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«Doch die Gesetze des Lebens sind nun einmal stärker als menschliche Paragraphen»1 Charlotte Schallié und Agnes Hirschi

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«Im Frühjahr 1944, während der unbarmherzigsten Schreckensherrschaft, fand sich ein Mensch, ein Schweizer Diplomat, der sich über alle Vorschriften (sowohl der Schweiz als auch Amerikas) hinwegsetzte, der seinen Diensteid verletzte, um einem Mitmenschen zu helfen.» 2

Dieses Buch zeichnet aus der Sicht von Geretteten und Widerstandskämpfern die Rettungsaktivitäten des Schweizer Diplomaten Carl Lutz während des Zweiten Weltkriegs in Budapest nach.

Carl Robert Lutz (1895–1975) war von Januar 1942 bis März 1945 Vizekonsul und Leiter der Abteilung «Fremde Interessen der Schweizer Gesandtschaft» in Budapest. Zu seinen Aufgaben gehörte, die Schutzmacht-Interessen von vierzehn kriegführenden Staaten in Ungarn zu repräsentieren – unter anderem jene der USA und Grossbritanniens. In dieser Funktion führte Lutz bereits zu Beginn seiner Amtszeit Verhandlungen mit den ungarischen Behörden und erwirkte, dass 10 000 Palästina-Zertifikate 3 für jüdische Kinder und Jugendliche ausgestellt wurden, womit er ihnen die Auswanderung in das britische Mandatsgebiet Palästina ermöglichte. Diese erfolgreichen Verhandlungserfahrungen in Budapest waren wegweisend für den Verlauf von Lutz’ Rettungsaktion, die er nach dem Einmarsch der Wehrmacht am 19. März 1944 auf eigene Initiative in die Wege leitete. Im Anschluss an die Besetzung Ungarns wurde die jüdische Bevölkerung – mit Ausnahme der Juden und Jüdinnen in der Hauptstadt – in weniger als zwei Monaten in Ghettos verschleppt und von dort nach Auschwitz-Birkenau und in andere Vernichtungslager deportiert und ermordet. Obwohl die Deportationen im Juli 1944 weitgehend eingestellt wurden, waren die Jüdinnen und Juden in Budapest weiterhin der Gefahr von Angriffen, Erschiessungen und Todesmärschen ausgesetzt. Carl Lutz, der über den Verlauf der Deportationen informiert war, entschloss sich, umgehend zu handeln. Nach wochenlangen Verhandlungen mit dem Reichsbevollmächtigten für Ungarn, SS-Brigadeführer Edmund Veesenmayer, und SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann erreichte Lutz, dass er das, von Grossbritannien bereits bewilligte, Kontingent von 7800 Palästina-Zertifikaten an jüdische Schutzsuchende ausstellen durfte.4 Da eine Auswanderung zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich war, war Carl Lutz’ Rettungscoup einzig darauf ausgerichtet, die jüdischen Verfolgten in Budapest vor den Erschiessungen, Todesmärschen und vorangetriebenen Abtransporten in die Sammellager zu bewahren. Zu diesem Zweck entwickelte er auf eigene Verantwortung eine Rettungsstrategie, die darauf abzielte, für alle Inhaber der Palästina-Zertifikate sogenannte «Schutzbriefe» auszustellen und sie gleichzeitig in einem kollektiven Auswanderungspass – dem «Kollektivpass» – namentlich zu erfassen. Sowohl die Schutzbriefe wie auch die zwei Kollektivpässe waren mit dem offiziellen Stempel der Schweizer Gesandtschaft versehen. Um sein Vorgehen zu erklären, vertrat Lutz gegenüber den deutschen und ungarischen Behörden den Standpunkt, dass die Inhaberinnen und Inhaber der Schutzbriefe als Schweizer Bürger unter Schweizer Schutz standen und von der Vernichtungspolitik in Ungarn ausgeschlossen waren. Carl Lutz organisierte diesen grossangelegten Rettungseinsatz, der die offizielle Schweiz als Schutzmacht für die jüdische Bevölkerung auftreten liess, ohne dass er dazu von der Schweizer Regierung bevollmächtigt gewesen wäre. Die humanitäre Schutzaktion war aus der Not geboren und konnte – wie die Zeitzeugenberichte in diesem Buch nahelegen – nur mit Hilfe eines Netzwerks von zahlreichen lokalen Helfern und Verbündeten durchgeführt werden. Es war ein gefährliches Unterfangen für alle Mitakteure. Carl Lutz beschreibt diese erste Phase seiner Rettungsaktivitäten wie folgt:

«Die Erstellung dieser Pässe, die ‹Schweizer Kollektivpässe› genannt wurden, bot erhebliche Schwierigkeiten, wenn sich auch zahlreiche Volontäre zur Verfügung stellten, um bei den Schreibarbeiten mitzuhelfen. Meine Idee war, Kollektivpässe von je 1000 Personen zu erstellen. Dazu brauchte es, nebst den Personalien, auch Fotos von den Personen, die aber in den Judenhäusern [Gelbsternhäusern] eingeschlossen waren. Eine Gruppe von 50 jungen jüdischen Volontären stellte sich zur Verfügung – zum Teil in ungarischer Uniform – , um die Personalien und Photi zu beschaffen. In einigen Fällen wurde der Zutritt in die Häuser sogar erzwungen, indem die jungen Burschen sich als Pfeilkreuzler ausgaben. In mühsamer Nachtarbeit wurden vier Pässe angefertigt, die heute wohl historische Dokumente sind.» 5


Der junge Carl Lutz auf der Atlantik-Überfahrt 1913

Obwohl sich Carl Lutz nach aussen hin – und gegenüber den deutschen und ungarischen Behörden – an die Kontingent-Anweisungen hielt, setzte er sich in einem zweiten Schritt über sie hinweg, indem er eigenmächtig den Auftrag erteilte, die genehmigte Quote um ein Vielfaches zu überschreiten. Sein ausgeklügelter und erfinderischer Plan bestand darin, die begrenzten Mittel und Ressourcen des bürokratischen Apparats auszuschöpfen, um so viele Menschenleben wie nur möglich zu retten. Damit die waghalsige Strategie nicht aufflog, hielt er seine Mitarbeiter an, jede neue Serie von Einwanderungszertifikaten und Schutzbriefen jeweils von 1 bis 7800 zu nummerieren.6 Ein weiterer bürokratischer Kniff war, die 7800 Palästina-Zertifikate als «Familienzertifikate» zu interpretieren und für jedes Familienmitglied einen eigenen Schutzbrief auszugeben. Denn, so argumentierte der gewandte Verhandlungsführer Lutz, die ungarische Regierung habe doch schliesslich «Einheiten» genehmigt, die, nach seinen Vorstellungen, bis ca. zehn Familienmitglieder beinhalteten. Diese willkürliche Auslegung hatte zur Folge, dass Carl Lutz mit der von ihm ins Leben gerufenen Rettungsaktion und durch die Unterstützung seines Rettungsteams über 50 000 lebensrettende Schutzbriefe und Schutzpässe ausstellen konnte.7

In Verhandlungen mit dem ungarischen Aussenminister Gábor Kemény erreichte Carl Lutz zudem, dass 76 Häuser in der Pozsonyi-Strasse und am Szent-István-Park laut geltendem Exterritorialitätsrecht unter Schweizer Obhut gestellt wurden. Dazu gehörte das Glashaus in der Vadász-Gasse 29, das als exterritoriales Gesandtschaftsgebäude von der ungarischen Regierung anerkannt war.8 In diesem Gebäude eröffnete die Abteilung «Fremde Interessen der Schweizer Gesandtschaft» am 24. Juli 1944 ihre Auswanderungsabteilung. Carl Lutz betraute zuerst den Leiter des Budapester Palästina-Amtes Miklós (Mosche) Krausz und danach auch Alexander Grossman damit, die Leitung zu übernehmen. Nach dem Staatsstreich der «Nyilas» (Pfeilkreuzler) am 15. Oktober 1944 war das Glashaus das grösste Gebäude unter Schweizer Schutz und beherbergte gemäss Zeitzeugenaussagen bis zu 3000 verfolgte jüdische Menschen. Nach Schätzungen von Mihály Salamon fanden in allen 76 von der Schweiz geschützten Häusern zirka 17 000 Verfolgte einen Zufluchtsort.9

Aus Carl Lutz’ Aufzeichnungen geht hervor, dass um die 150 Personen – Angestellte der Schweizer Gesandtschaft und Freiwillige – an dieser umfangreichen Rettungsaktion mitbeteiligt waren.10 Zu ihnen gehörten Carl Lutz’ engste Vertraute, seine Ehefrau Gertrud Lutz-Fankhauser (1911–1995), die Schweizer Landsleute Harald Feller (1913–2003), Ernst Vonrufs (1906–1972), Peter Zürcher (1914–1975) sowie Miklós Krausz (1908–1985) und Mitglieder der zionistischen Jugenduntergrundbewegungen. Andere Diplomaten wie Raoul Wallenberg oder der päpstliche Nuntius Angelo Rotta folgten seinem Beispiel und stellten ebenfalls zahlreiche Schutzbriefe, Pässe und Zertifikate für die Menschen in Not aus. Aufgrund ihres Umfangs und ihrer minutiösen Durchführung jedoch darf die risikoreiche Operation von Lutz, die er «ohne einen administrativen Apparat, ohne finanzielle Mittel und ohne amtlichen Auftrag»11 ausführte, als die grösste und erfolgreichste zivile Rettungsmission des Zweiten Weltkriegs betrachtet werden.12 Um das Überleben der jüdischen Bevölkerung, die in akuter Lebensgefahr war, zu sichern, setzte sich Carl Lutz über Konventionen und Vorschriften hinweg, indem er die Menschenrechte und den Grundsatz der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens über das damals geltende Unrecht stellte. Mehr als 70 Jahre später dient Carl Lutz’ Rettungsaktion noch immer als musterhaftes Beispiel humanitärer Diplomatie in Konfliktgebieten.


Carl Lutz mit seiner geliebten Mutter Ursula, USA 1934

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