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ОглавлениеThink Lab 1: Die Zukunft unseres Gesundheitswesens
Robert Bosch Stiftung & Hertie School
Unser Gesundheitssystem steht vor immensen Herausforderungen. Es ist noch zu wenig auf den Menschen und seine Gesundheit, auf Prävention, Gesundheitsförderung und die Stabilisierung chronischer Krankheitsverläufe ausgerichtet.
Es fördert Effekte, die als Fehlallokationen und als Substanzverlust im Handeln der Gesundheitsberufe zunehmend offenbarer werden. Unter sich verändernden Rahmenbedingungen sind weiterhin Fragen der Ethik, Finanzierbarkeit, Effizienzsteigerung und Qualitätsverbesserung zu lösen. Auch die mangelnden Antworten auf die Digitalisierung, das Stadt-Land-Gefälle, den Fachkräftemangel sowie die erheblich steigende Zahl von alten Menschen in den kommenden Jahrzehnten zeigen, dass die Verfasstheit des Gesundheitssystems den Anforderungen zunehmend weniger gerecht wird.
Wie ein Neustart gelingen kann:
Selbstbestimmung fördern. Wir wollen die Gesundheits- und Digitalkompetenz von Bürgern frühestmöglich und kontinuierlich stärken, damit sie ihre Situation als Patienten selbstbestimmt gestalten können. Wir wollen Sicherheit und Vertrauen in eine gute Gesundheitsversorgung für Menschen mit Einschränkungen in der Selbstbestimmung.
Rahmenbedingungen modernisieren. Wir regen an, die Kodifizierung der Sozialgesetzgebung und das Versicherungssystem zu überarbeiten. Finanzierung und Vergütung im System sollen Gesundheit, Qualität und angemessene Versorgung befördern.
Übergreifend und regional planen. Wir benötigen eine kontinuierliche, populationsorientierte und flexible Planung von Bedarfen und Kapazitäten, die auch den regionalen Anforderungen gerecht wird. Daher und für bedarfsgerechtes Handeln vor Ort befürworten wir die Einrichtung von Gesundheits- und Versorgungsregionen.
Ineinandergreifende Versorgungsstrukturen etablieren. Wohnort-nahe Gesundheitszentren übernehmen die Primärversorgung und lotsen ihre Patienten durch ein System exzellenter Spezialversorgung. Die Notfallversorgung erfolgt flächendeckend, Krankenhauskapazitäten stehen bedarfsgerecht und in hoher Qualität zur Verfügung. Aufgaben der fachärztlichen Versorgung sind neu aufgestellt.
Gesundheitsberufe weiterentwickeln. Wir setzen auf Beschäftigte, die in multiprofessionellen Teams zusammenarbeiten und ihre Patienten kompetent behandeln und begleiten, wertschätzend kommunizieren und selbstbestimmte Entscheidungen fördern. Bei Menschen mit Einschränkungen in der Selbstbestimmung vertreten sie deren Interesse nach bestem Wissen.
Potenziale der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz nutzen. Wir wollen den Nutzen, die Sicherheit und die ethischen Dimensionen technologischer Innovationen durchdenken, mit geprüften Anwendungen Bürger unterstützen und Versorgungsprozesse verbessern. Gesundheitsberufe nutzen digitale sowie technologische Entwicklungen zum Wohle ihrer Patienten und für eine verbesserte Versorgung.
Wie wir Gesundheit für unsere Gesellschaft verstehen
Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters zu gewährleisten und ihr Wohlergehen zu fördern, bildet das Fundament. Das entspricht dem Ziel 3 „Gute Gesundheit und Wohlergehen“ der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Es erfordert Anstrengungen aller Politikbereiche, der Verwaltung und der ganzen Gesellschaft.
Unser Gesundheitsverständnis beinhaltet
1. Gesundheit zu erhalten,
2. Gesundheit bestmöglich wiederherzustellen,
3. mit Krankheit und Behinderung so gut wie möglich zu leben.
Eine wahrhafte Gesundheitspolitik setzt entsprechend die Prioritäten.
Gesundheit ist wie Bildung und Wirtschaft ein wichtiger Standortfaktor sowie Teil der Daseinsvorsorge und Gegenstand sozialer Sicherung. Wir sehen uns den grundlegenden Werthaltungen des Sozialstaats verpflichtet und unterstützen ein Staatsverständnis, das die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse im ländlichen und städtischen Raum beinhaltet.
Angesichts der erheblichen Einflüsse sozialer Determinanten auf Gesundheit – wie beispielsweise Bildung, Armut, Wohnverhältnisse – sprechen wir uns klar für eine Verringerung sozialer Ungleichheit und für die Ermöglichung von Chancengleichheit aus.
Der Mensch und sein Gesundheitsinteresse als Richtschnur des Handelns
In Bezug auf ihre Gesundheit haben die Menschen als Bürger, Patient, Nutzer oder Konsument eine souveräne, selbstbestimmte und mitgestaltende Rolle. Sie werden darin gestärkt – durch die professionellen Helfer, die Gestaltung der Versorgungsstrukturen und die technologischen Möglichkeiten durch Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Als Patienten sind sie Experten in eigener Sache.
Menschen, die die selbstbestimmte Rolle nicht umfänglich wahrnehmen können oder wollen, dürfen dennoch auf bedarfsgerechte, qualitativ hochwertige und würdevolle Versorgung vertrauen.
Wie wir das System auf Gesundheit ausrichten sollten
Wir wollen den Stellenwert von Public Health stärken, um die Gesundheit von Gruppen und Populationen zu sichern. Prävention und Gesundheitsförderung sollen in den Vordergrund treten und auf der kommunalen Ebene verankert werden. Auf gesunde Lebensumwelten soll hingewirkt und für unsere Bevölkerung besonders wichtige Ziele verfolgt werden, wie z.B. gesunde Ernährung und mehr Bewegung.
Wir wollen ein leistungsfähiges, an Evidenz ausgerichtetes Gesundheitssystem. Die Leistungsfähigkeit bestimmt sich aus Zugänglichkeit, Wirksamkeit, Qualität, Vermeidung von Fehl- und Überversorgung, Wirtschaftlichkeit, Sicherheit, Transparenz und einer flexiblen Governance, die erforderliche Anpassungen des Systems besser und rascher ermöglicht.
Wir wollen den Patienten in das Zentrum des Gesundheitssystems stellen. Dafür wollen wir uns an seinen Bedürfnissen und Präferenzen orientieren, Barrieren für seine Beteiligung beseitigen und ihn motivieren, befähigen und unterstützen, eine aktive Rolle einzunehmen.
Wir wollen, dass sich unser Gesundheitssystem auf das Krankheitsspektrum und die demografische Situation unserer Bevölkerung ausrichtet, das heißt wesentlich auf die Bedarfe der Menschen, insbesondere auch chronisch kranker, häufig multimorbider, und älterer Menschen. Ausdrücklich erkennen wir die Bedeutung von guter Pflege an.
Wir wollen die Potenziale der Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz und deren bestmögliche Umsetzung für die Gesundheit der Menschen nutzen. Sorgfältig validierte digitale Anwendungen sollen die Selbstbestimmung des Bürgers bzw. Patienten unterstützen, notwendige Daten für eine starke Public Health und für die Bewertung der Leistungsfähigkeit des Systems liefern, sowie Therapien verbessern und effiziente Versorgungsprozesse ermöglichen. Wir wollen in der Datennutzung für Sicherheit der Bürger bzw. Patienten sorgen und lehnen individuelle Überwachung ab.
Wie uns die Ausrichtung auf Gesundheit gelingen kann
Um die zuvor genannten Ziele zu erreichen, benötigen wir:
ein gesellschaftliches und politisches Bekenntnis zum Stellenwert der Gesundheit, damit der Ansatz „Gesundheit in allen Politikbereichen“ („Health in All Policies“) eine Chance auf Verwirklichung hat. Dies ist u.a. erforderlich, um die Patientenrechte zu stärken und die Gesundheitskompetenz der Bürger zu verbessern, um eine wirksame Verhältnis- und Verhaltensprävention zu erzielen und Gesundheitsfragen mit anderen gesellschaftlichen Bereichen zu verbinden, sowie die Community-Perspektive zu stärken.
eine gesamthafte, populationsorientierte sowie kontinuierliche Bedarfs- und Kapazitätsplanung mit flexibler regionaler Ausprägung.
ein komplett überholtes Versicherungssystem und eine Neukodifizierung der Sozialgesetzgebung.
ein entsprechend den Zielsetzungen verändertes Finanzierungs- und Vergütungssystem sowie Klarheit, in welchem Ausmaß und in welchen Bereichen Marktmechanismen der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems zugutekommen.
eine Neuordnung der Gesundheitsversorgung mit starker Primär- und exzellenter Spezialversorgung. Wohnortnahe Gesundheitszentren, die Konzepten umfassender Versorgung aus einer Hand folgen, bieten für eine Region die Primärversorgung an. Ihre multiprofessionellen Teams integrieren für die Menschen vor Ort gesundheitsfördernde, präventive, kurative, pflegerische, rehabilitative und palliative Maßnahmen. Sie sind gut vernetzt mit der Spezialversorgung und Langzeitpflege und übernehmen die koordinierende Begleitung des Patienten auf seinem Weg durch das Gesundheitssystem.
eine flächendeckende Notfallversorgung, eine Anpassung der Krankenhauskapazitäten an den tatsächlichen Bedarf und an qualitativ hochwertige Versorgung, eine neue Aufgabenverteilung in der fachärztlichen Versorgung und eine qualitativ hochwertige und den Bedarfen der Menschen gerecht werdende Pflege.
eine Etablierung von Gesundheits- und Versorgungsregionen mit regionaler Bedarfsbestimmung und guter kommunaler Einbindung und Verzahnung von Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung mit individueller medizinisch-pflegerischer Versorgung
wirksame Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheits- und Digitalkompetenz von Bürgern und Patienten sowie der Gesundheitsberufe.
Gesundheitsberufe, die die Autonomie und Selbstbestimmung ihrer Klienten und Patienten vollumfänglich unterstützen und sich an ihrer subjektiven Sichtweise ausrichten. Dies wird sichtbar in einer partnerschaftlichen Interaktion, in hoher Beratungskompetenz und wertschätzender Kommunikation. Bei Menschen mit Einschränkungen der Autonomie und Selbstbestimmung schützen und vertreten sie deren Interessen nach bestem Wissen.
Gesundheitsberufe, die gemeinsam als multiprofessionelles Team an der Erreichung der Ziele ihrer Patienten arbeiten, dabei die Situation ihrer Patienten umfänglich und vorausschauend wahrnehmen und in chronischen Krankheitsverläufen vernetzt planen und agieren. Ihre jeweiligen Beiträge in der Versorgungskette werden gesellschaftlich anerkannt.
Gesundheitsberufe, die sich in einer zunehmend digitalisierten und in Teilbereichen hoch technologisierten Gesundheitsversorgung stetig und rasch in Richtung verbesserter Versorgung weiterentwickeln können.
Strukturen, die den Nutzen technologischer Innovationen wie die der Künstlichen Intelligenz und innovativen Therapieverfahren analysieren, die Reflexion ihrer ethischen Dimensionen ermöglichen, für Transparenz und Sicherheit in der Funktionalität sorgen und sodann zügige Anwendung ermöglichen.
Expertinnen und Experten des 1. Think Lab
Prof. Dr. Reinhard Busse
Prof. Dr. Tobias Esch
Prof. Dr. Detlev Ganten
Dr. Martin Hirsch
Prof. Dr. Dr. Ilona Kickbusch
Franz Knieps
Dr. Nadine Reibling
Thomas Reumann
Monika Rimmele
Dr. Gottfried Roller
Prof. Dr. Doris Schaeffer
Prof. Dr. Hans-Fred Weiser
Prof. Dr. Claus Wendt
Dr. Matthias Zuchowski
Für die Hertie School:
Prof. Dr. Dr. Klaus Hurrelmann