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I Bestandsaufnahmen 1 »Nach der Krise ist vor der Krise«

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Vom Überleben in, mit und durch die Krise

Dorothee Kimmich

Eine Krise der Geisteswissenschaften an den Universitäten aber auch außerhalb von ihnen zu konstatieren, ist notorisch und verheißt im Prinzip nichts Neues. Seit Jahren und ganz abgelöst vom wie auch immer beklagenswert sich darbietenden Realzustand der humanities stößt solches Lamento auf gleichsam rhetorische, durchwegs habituelle Zustimmung. […] Es scheint, als leiden die Geisteswissenschaften und die mit ihnen epistemisch verwandten heuristisch orientierten Gesellschaftswissenschaften unter einem kaum korrigierbaren und sich praktisch auswirkenden beständigen Legitimationsdefizit. (Diner 2003: 70)

Der Historiker, Publizist und Wissenschaftsmanager Dan Diner hat diese Sätze vor mehr als zehn Jahren formuliert – und es ist keineswegs der erste Kommentar zur Lage der Humanities. Schon vor ihrer eigentlichen Existenz gab es Kritik: Leonardo Bruni Aretino, Humanist und Staatskanzler im Florenz des frühen 15. Jahrhunderts, bemerkt verächtlich gegenüber Philosophie-Professoren, dass er ihnen lieber beim »Schnarchen als beim Reden zuhören« würde (Bruni Aretino 1984: 93). In eine ähnliche Richtung zielt das immer wieder gern bediente Bild des »faulen Professors« (Enders und Schimank 2001: 159–178), der die Autonomie von Forschung und Lehre dazu nutzt, sich ein schönes und vor allem geruhsames Leben zu machen. Um die ganze Sache rund zu machen, gehört dazu noch eine Studentenbeschimpfung, wie sie unlängst wieder im Spiegel nachzulesen war: Germanistikstudenten – noch mehr offenbar Studentinnen – haben keine Ahnung vom Lesen, noch weniger von Literatur und schon gar nicht von Goethe, den sie nur noch als »so nen Toten« kennen (Doerry 2017: 105–109).

Im Spiegel geht es nicht um eine Abrechnung mit den Humanities im Allgemeinen, sondern mit dem größten Fach innerhalb der Literaturwissenschaften, mit der Germanistik: Sie sei riesig, aber marginal. Sie bringe weder gute Lehrende noch gute Kritiker*innen hervor, anders als dies (früher? zu Zeiten von Walter Jens?) einmal war. Berufsfelder wie das Feuilleton und der viel beschworene Lektoratsjob verschwinden, weil Zeitungen und Verlage keine Literaturwissenschaftler*innen brauchen. Diese dagegen landen, wie uns Doerry Houllebecq zitierend belehrt, bei Hermès im Verkauf. Im Vergleich zu anderen Studienfächern scheinen die Literaturwissenschaften und dabei insbesondere die Germanistik – für die man nicht einmal Englisch können muss, geschweige denn so etwas Kompliziertes wie Rechnen – schlechte Studierende anzuziehen und aus motivierten Lehrenden frustrierte akademische Verwaltungsangestellte zu machen.

Diese Kritikpunkte lassen sich noch ergänzen durch die Kritik an der Institution Universität insgesamt, die – je nach nationaler Bildungspolitik – entweder vollkommen unterfinanziert ist, wie in Italien und Deutschland, oder große interne Qualitätsunterschiede aufweist wie etwa in Frankreich und den USA. Drittmittelpolitik in unterschiedlicher Form, der dauernde Druck, Geld einzuwerben, die deutsche Exzellenzinitiative mit ihren Tausenden von Anträgen, die zigtausende von Arbeitsstunden verschlingen, werden ebenso getadelt wie neue Besoldungsrichtlinien für Wissenschaftler*innen, die offenbar die Vertreter der Naturwissenschaften bevorzugen. Die nicht abreißende Debatte um die Relevanz philologischer Kompetenzen gehört ebenso zum Kanon der Einwände wie die Kritik an den Schulen und dem Niveau, mit dem sie Schüler*innen an die Universität entlassen (Lehrlinge bzw. Azubis allerdings können auch nichts mehr!).

Mit dem Verschwinden des Bildungsbürgertums und seiner Wertvorstellungen, seinem Bildungskanon und seinen Ausbildungspraktiken verschwanden auch die Sicherheit und Selbstverständlichkeit der zu vermittelnden Inhalte in Literatur, Kunst und Musik (vgl. Erhart 2003a: 108–125). Die damit verbundene Warnung vor dem Untergang der Bildung im Internetzeitalter ist zum Gemeinplatz geworden: Das »Ende der Gutenberg-Galaxis« (Bolz 1995) war erst nur ein schönes Bonmot – und heute haben wir dieses Ende so weit hinter uns gelassen, dass es selbst schon Geschichte geworden ist. In all dem ist nichts Positives zu erkennen; außer vielleicht der Tatsache, dass Bildung offensichtlich zu allen Zeiten wenn nicht alle, so doch viele anzugehen scheint, und dass man Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen, ja, dass man bestimmten Fächern und Disziplinen offenbar viel zutraut – oder eben auch viel zumutet.

Die Kritikpunkte sind fast alle berechtigt – und genau dies mag einen skeptisch stimmen. Sie zielen auf die Universitäten ganz allgemein, besonders aber auf die Literatur- und Kulturwissenschaften und im Speziellen häufig auf die Germanistik. Selten wird so viel Häme über die juristischen Fakultäten, die theologischen Seminare, die Archäologie oder auch die Geschichte ausgeschüttet wie über die Literaturwissenschaften. Man fragt sich manchmal, warum. So viel Kritik, und aus so unterschiedlichen Perspektiven? So viele implizite und explizite Forderungen und Erwartungen, die, würde man versuchen, sie alle zu erfüllen, sicherlich kein konsistentes Bild ergeben würden. Vielleicht muss man sich also zunächst einmal fragen, was eigentlich solche Empörung auslöst. Wie sieht der Katalog der Wünsche aus? Woher kommt die krasse Kritik?

Geisteswissenschaften – oder, um den irreführenden Begriff des »Geistes« zu vermeiden, besser: Humanities – sollen historisches und zeitgenössisches Wissen bewahren, es pflegen, sie sollen es erhalten, zugänglich und brauchbar machen oder sogar oft die Zugänglichkeit erhalten, indem sie etwa die Kenntnis fast vergessener Sprachen und Schriften, Zeichensysteme und Bilder konservieren und ihre Funktionen trainieren. Die einen loben dabei, dass dies ohne Ansehen von direkter Verwertbarkeit, mit langem Atem und ohne tägliche Überprüfung von aktueller Relevanz geschehen soll und kann. Tagesaktuelle Verwertbarkeit soll und darf dann gerade kein Kriterium sein. Andere reden genau hier vom Elfenbeinturm.

Die Kritiker des Elfenbeinturms nämlich verlangen, dass zeitgenössische Debatten aufgegriffen, überalterte Themen und Thesen verworfen und dezidiert verabschiedet werden. Und nicht nur dies: Zu aktuellen Themen soll es auch noch kompetente und ethisch vertretbare Kommentare, Urteile, politisch und sozial relevante, wirksame Beiträge geben. Universitäten sollen Forschung – nicht nur in den Humanities – garantieren, die nicht von Politik und Lobbyismus beeinflusst ist (dies ist – leider zu selten betont – im Übrigen auch für die Lehre relevant!). Sie müssen mit ihren Ressourcen ökonomisch umgehen und die Ausgabenverteilung an gesellschaftlichen Bedürfnissen ausrichten. Sie sollen einerseits auf Distanz gehen zu den gesellschaftlichen Akteur*innen und Interessent*innen, andererseits nicht im Abseits stehen: Keine leichte Übung!

Universitäten sind – wie fast alle Institutionen – träge, und genau dies ist auch ein nicht zu unterschätzender Vorteil von Institutionen. Anders als wirtschaftlich arbeitende Unternehmen, die auf ökonomische Veränderungen möglichst schnell und flexibel reagieren sollen und müssen, sollten das weder Bildungseinrichtungen noch Gerichte tun:

Die notwendige Autonomie, eine gewisse Freiheit von Marktimperativen und die Distanz zu unternehmerischer Kultur können sich die Geisteswissenschaften nur dann verschaffen, wenn sie bereit sind für diese (notwendige) Sonderstellung auch bestimmte Reformen nicht nur in Kauf, sondern selbst in Angriff zu nehmen. Gelingt dies nicht, leiden darunter nicht nur die Geisteswissenschaften selbst, sondern das gesamte System Universität. (Kimmich und Thumfart 2003: 30)

Die Anpassung von Universitäten an Vorbilder aus Wirtschaft und Industrie ist nicht in jeder Hinsicht unsinnig, eine Vorbildfunktion ökonomischer Strukturen für die Universität kann es aber nicht geben. Moden und Konjunkturen bestimmen nicht den Pulsschlag von Universitäten. Das mag man bedauern. Tatsächlich sammelt sich daher eine Menge Muff – auch unter den z. T. wieder eingeführten Talaren – in Bürokratien, Studienplänen, Prüfungsordnungen, Leselisten und Forschungsprojekten. Autonomie von wirtschaftlichem Effektivitätsdruck und gesellschaftlicher Relevanz führt nicht per se zu wissenschaftlichen Hochleistungen. Aber umgekehrt gilt dies eben genauso: Ständiger Effektivitätsdruck und Relevanzforderungen garantieren eben leider auch keine gute Forschung!

Erreichen lässt sich in einer Institution nur dann etwas, wenn man grundsätzlich deren Charakter, also auch denjenigen einer oft langsamen, ja eben ›bedächtigen‹ Arbeitsweise akzeptiert, ihre Vorteile anerkennt und erst dann die daraus entstehenden Nachteile korrigiert. Universitäten sind konservativ: im Wortsinn und als Funktionsbeschreibung gemeint. Es sind besonders die Humanities, die diese konservativ-konservierende Seite vertreten. Das sieht man den Vertreter*innen der Fächer an, ihrem Habitus und ihren Tätigkeiten. Ihr Denkstil ist in vieler Hinsicht auf konservative Praktiken hin ausgelegt. Allerdings sind diese Fächer damit nur zur Hälfte beschrieben.

Weder die Universität selbst noch die Humanities sind nur konservativ. Ganz im Gegenteil: Schließlich wird das Wissen von morgen in den Forschungslaboren, Universitätskrankenhäusern, aber auch an Schreibtischen und in Seminarräumen entwickelt. Dabei geht es nicht nur um technischen, technologischen, naturwissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt, sondern ganz zentral auch um das Wissen, mit dem sich eine Gesellschaft selbst beschreibt und verständigt, mit dem sie Arbeitsleben und Familie, Geschlechterverhältnisse und Kindererziehung, kulturelle Vielfalt und Innovation, Tradition und Erinnerung, Gesundheit und Religiosität neu konzipiert, verwandelt, kommuniziert und kritisiert.

Insbesondere die Literaturwissenschaften zeichnen sich also durch die Spannung zwischen einer konservativen Seite ihrer Praktiken und Aufgaben und zugleich einer Seite innovativer, oft sehr experimentierfreudiger, meist theoretisch versierter Ansätze aus. Das passt nicht gut zusammen und erzeugt Konflikte. Obwohl die Kombination fast unmöglich erscheint, kann auf keine der beiden Seiten verzichtet werden: Betrachtet man eine Seite isoliert, wirkt es entweder dröge oder schrill.

Rita Felski nennt in ihren viel beachteten Publikationen vier verschiedene Praktiken, die Humanities zu kombinieren haben: »curating, conveying, critizing, composing« (Felski 2016: 216). Die ersten beiden, ›curating‹ und ›conveying‹ möchte ich zusammenfassen in dem, was ich als ›konservativ‹ bezeichne. Critizing und composing werde ich ihnen gegenüberstellen und im Sinne von Kritik und – statt ›composing‹ – Urteil also auf der Seite des Experimentellen und Innovativen verorten. Die Unterteilung in die beiden Komponenten ist vielleicht meinem besonderen Fokus auf die Germanistik geschuldet, da hier die Debatten um die Einführung von kulturwissenschaftlichen Ansätzen, Themen und Methoden bzw. auf der anderen Seite um eine »Rephilologisierung« (vgl. Erhart 2003b) des Faches besonders heftig geführt wurden, also die Polarisierung von konservativ-kurativ und kritisch-innovativ kontrovers diskutiert wurde. Interessant sind die Spannungen innerhalb der Germanistik auch, weil sie als Nationalphilologie im Rahmen der deutschen Kultur- und Wissensgeschichte – mehr noch und anders als etwa die Romanistik oder die Amerikanistik/Anglistik – gewissermaßen intrinsisch eine Art Umbau oder sogar eine Form der Selbstauflösung betreibt. Warum?

Die konservativ-konservierenden Praktiken Felskis, ›curating‹ und ›conveying‹ fallen zusammen mit dem, was man als philologische Praktiken im besten Sinne bezeichnen kann. Sie gehören zum Kernbestand der Literaturwissenschaften und ihre Berechtigung und ihr Wert sollten nicht in Zweifel gezogen werden. Allerdings: Philologen – insbesondere auf dem Gebiet der Germanistik – braucht man nicht viele und man wird in Zukunft immer weniger von ihnen brauchen. Hier ist Albrecht Koschorke zuzustimmen, der darauf hinweist, dass diese Art von Germanistik schrumpfen wird – und zu Recht (vgl. Koschorke 2015: 587–594). Die deutschsprachige Literaturgeschichte ist vergleichsweise kurz, sehr prominent und entsprechend gut erforscht. Es gibt noch viel zu forschen, aber die Menge an Dissertationen und Publikationen steht in keinem Verhältnis zum Material, das erforscht wird. Nicht selten sind es zudem Mainstream-Gebiete, die sich besonderer Beliebtheit erfreuen, Redundanzen lassen sich daher nicht vermeiden. Dazu gehören allerdings nicht nur die ›großen‹ kanonischen Autoren, sondern bedauerlicherweise auch viele theoretische Texte aus den letzten Jahrzehnten, die weit mehr Aufmerksamkeit erfahren haben, als notwendig gewesen wäre, um sie angemessen zu rezipieren. Das dient dem Renommee eines Faches nicht. Weniger Quantität und höhere Qualitätsstandards wären oft angebracht. Schließlich ist nicht jeder, der schnell lesen kann, ein guter Philologe. Dazu bedarf es spezifischer und seltener Begabungen, eines hohen sprachlichen Feingefühls, einer langen Ausbildung und komplexer Kompetenzen.

Die Lage auf der anderen Seite der Literaturwissenschaften, also auf der kritisch-innovativen, ist womöglich noch schwieriger zu beschreiben, denn sie zeichnet sich durch ein hohes Maß an Veränderungen aus, die sowohl den Bereich der zu erforschenden Gegenstände – also eigentlich Texte und Bücher – als auch Methoden und Theorien und so letztlich immer das Selbstverständnis des Faches betreffen. Die Germanistik hat sich – und das gilt in etwas anderer Weise auch für andere Nationalphilologien – mit der Geschichte der jeweiligen Nationalstaaten im Rahmen einer Globalgeschichte der letzten 200 Jahre vollkommen gewandelt. Und dies ist selbstverständlich nur zu begrüßen: Als Selbstversicherung einer nationalen, bürgerlichen Identität ist das Fach obsolet geworden, ja, es wäre eine politische Provokation.

Die entscheidenden Impulse kamen dabei aus verschiedenen Literaturwissenschaften und aus den neu entstehenden Kulturwissenschaften, die zusammen seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Herausforderungen einer sich selbst suspekt werdenden Moderne begegneten und sie auf kreative und einflussreiche Weise aufarbeiteten. Das Fach Germanistik bzw. die Literaturwissenschaften haben sich durch diese Einflüsse fundamental verändert: Manche Gebiete, die zuvor als kleine Unterabteilungen fungierten – wie die Medienwissenschaften –, haben eine spektakuläre Konjunktur erlebt und sind zu eigenen Fächern, ja Fachbereichen geworden. An anderen Stellen haben sich Querverbindungen und Vernetzungen gebildet – etwa in allen Bereichen des ›Transkulturellen‹, des ›Postkolonialen‹ –, die dafür sorgen, dass die Grenzen des Faches diffus – noch diffuser – wurden. Im Grunde sind Fächergrenzen immer diffus, das zu ignorieren, lässt ideologische Interessen vermuten.

Man könnte hier verschiedene Beispiele für die Art und Weise der Wirkung und Bedeutsamkeit kulturwissenschaftlicher Forschung anführen; ich wähle die lange und hochinteressante Debatte über ›Erinnerung‹ und Gedächtnis, die heute in vielen Sparten geläufig ist. Sie angestoßen zu haben, ist u.a. ein Verdienst von Aleida und Jan Assmann, die dafür 2017 berechtigterweise einen der höchst dotierten Wissenschaftspreise, den Balzan-Preis, erhielten. Wenn heute Begriff und Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹ viel geläufiger sind als der Name der beiden ›Erfinder‹, so ist das eine ähnliche Leistung wie diejenige, das ›Unbewusste‹ entdeckt oder erfunden zu haben. Die Problematisierung von ›Erinnerung‹, die Konzeption des kulturellen Gedächtnisses und deren Theorie verhalfen gerade zur kritischen Revision nationalistischer Selbstkonstruktion, und diese Kritik diente nicht nur der Dekonstruktion nationaler Mythen, sondern eben auch der Dekomposition von Disziplinen, die ursprünglich solche nationalen Selbstfindungsfunktionen erfüllten. Solche Themenfelder weiterhin zu identifizieren und zu bearbeiten, ist heute dringender denn je. Ohne kulturwissenschaftliche Expertise wird man dem verheerenden Trend zum Vergessen nicht beikommen.

Die Geisteswissenschaften können nicht mit den gleichen Kriterien der Relevanz, der Effektivität und der Produktivität evaluiert werden wie technische oder naturwissenschaftliche Fächer. Wie wollte man den Wert der Assmannschen Forschungsleistung evaluieren, die sich über Jahrzehnte entfaltet und sich über die verschiedensten Gebiete politischer Entscheidungen, disziplinärer Forschung, internationaler Beachtung und kultureller Wirksamkeit, ja sprachlicher Veränderung und Innovation erstreckt? Ein Einfluss, der weit größer sein dürfte als derjenige, den einzelne Wissenschaftler*innen, wie die vom Spiegel apostrophierten, je gehabt haben dürften. Vermissen wir die ›großen‹ alten Männer wirklich? Können wir an ihnen den Einfluss eines Faches bemessen? Es dürfte doch vielleicht den ebenfalls viel geschmähten Gender Studies zu verdanken sein, dass wir darüber heute differenzierter urteilen können.

Im Grunde können wir festhalten, dass gerade die Literaturwissenschaften diejenigen Stimmen hervorbringen, die im richtigen Moment darauf hinweisen, dass sie sich – in bestimmter Hinsicht – überlebt haben. (Das gilt übrigens auch für den Verfasser des kritischen Spiegel-Artikels, der – natürlich – u.a. Germanistik studiert hat.) Aber was – bitteschön – will man denn sonst? Das genau ist doch die viel beschworene kritische Haltung, die man sich von Akademiker*innen wünscht.

Oft geht es um sehr komplexe und ernsthafte Auseinandersetzungen mit hoch komplizierten Entwicklungen. Wir werden z.B. zweifellos in den kommenden Jahren und Jahrzehnten vollkommen neue Konzepte von Weltgeschichte und Weltliteratur brauchen. Leider wird uns Goethe – auch wenn er den Begriff populär gemacht hat – nicht viel weiterhelfen können. Allein die Daten- und Textmengen werden sich nur mit Hilfe von Digitalisierungsmethoden verwalten lassen, denn Weltliteratur ist eben nicht die Kombination von Schiller, Montaigne, Shakespeare und Cervantes, sondern umfasst Mythen und Lieder, Romane und Geschichten, Anekdoten und Märchen der ganzen Welt und aller Sprachen. Im Moment kann sich – trotz gegenteiliger Behauptungen – niemand vorstellen, wie eine Literaturwissenschaft aussehen soll, die mit solchen Mengen umgehen kann, und in der Zwischenzeit behelfen wir uns mit meist eurozentrischen Hilfskonstruktionen, die methodisch unseriös sind, da sie ungerechtfertigterweise – oft leider nur implizit – Repräsentativität postulieren. Eine ganze Reihe anderer Entwicklungen – etwa im Bereich der Digital Humanities oder der Neuroästhetik – könnte hier ebenfalls und mit gleichem Recht genannt werden.

Es mag für manche ›irrelevant‹ klingen, sich mit der Frage nach Weltliteratur zu beschäftigen, angesichts von Dieselskandal und Flüchtlingskatastrophen. Tatsächlich werden die Auswirkungen eines Umbaus literaturwissenschaftlicher Fächer und Konzepte erst in vielen Jahren wirklich zu spüren sein. Es handelt sich dabei um Entwürfe für einen Umgang von Ethnien, Nationen und Kulturen in postkolonialen Kontexten, für die es sich lohnt, lange Zeit zu investieren. Dieser Umbau von Disziplinen und Fächern wird nicht nur universitäre Forschung, sondern eben auch Lehrpläne und Kulturprogramme, die Politik und den alltäglichen Umgang miteinander prägen. Dies allerdings nur, wenn man diejenigen, die in diesen Bereichen arbeiten, auch anerkennt; und dies bedeutet: sie für ihre Arbeit entlohnt und ihnen zuhört. Hier mit Umsicht vorzugehen, wird gut sein. Man wird dabei auf alte Wissensbestände zurückzugreifen haben: Und da werden die Kritischen und die Kurator*innen im Bereich der Humanities kooperieren müssen.

Wohlfeil ist es auch, über ›Gender-Studies‹ zu spotten (vgl. Handelsblatt 2013; Emma 2017): Wer aber hätte es noch in den 80er Jahren für möglich gehalten, dass sich in unseren Gesellschaften homosexuelle und transsexuelle Lebensentwürfe innerhalb von drei Jahrzehnten durchsetzen lassen? Begriffe, Konzepte, ethische Forderungen und normative Umbesetzungen wurden in der Politik konkret, aber sie wurden erst einmal in der Theorie vorgedacht und debattiert. Wo hätten sie denn entwickelt werden sollen, wenn nicht an den Universitäten? Heute, wo das alles selbstverständlicher geworden ist, lässt sich gut spotten. Die ersten Seminare zu Gender Studies anzubieten, war eine Leistung – und sie hat sich gelohnt. Allerdings lässt sie sich eben schlecht messen. Dazu muss man schon etwas genauer hinsehen, etwas mehr Ahnung von Kulturgeschichte haben und einen etwas längeren Atem mitbringen … Alles so genannte ›soft skills‹, die man sich etwa in einem historischen oder kulturwissenschaftlichen Studium aneignen kann.

Kaum ein Artikel zur Lage der Literatur- und Kulturwissenschaften kommt ohne einen Verweis auf die besondere Bedeutung von ›Kritik‹ oder ohne das Lob des kritischen Geistes aus, den man in diesen Fächern erlernen oder erwerben kann. Felski weist darauf hin, dass viele »critique« als eine Art »guiding ethos« der Humanities verstehen (Felski 2016: 216). Das ist sicherlich nicht falsch, bleibt aber oft unkonkret. Was soll man sich genau unter dieser Kritik oder dem kritischen Geist vorstellen? Ist Kritik nicht oft auch zu wenig (vgl. Felski 2017: 344–51)? Statt nur auf die kritische Komponente der Humanities möchte ich daher hier auf einen anderen Aspekt hinweisen, der sicherlich Teil von kritischen Reflexionen ist, aber nicht darin aufgeht: Die Fähigkeit, zu urteilen.

Urteilen ist eine komplexe Praxis und beginnt bereits mit der Auswahl von Adjektiven, wenn man einen Sachverhalt beschreibt, mit dem Einsatz bestimmter Metaphern, wenn man eine Handlung, einen Gegenstand oder auch eine Person nachzeichnet. Jeder kennt das aus Bewerbungsgesprächen: Die erfolgreiche Frau ist ›ehrgeizig‹, der Mann ›durchsetzungsfähig‹. Der ›kleine Unterschied‹ kostet vielleicht den Job. Die Art und Weise, wie Eigenschaften attribuiert werden, macht Handlungen und Menschen vergleichbar mit anderen Menschen, mit anderen Erfahrungen, stellt sie jeweils in den einen oder den anderen Kontext. Diesen Verfahren liegen meist implizite Entscheidungen und – meist wenig bewusste – Urteile zugrunde. Sie basieren auf Vergleichen und Ähnlichkeitsbeziehungen und sind in den allermeisten Fällen weder messbar noch falsifizierbar oder beweisbar. Sie sind nicht transparent und schon gar nicht objektiv. Wir befinden uns auf einem Terrain, das vage, diffus, komplex und unübersichtlich ist.

Es ist das Feld, in dem Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen zuhause sind; gewissermaßen der Urwald, in dem sie sich auskennen, hier können sie ihre Diagnosen stellen, ihre Expertise formulieren und ihre Techniken der Erkenntnis zur Anwendung bringen. Es ist das Feld der symbolischen Kommunikation, die vom Einkaufszettel bis zu Zettel’s Traum reicht. Die größte Menge an Weltwissen findet sich ja gerade nicht dort, wo Exaktheit und Klarheit herrschen, sondern dort, wo im Ambivalenten formuliert werden muss, wo Aussagen Urteile implizieren und damit Handlungen generieren (können). Man könnte so etwas die Ambiguitätstoleranz der Literaturwissenschaften nennen. Ich würde gerne weitergehen und es die Diffusitätskompetenz nennen, also die Fähigkeit, gerade nicht ›schwarz und weiß‹ zu denken, ›hüh oder hott‹ zu sagen, ›entweder oder‹ zu handeln, sondern ›sowohl als auch‹, und im Graubereich zu urteilen, abzuwägen, auszutarieren, fein abzustimmen, auszubalancieren.

Es handelt sich um die Fähigkeit, begründet zu urteilen. Die meisten – politischen, privaten oder beruflichen – Entscheidungen beruhen nicht auf objektivem Zahlenmaterial, sondern auf einem komplexen Ineinander von Erfahrung und Information. Differenziert und begründet urteilen zu können, ist eine Kunst. Oder anders: Es ist eher eine Praxis als eine Theorie, die sich durch Einübung und Lektüre erlernen lässt. Diese Praxis, die durchaus auch zur ›Kritik‹ gehört, ist eine der größten Stärken der Literaturwissenschaften. Sie zu so genannten ›exakten‹ Wissenschaften machen zu wollen – was immer das letztlich sein soll –, führt dagegen unweigerlich zu Banalitäten, redundanten Aussagen und zur Selbstabschaffung.

Literatur- und Kulturwissenschaften machen das kompliziert, was auf den ersten Blick einfach erscheint. Sie brechen das Normale auf, ändern den Kontext und machen sichtbar, was sich im ›Normalen‹ verbirgt: Manchmal eine Fratze, manchmal ein Schatz. Dem Normalen die Stirn zu bieten, heißt aber nicht notwendig immer, auf den Putz zu hauen und mit dem großen Thesenbesen einen Kehraus zu veranstalten. Manchmal sitzt man eben monate-, ja jahrelang am Schreibtisch, im Archiv oder in der Bibliothek, bis man die Stellschraube gefunden hat, die am Ende eine wacklig gewordene Konstruktion zum Einsturz bringt. Manchmal findet man diese Schraube nie.

Die ›Erfindungen‹ von Literatur- und Kulturwissenschaftler*innen werden oft gar nicht mit ihnen in Verbindung gebracht. Es sind meist keine spektakulären, aber entscheidende Veränderungen von sprachlichen Gewohnheiten, langsam sich entwickelnde Verschiebungen von normativen Vorstellungen, die nicht nur angestoßen, sondern auch formuliert und vorangetrieben werden. Es sind Konzepte von Vergangenheit und Zukunft, von fremd und eigen, die hier entworfen werden. Sie werden nicht als Innovationen verkauft, sondern finden Resonanzen, verbreiten sich und werden zum Common Sense (vgl. Rosa 2016). Wer das unterschätzt, ist schwer vom Wert des Nachdenkens zu überzeugen.

Literaturwissenschaften in der Krise

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