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Literaturgeschichte als Kulturgeschichte

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Was kann nun die Literaturwissenschaft zur weiteren Klärung und Plausibilisierung der bisher skizzierten Sicht der Dinge beitragen? Der entscheidende Schritt hierzu ist ein kulturwissenschaftliches Verständnis von Literaturgeschichte, das insbesondere mediengeschichtlichen Aspekten besondere Aufmerksamkeit widmet. Die moderne Literatur, so zeigt sich aus diesem Blickwinkel, konnte ihre tragende Funktion bei der Herausbildung eines modernen bürgerlichen Subjekts mit universalen Ansprüchen nur mit Hilfe der sich seit Mitte des 15. Jahrhunderts zur Verfügung stehenden neuen Medientechnologie des Buchdrucks erfüllen. Im 18. Jahrhundert war die moderne Gesellschaft dann vor dem Hintergrund sich ausbreitender Schreib- und Lesefähigkeit in der Bevölkerung derart mit Druckerzeugnissen gesättigt, dass es Sinn macht, die modernen Leitdiskurse Aufklärung und Romantik als ›events in the history of mediation‹ aufzufassen (Siskin und Warner 2010; Siskin 2016). Der Buchdruck ermöglicht dabei erstmals in großer Zahl Kommunikationsprozesse, in denen durch die abstrakte Präsenz von Wörtern auf dem Papier ohne die kontrollierende Anwesenheit eines Senders dem Autor die Autorität über die Bedeutung entzogen wird. Diese liegt nunmehr scheinbar im Text selbst, geht aber de facto auf den Leser über, wie etwa Thomas Docherty (1987) in seinen Überlegungen zu ›moderner Autorität‹ eindringlich herausarbeitet. Sowohl die Aufklärung als auch die Romantik können vor diesem Hintergrund als Diskursformationen zur Kompensation dieses kommunikativen Kontrollverlusts gelesen werden: Aufklärerische Kommunikation hält am Ideal der Transparenz des Mediums fest, um den Ursprung und Maßstab der Bedeutung eines Textes weiterhin in der Referenz verorten zu können. Romantische Kommunikation hingegen erkennt die konstitutiven Mittlerinstanzen der subjektiven Erfahrung und der Medialität (des Schreibens, des Buchdrucks) an und verortet die Bedeutung somit im Subjekt und/oder im Text. Während Erstere sich beispielsweise im sich ausdifferenzierenden modernen Wissenschaftssystem um eine weitgehende Ausblendung des Faktors Subjektivität bemüht, um zu gültigen Aussagen über die Welt zu kommen, findet Letztere ihren kulturellen Ort im modernen Literatursystem, in dem sich insbesondere die Lyrik in und nach der Romantik durch ein hohes Maß an Selbstreferentialität auszeichnet, die sich vom ›Sprecher‹-Subjekt zum ›Schreiber‹-Subjekt und schließlich auf den Akt des Schreibens und die Bedingungen des Schreibens ausweitet. Der Roman hingegen bleibt im lange vorherrschenden realistischen Paradigma der scheinbar transparenten und primär visuell orientierten Simulation von mündlichen Erzählakten verhaftet, deren unhintergehbare Subjektivität zudem hinter den Plausibilisierungsstrategien des Erzählvorgangs verschwindet. Mit der Wende hin zum nunmehr als literarisch im emphatischen Sinne anerkannten Roman des Modernismus allerdings setzt sich auch hier eine erhöhte Selbstreferentialität durch, die sich sowohl auf die Dimension der Subjektivität (Bewusstseinsstrom, innerer Monolog) als auch auf die Vermittlungsformen des Narrativen selbst bezieht.

Gerade der Roman stand dabei von Beginn an in enger Beziehung zur modernen Wahrheitsproblematik. Für eine Gattung, die sich der Darstellung einer fiktionalen Version der zeitgenössischen Wirklichkeit verschrieben hat, stellt sich die Frage nach dem Unterschied zwischen Lüge und Konstruktion mit besonderer Heftigkeit, bieten doch die neuartigen gedruckten Erzählungen, wie Elena Esposito herausarbeitet, eine »fiktive Realität, die nicht mit der realen Realität konkurriert, sondern eine alternative Beschreibung darstellt, die die verfügbare Komplexität weiter erhöht« (2007: 31). Die hier identifizierte, auf »Realitätsverdoppelung« (31) basierende neue kulturelle Funktion teilt der Roman mit der zur gleichen Zeit entstehenden Wahrscheinlichkeitsrechnung: Beide bieten »jene Orientierungsmöglichkeiten,« die nach allgemeinem Empfinden der damaligen Zeit »die ›reale Realität‹ nicht [mehr] zu bieten hat« (55), beide »stellen […] eine irreale, aber realistische Realität dar, gerade weil sie diese vereinfachen und auf eine Weise durchschaubar machen, die die reale Welt nie zulassen würde« (57). Esposito erblickt in Roman und Wahrscheinlichkeitsrechnung programmatische kulturelle Praktiken, die »die Modernität der Konstruktion« in einer »Gleichzeitigkeit von Kontingenz und […] Abwesenheit von Willkür« verankert (68). Der Roman bindet dabei kontingente, vom Leser im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung wahrgenommene Erzähler- und Figurenperspektiven in eine sich stringent entfaltende Weltkonstruktion derart ein, dass »eine Dynamik in Gang gesetzt wird, die keineswegs notwendig ist, die sich aber dennoch nicht willkürlich entwickelt.« (70) Die Wahrscheinlichkeitsrechnung hingegen sieht vom Visuell-Lebensweltlichen ab und transformiert stattdessen kontingente Informationen aus Gegenwart und Vergangenheit in eine abstrakt-mathematische Projektion der Zukunft, die den Eindruck erweckt, sie könne »reale Realitäten integrieren und […] in die komplexe und gegliederte Ontologie der modernen Gesellschaft umwandeln.« (70)

Damit sind zwei verschiedene Formen der Fiktion markiert, die sich einerseits auf die Leitdiskurse Aufklärung (Wahrscheinlichkeitsrechnung) und Romantik (Roman) beziehen lassen und andererseits bis heute auf unterschiedliche Weise die Funktion der Realitätsverdoppelung erfüllen. Esposito verweist hier auf den

paradoxe[n] Zustand einer Gesellschaft, die die Realität der Fiktion bestreitet, die aber zugleich Umfragen und Statistiken die zweifelhafte Rolle eines ›Realitätsersatzes‹ zuweist. […] Während im Bereich der fiction das Bewußtsein für die Unwirklichkeit der fiktiven Realität […] weit verbreitet ist, scheint dieses Bewußtsein in bezug auf die Wahrscheinlichkeit viel weniger stark ausgeprägt zu sein. (70–71)

Auf der einen Seite also steht eine »eigenartige quantitative Blendung« (72), die als »funktionierende Simplifikation« bis heute Empirie und damit die exklusive Berechtigung zu Aussagen über die Wirklichkeit für sich beansprucht (73). Auf der anderen Seite steht ein erfahrungsgesättigter Weltzugang qualitativer oder hermeneutischer Art, dem aufgrund seiner subjektiven Anteile Objektivität abgesprochen wird, obwohl ihm doch im Gegensatz zur Formalisierung quantitativer Studien ein größeres Potential zur Berücksichtigung von »Wechselwirkungen, Rückbezüglichkeiten und Kontingenz« zur Verfügung steht (73). Die eingangs beschriebene Kritik am Konstruktivismus, so zeigt sich hier, beruht darauf, dass »die Vorstellung vom Sonderstatus der realen Realität nach wie vor weit verbreitet ist.« Dabei werden doch »alle theoretisch anspruchsvollen Varianten des Konstruktivismus« (71) angesichts der Komplexität der Welt nicht müde darauf hinzuweisen, dass es nötig wäre, »Kontrollformen zu denken, die auch funktionieren, wenn man nicht die Welt, sondern die Beobachter zum Bezugspunkt macht.« (73)

In anderer Worten: Was real ist, ist die Operation der Beobachtung, nicht ihr Inhalt, der immer Re-Präsentation der Wirklichkeit bleibt und niemals zur Realität selbst in Kontakt steht. Der Roman hat diese Einsicht, nicht zufällig parallel zum Linguistic Turn der Philosophie, im Modernismus in gesteigerte Selbstreferentialität linguisitischer, narrativer und diskursiver Art umgesetzt, womit sein Akzent sich von Repräsentation auf Performativität verlagerte, ohne dass deshalb die Repräsentation völlig aufgegeben wurde, was ja angesichts der Zeichenhaftigkeit von Sprache auch nur schwer zu erreichen ist. Der Roman erfüllt zudem bis heute seine im 18. Jahrhundert angelegte Funktion einer Überführung von privater individueller Erfahrung in den Bereich der Öffentlichkeit, auch wenn er angesichts der Verlagerung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit von der Welt des Buchdrucks in eine Welt der elektronischen und digitalen Medien zunehmend marginalisiert erscheint. Er ist damit das früheste und bis zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich komplexeste Medium für den Umgang mit dem, was Fritz B. Simon ›weiche Realitäten‹ nennt, »bei denen die Beobachtung zumindest das Potential hat, den beobachteten Gegenstand zu verändern«: »Wer gesellschaftliche Verhältnisse […] in einer bestimmten Weise beschreibt, verändert sie (zumal diese Beschreibung, wenn sie kommuniziert wird, Element dessen ist, was beschrieben wird)« (Simon 2017; ›harte Realitäten‹ sind demgegenüber »Gegenstände […], die sich durch die Tatsache des Beobachtetwerdens wenig beeindrucken lassen«, wie z.B. Sonne und Sterne). Als reale Operationen sind also Konstruktionen insbesondere ›weicher Realitäten‹ »nicht nur selbst real, sondern haben auch reale Auswirkungen, sie sind […] ›performativ‹« (Sasse und Zanetti 2017). Und dasselbe gilt, womöglich in etwas geringerem Ausmaß, auch für Konstruktionen ›harter Realitäten‹, die im Kontext der Naturwissenschaften als ›Wirklichkeitserzählungen‹ kommuniziert werden (vgl. z.B. Harré 1990, Brandt 2009), so dass auch eine großangelegte Geschichte der Objektivität in ihrem letzten Kapitel letztlich eine Akzentverschiebung von der Repräsentation zur Präsentation konstatiert (Daston und Galison 2007: 385)

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