen Momenten geprägt ist, gewinnt die Darstellungsweise eine Statik und serielle Gleichförmigkeit, die, weil sie die Erzählverfahren hagiographischer Texte zitiert, mit dem exemplarischen Gehalt des Erzählten korrespondiert.
Obwohl der Roman die innere Befindlichkeit der Figuren thematisiert und nicht bei ihrer äußeren Haltung verharrt, obwohl er das Individuelle herausarbeitet und nicht das Typische im Sinne ethopoetischer Definitionsskizzen, besteht das Werk aus einer Abfolge einzelner Sequenzen, die an jene fortlaufenden Wandbilder in den Kirchen des frühen Mittelalters erinnern, auf denen die biblische Geschichte erzählt wird. Die Tableaus, die auf diese Weise entstehen, stellen ebenfalls das Beispielhafte der Handlung heraus. Die „Henri-Quatre“-Romane können deshalb auf Anachronismen als Verfahren historischen Erzählens verzichten, die seit dem 19. Jahrhundert zum Repertoire der Gattung gehören, weil die Hervorhebung eines Archaischen, Überzeitlichen mit Hilfe dieser alternativen Erzählstrategien gelingt.
Das Paradoxe an der zur Legende erhöhten Lebensgeschichte des guten Königs, wie Heinrich Mann sie erzählt, ist die Tatsache, dass es sich um einen historischen Roman handelt, der das Wesen des Historischen leugnet. Das Werk unternimmt nicht den Versuch, die Gestalt eines geschichtlichen Herrschers mit den Mitteln und Möglichkeiten des Fiktiven zu ergründen, seine Antriebskräfte bloßzulegen und die Umstände seines Handelns begreifbar zu machen. Indem von einem lange vergangenen, aber beispielhaften Leben erzählt wird, thematisiert es vielmehr das Paradigmatische und Überzeitlich-Allgemeingültige des Geschehens.
Wenngleich der Roman solchermaßen durch Analogien auf die Gegenwart verweist, ist er jedoch nicht als Beitrag zu den geschichtsphilosophischen Diskursen zu lesen, welche die deutsche Literatur seit der Romantik geführt hat. Denn obwohl die Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart für eine Revision des optimistischen Glaubens an die Perfektibilität des Menschen im historischen Prozess sprechen, beharrt das Werk in der Nachfolge der französischen Aufklärung auf der Hoffnung, dass die kritische Reflexion über die Vergangenheit die Selbstermächtigung der menschlichen Vernunft in der Gegenwart befördern möge. Explizit wird diese Intentionalität auch in der Selbstdeutung des Romans, die Heinrich Mann 1939 in der Exilzeitschrift „Internationale Literatur“ veröffentlicht hat. Die Geschichte Frankreichs und Deutschlands einander paradigmatisch gegenüber stellend, heißt es in dem Aufsatz:
Die Deutschen haben in ihrem „Dritten Reich“ die Erlaubnis nicht, die beiden Romane von der „Jugend“ und der „Vollendung“ des französischen Königs zu lesen, sonst sollten die Romane ihnen sagen: Gebt euch nicht voreilig hin! Hier hat einer lange dienen und sich vor seinem Volk bewähren müssen, bis es ihn anerkannte als seinesgleichen – gewiß hinausgeschoben über andere, aber bescheiden und stolz genug, um für sie arbeiten zu wollen, nur insofern auch für sich, was ein Merkmal der wahren Größe ist. Falsche Größen arbeiten für sich allein, sie opfern die Völker ihrem unanständigen Gelüst und leeren Wahn. Das Volk von Frankreich hat während der Herrschaft seines Königs Henri einige Duldsamkeit der Meinungen in sich ausgebildet mitsamt dem Sinn für Gerechtigkeit und Freiheitsliebe. Die Anlagen brachte es wohl mit, seine spätere Geschichte ist von ihren Wirkungen voll.17