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Arnold Zweig „Erziehung vor Verdun“ (1935) I.

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„Arnold Zweig has become an embarrassment to literary historians and critics“1 – diese Einschätzung eines Literaturwissenschaftlers zu Beginn der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts verweist insbesondere auf die damalige Ignoranz der westdeutschen Germanistik gegenüber dem 1948 aus dem Exil in Palästina nach Ostberlin zurückgekehrten Arnold Zweig, dessen Roman „Streit um den Sergeanten Grischa“ (1927) in der Deutschen Demokratischen Republik derweil zur Schullektüre avancierte.

Erst gegen Ende der 1980er Jahre öffnete sich die westdeutsche Germanistik gegenüber dem umfangreichen Werk Zweigs – wobei bis heute der „Grischa“-Roman den Hauptbezugspunkt der Forschung bildet. Und so ist es um die Arnold-Zweig-Forschung zwar nicht zum Schlechtesten bestellt, jedoch wird der Autor bis in die Gegenwart hinein nicht selten mit „Etiketten“ belegt. Zweig: der preußische Jude, Zionist, Freudianer, Nietzscheaner, Pazifist und–natürlich–Marxist. Selbst wenn man Detlev Claussen in seiner Auffassung, es handle sich bei jenen „Etiketten“ um die Unart, „post mortem Individuen an einer normativen Common-sense-Identität der Gegenwart zu messen“,2 nicht zustimmen mag, so möchte man doch folgenden Satz in Zweigs Roman „Erziehung von Verdun“, 1935 im palästinischen Exil verfasst, bedenken: „Solange man lebt, ist nichts endgültig.“3

Damit ist ein Prinzip genannt, welches Zweigs Werk kennzeichnet, sich nämlich „auf die volle Dialektik der geschilderten Vorgänge“4 einzulassen: „Die erzählerische Haltung, die das ‚Recht‘ jeweils auf der Seite derjenigen sein läßt, die gerade reden, teilt Zweig.“5 Diese poetologische Konsequenz zeigt sich in Zweigs Romanzyklus „Der große Krieg der weißen Männer“, der den Ersten Weltkrieg von allen Seiten beleuchtet, ohne dass die Figuren dabei je zur Ruhe kämen: „Hilft mir das Gesetz meines Lebens, alt zu werden, so soll es mir nicht schwer sein, immer wieder das Geschaffene zu verneinen und am Ideal der wahren und großen Leistung zu messen.“6

Wechseln auch die Hauptpersonen, so hält Zweig doch fest an der stark autobiographisch gefärbten Figur des jungen jüdischen Schriftstellers Werner Bertin, an dem die „Erziehung vor Verdun“ nicht spurlos vorübergehen wird und den Zweig als Protagonisten stets von Neuem überprüft. Diese Verneinung einer Endgültigkeit und ihre Beharrlichkeit wird in Anbetracht der Werkgenese zunehmend deutlich: Der nichtlinearen Arbeitsweise Zweigs entsprechend stimmt die Reihenfolge der Entstehung der einzelnen Bände teilweise nicht mit der Chronologie der darin geschilderten Ereignisse überein. So erfolgt die Revision des Romans jeweils durch ein weiteres Werk, welches aus dem vorhergehenden Funken schlägt, zumal im Exil: „‚Aber wo steckt der Fehler?‘“, fragt der Soldat Bertin einen Kameraden: „‚Irgendwo klafft da was, das behoben werden muß, damit unser Weltbild nicht in die Brüche gehe.‘“7 Und ihm wird geantwortet: „‚Ja, warum sollte es denn nicht in die Brüche gehen […] das kostbare Weltbildchen? […]nur das Ihre ist zu schade, nicht wahr, das der Herren Schriftsteller und Propheten.‘“8

Insofern verwundert es, dass „Erziehung vor Verdun“ nicht unter dem Gesichtspunkt eines Künstlerromans gelesen wurde, was auch daran liegen mag, dass Zweig seinem Freund Lion Feuchtwanger 1934 zum Konzept seines Romans schrieb:

im Grunde genommen versuche ich zu gestalten, was wir selber erlebt haben und was an uns geschehen ist, und die Gefahr bleibt, auf die ich sehr genau achte, nicht zu sehr von heute zu erzählen und das Jahr 1916 nur als Maske zu benutzen. Ich muß konkret von damals erzählen, was mir keinerlei Mühe macht, und nur zeigen, was ja wahr ist, dass das Heute damals im Keim bereits versuchte, uns zu unterwerfen, auszumerzen, zu vernichten.9

Allerdings scheint Zweig sich an dieser Stelle ein wenig selbst zu widersprechen: Er will von heute „nicht zu sehr“ erzählen und zugleich soll 1916 nur „als Maske“ dienen – ein solches Vorgehen sieht man jedoch textimmanent verwirklicht in Alexander Lernet-Holenias Roman „Mars im Widder“ von 1939, und zwar in der Rede des im Zweiten Weltkrieg dienenden Protagonisten, für dessen Erfahrungen der Erste Weltkrieg stets die Hintergrundfolie bildet:

So, dachte er, die Schrapnellwolken sind jetzt schwarz, früher waren sie weiß oder pfirsichblütenfarben gewesen. Aber man erklärte ihm, es gebe keine Schrapnells mehr. Es sei ein Richtschuß gewesen. Es gebe nur noch Granaten. Und in der Tat war die Wolke ein wenig anders geformt.10

Zweigs Roman „Junge Frau von 1914“, 1931 erschienen, schildert die Einberufung des jungen jüdischen, bereits erfolgreichen Schriftstellers Werner Bertin 1915 in ein Armierungsbataillon. Voller Idealismus, den Krieg als „Bildungserlebnis“ ersehnend, meldet er sich freiwillig an die Westfront. Von hier an schildert der Roman „Erziehung vor Verdun“ die weitere Entwicklung Bertins. Dieser freundet sich mit einem jungen Leutnant, Christoph Kroysing, an, der kurz darauf umkommt. Bertin und der Bruder des Getöteten erkennen bald, dass es sich um vorsätzlichen Mord handelt: Kroysing hatte sich an oberster Stelle über Verfehlungen seiner Vorgesetzten beklagt und eine kriegsgerichtliche Untersuchung eingefordert; in der Folge wurde er von den Beschuldigten an einen besonders gefährlichen Abschnitt der Front verschickt, in der berechtigten Hoffnung, das Problem löse sich, mit Hilfe der Franzosen, bald von selbst. Indem Bertin mit versucht, dieses Verbrechen ans Licht zu bringen, gerät er selbst in den Fokus seiner Vorgesetzten, die ihm fortan schaden wollen. Bertin muss erkennen, dass im Heer, welches ein Abbild der wilhelminischen Gesellschaft darstellt, Günstlingswirtschaft, Intrige, Antisemitismus herrschen. Bald heißt es: „Mir aber sind die Augen aufgerissen.“11

Dies ist ein Teil der titelgebenden „Erziehung“: „Und damit [mit dem Kriegsdienst, N. D.] begann die heilsam-bittere Zeit des Nachlernens, des Nachholens eines befremdlichen Schulkurses.“12 „[H]eilsam“, da jene Erziehung vor den Mauern Verduns zugleich die Erziehung, die zeitlich vor Verdun lag, zunichtemacht: die Erziehung zu wehrtüchtigen, herrschaftsgläubigen Menschen; „bitter[]“, da erst der bürgerliche Idealismus, dann die wilhelminische Erziehung zwar dekonstruiert werden, das sich hieraus ergebende Bewusstsein aber wiederum erschütternd wirkt („Wie kam er eigentlich dazu, diese Wahrheit zu sehen? Sie tat ja weh! Sie nahm einem ja die Kraft, das Leben zu ertragen […].“)13

Zweig ironisiert damit die Idee des Bildungsromans und stellt diese Ironisierung wiederum in den Dienst des Romans als eines Künstlerromans, für den die Rechenschaft über konstruktive oder destruktive Lebenseinflüsse im Dienste der poetologischen Beweisführung steht, nicht in dem eines gelingenden Lebens.

Die deutsche Exilliteratur 1933 bis 1945

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