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Carl Lutz
ОглавлениеCarl Lutz wurde am 30. März 1895 in Walzenhausen (Appenzell Ausserrhoden), einer hoch über dem Bodensee gelegenen Gemeinde, als zweitjüngstes von zehn Kindern geboren. Sein Vater, Johannes Lutz, betrieb einen Steinbruch, starb jedoch früh. Die tiefreligiöse Familie war arm. Seine Mutter, Ursula Lutz-Künzler, war Sonntagsschullehrerin in der Methodistengemeinde und kümmerte sich um die Armen in der Gemeinde. Sie war eine warmherzige Frau und ein Vorbild für Carl Lutz, der seine Mutter liebte und verehrte. Da ein Studium in der Schweiz aus finanziellen Gründen nicht in Frage kam, wanderte er nach seiner kaufmännischen Lehre in St. Margrethen (St. Gallen) im Jahr 1913 nach St. Louis (Missouri), in die Vereinigten Staaten, aus. Er war gerade achtzehn Jahre alt geworden; ohne eigenes Vermögen und ohne Beziehungen dorthin. Um sein geplantes Studium zu finanzieren, arbeitete er fünf Jahre lang in einer Fabrik in Granite City (Illinois). Dann erst konnte er an der George Washington University sein Studium in Geschichte und Jura aufnehmen und drei Jahre später (1924) mit dem Bachelor of Arts abschliessen. In dieser Zeit begann auch seine diplomatische Karriere, zunächst mit einer Aushilfsstelle als Korrespondent und bald als Kanzlist in der Visa-Abteilung der Schweizer Gesandtschaft in Washington, D. C. Daraufhin folgten feste Anstellungen als Kanzleisekretär an den Schweizer Konsulaten in Philadelphia und St. Louis. Im Jahr 1935, nach seiner Heirat mit Gertrud Fankhauser, wurde Carl Lutz an das Schweizer Konsulat in Jaffa, das für das damalige Palästina und Transjordanien zuständig war, versetzt. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vertrat er auch die Interessen der deutschen Reichsangehörigen in Palästina. In diese Zeit fiel seine Ernennung als Vizekonsul. Die guten Kontakte zu Deutschland kamen ihm später in Budapest zugute. Wie bereits erwähnt war Carl Lutz nach seiner Tätigkeit in Palästina von Januar 1942 bis März 1945 Vizekonsul in Budapest.
Carl Lutz und Gertrud Lutz-Fankhauser (2. Reihe rechts aussen) im Bus von Lissabon nach Genf 1945. Dazu schreibt Carl Lutz: «Endlich rückt die Heimat näher! Von Lissabon ging es Mitte Mai 1945 über Madrid nach Barcelona, wo wir von einem schweizerischen Autobus abgeholt und wohlbehalten nach Hause gebracht wurden.»
Nach den Ereignissen in Budapest kehrte Carl Lutz im Mai 1945 gesundheitlich schwer angeschlagen über Bulgarien und die Türkei in die Schweiz zurück. In seinem unveröffentlichten Lebenslauf, den er 1968 verfasste, schildert er die Umstände dieser abenteuerlichen Reise:
«Nach einem einwöchigen Aufenthalt in der Türkei setzten wir die Reise auf dem Schutzmachtdampfer ‹Drottingholm›, stets mit Schwimmgürtel durch das minenverseuchte Mittelmeer, nach Lissabon fort, von dort über Spanien nach Genf, wo wir nach der sechs Wochen dauernden Reise um Mitternacht ankamen und den Dank und Gruss der Heimat entgegennahmen, der da lautete: ‹Haben Sie was zu verzollen?› »13
Carl Lutz arbeitete nach seiner Genesung von 1946 bis 1954 für das Politische Departement in Bern und Zürich. In dieser Zeit liess er sich von seiner Frau Gertrud scheiden und heiratete im Jahr 1949 Magda Grausz aus Budapest. Im Jahr 1951 war er in einer besonderen Mission für die Lutheran World Federation in Israel tätig. Von 1954 bis 1961 amtete er als Konsul in Bregenz (Österreich) – zuletzt als Titular-Generalkonsul. Nach seiner Pensionierung lebte Carl Lutz in Bern, wo er am 13. Februar 1975 im Alter von 80 Jahren verstarb. Seine erste Frau, Gertrud Lutz-Fankhauser schrieb über ihn: «Er gehörte zu den Stillen im Lande und war zeitlebens ein pflichtbewusster Beamter. Gleichzeitig war er von seinem tiefen christlichen Glauben stark geprägt, was ihn aus innerstem Bedürfnis immer wieder dazu verpflichtete, Menschen in Not beizustehen.»14
Nach der Zeit in Budapest war Carl Lutz für den Rest seines Lebens von einem grundlegenden Widerspruch gezeichnet. Obwohl er sich Vorwürfe machte, in Budapest nicht mehr «Schutzbefohlene» gerettet zu haben, tat er sich schwer damit zu akzeptieren, dass seine humanitäre Aktion in der Schweiz wenig Beachtung fand. Während ihm aus dem Ausland verschiedene Zeichen der Anerkennung zuteil wurden – unter anderem eine Strassennamensgebung in Haifa (1958), das Grosse Bundesverdienstkreuz der BRD (1962), und die Ehrung als «Gerechter unter den Völkern» von Yad Vashem (1964)15 – wurden seine Rettungsaktivitäten in seiner Heimat nur vereinzelt gewürdigt, er erhielt zum Beispiel das Ehrenbürgerrecht seiner Heimatgemeinde Walzenhausen (1963). Nach seiner Rückkehr aus Budapest nahmen sich seine Vorgesetzten im Bundeshaus kaum Zeit, ihn anzuhören; stattdessen prüfte man seine Spesenabrechnung. Auch wurde seiner beim Eidgenössischen Politischen Departement (EPD; heute EDA) vorgebrachten Bitte, ihm zwei Kollektivpässe für einige Zeit zur Verfügung zu stellen, nicht entsprochen. In einem Brief (5. Februar 1949) erhielt Carl Lutz den Bescheid, dass die Polizeiabteilung des Eidgenössischen Polizei- und Justizdepartements gegen ihn den Vorwurf der «Kompetenzüberschreitung» erhob, denn es sei in Budapest nicht gesetzmässig gewesen, Schweizerpässe an Ausländer zu verteilen:
«Die Polizeiabteilung des Eidgenössischen Polizei- und Justizdepartements macht uns [...] mit Schreiben vom 25. Januar 1949 darauf aufmerksam, dass die Bezeichnung der betreffenden Ausweispapiere als schweizerische Kollektivpässe nicht statthaft war; denn die Abteilung für fremde Interessen sei wohl ermächtigt gewesen, den ihrem Schutz unterstellten Ausländern Papiere abzugeben, habe aber diese nicht als Schweizerpässe bezeichnen dürfen.»16
Man muss sich vergegenwärtigen, dass Carl Lutz in einer höchst dramatischen Situation in Ungarn, wo Adolf Eichmann die Vernichtung der ungarischen Juden vorantrieb, sich eines raffinierten juristischen Manövers bediente, um Tausende von Menschenleben zu retten. Während er sich dazu entschied, Menschenleben höher zu gewichten als das buchstabengetreue Befolgen von Gesetzen, wurde ihm letztlich genau dies von seinen Vorgesetzten vorgehalten. Die oben zitierte schriftliche Rüge – auch wenn sie keine Bestrafung nach sich zog – empfand der gewissenhafte und verantwortungsbewusste Beamte, als würde man sein Handeln als schweres Vergehen werten. Es darf deshalb nicht verwundern, dass Carl Lutz bis zu seinem Lebensende darum kämpfte, sich in den Augen jener, die seine Vorgehensweise in Budapest legalistisch oder moralisch verurteilten, zu rehabilitieren.
Carl Lutz mit einer Kinderschar in Appenzell, Schweiz, undatiert
Nach dieser schriftlichen Massregelung sollten noch neun Jahre verstreichen, bevor Carl Lutz’ «unbefugtes» Vorgehen zum ersten Mal von offizieller Schweizer Seite als humanitäres Engagement gewürdigt wurde. Die Anerkennung von Bundesrat Markus Feldmann kam Lutz anlässlich der Debatte über den Ludwig-Bericht im Nationalrat zuteil. Die eigentliche offizielle Rehabilitierung erfolgte jedoch erst 1995 im Rahmen der Gedenkstunde zum 100. Geburtstag von Carl Lutz. Der damalige Aussenminister Flavio Cotti würdigte Carl Lutz als «stillen, aber grossen Helden». Es ist bezeichnend, dass Cotti in seiner Rede die Privatperson Lutz ehrte, indem er darauf hinwies, dass Lutz «als Mensch und verantwortliches Individuum gehandelt [habe], weil sein persönliches Gewissen ihm keine Ruhe liess». Dass die Rettungsaktion in Budapest nur möglich war, weil Lutz in seiner Funktion als Amtsträger handelte, darauf verwies Cotti in diskret indirekter Weise. Cottis Rede war keine politische Entschuldigung, es war die Ehrung eines Aufrechten und Gerechten, der – hier zitierte Cotti das humanitäre Credo von Carl Lutz – sich das Recht herausnahm, die jüdischen Flüchtlinge unter den offiziellen Schutz der Schweizer Regierung zu stellen: «Wenn es so viele Länder gibt, welche die Gesetze verletzen, um zu töten, so dürfte es doch ein Land geben, dass die Gesetze verletzt, um zu retten.»17
Im Gegensatz zum politischen Erinnerungsdiskurs berichteten die Medien sporadisch über Carl Lutz’ Rettungsaktivitäten im Zweiten Weltkrieg. Vier Monate nach Kriegsende – am 15. September 1945 – erschien in der «Schweizer Illustrierten» ein Beitrag unter dem Titel «Ein Schweizer Konsul und ein Konsul von Salvador verhinderten die Ausrottung des ungarischen Judentums». Anlässlich seiner Pensionierung im Jahre 1961 wurden Carl Lutz’ persönliche Aufzeichnungen in gekürzter Form in der «Neuen Zürcher Zeitung» unter dem Titel «Die Judenverfolgung unter Hitler in Ungarn» zum ersten Mal veröffentlicht. Der einleitende Paragraph würdigte, «was Mannesmut, Unerschrockenheit und Unbeirrbarkeit im Dienste der Menschlichkeit auch in einer Zeit zu wirken vermögen, in der alle ethischen Wertmassstäbe mit Füssen getreten werden».18 Im selben Jahr erschien «Heute darf ich reden – Ich habe nicht umsonst gelebt» in der Zeitschrift «Sie und Er». In diesem Artikel kamen auch weitere an der Rettungsaktion beteiligte Personen wie Tibor Rosenbaum und Alexander Grossman zu Wort. Als zehn Jahre später Carl Lutz der «Schweizer Illustrierten» den Vorschlag unterbreitete, über die Rettungsaktion zu schreiben, erhielt er die Antwort «Nun verhält es sich leider so, dass sich – wie verlässliche Erhebungen ergeben haben – der Grossteil meiner Leser für die dramatischen Vorgänge, in deren Mittelpunkt Sie einstens gestanden haben, kaum mehr interessiert, sodass ich beim besten Willen keine Möglichkeit sehe, einen Bericht in der ‹Schweizer Illustrierten› zu publizieren, wie er Ihnen vorschwebt. Unterzeichnet von Dr. W. Meier – Chefredaktion.» Diesen ablehnenden Bescheid erhielt Carl Lutz vier Jahre vor seinem Tod.
Carl Lutz und Gertrud Lutz-Fankhauser sitzen mit dem Chauffeur Charles Szluha im Wrack ihres Autos, Budapest, Ungarn 1945
Zwischen 1975 und 1995 finden sich in der medialen Aufarbeitung der Schweizer Erinnerungsgeschichte zum Zweiten Weltkrieg relativ wenige Hinweise auf Carl Lutz. Vereinzelte Beiträge behandelten Alexander Grossmans Biografie «Nur das Gewissen. Carl Lutz und seine Budapester Aktion – Geschichte und Porträt» (1986) und berichteten über die Einweihungen der Ehrentafel in Walzenhausen (1975), des Carl-Lutz-Denkmals in Budapest (1990) und des Carl-Lutz-Weges in Bern (1995).
Obwohl die historische Figur Carl Lutz in der kollektiven Erinnerung der Schweiz auch heutzutage noch nicht fest verankert ist, wird seine Schutzbrief-Rettungsaktion im nationalen Gedächtnis der Schweiz seit zehn Jahren vermehrt gewürdigt. Eine bedeutende Ehrung von Seiten der Bundesregierung erfolgte anlässlich der Herbstsession des Nationalrats am 24. September 2018 im Nationalrat. Ein halbes Jahr zuvor wurde das grösste Sitzungszimmer im Westflügel des Bundeshauses als «Carl Lutz Saal» von Bundesrat Ignazio Cassis eingeweiht.
Carl Lutz in den Ruinen der Britischen Gesandtschaft, Budapest, Ungarn 1945
Erste Weihnachten in Bern, Schweiz 1949
Porträtaufnahme von Carl Lutz 1965