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Literatur(-Wissenschaft) und Krise

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Die Literaturwissenschaft gerät selbst in eine Krise, wenn sie es nicht vermag, mit der krisenhaften Welt umzugehen. Dies kann dann der Fall sein, wenn sie ihre Grazie der Seele (vis motrix) verliert. Das heißt, dass die Literaturwissenschaft über eigene Autonomie verfügen soll, die ihr selbst dient und ihr selbst eine antigravitative Beweglichkeit innerhalb der gravitativen Weltordnung gewährt. Anders gesagt: Sie muss frei sein – vor allem von Interessen. Sie ist ein ästhetischer Ausspruch, ein geistreicher Witz, ein »intellektuelles vermögen« (DWB, Bd. 30, Sp. 862), welches eben dem »wesen der dichtung« (Sp. 863) gleichkommt. Das ist die Voraussetzung für jene Literaturwissenschaft, die die Transzendentalität der Literatur mitbekommt. Daher entspricht sie nicht zuletzt dem Said’schen Postulat des Intellektuellen: »exile and marginal, as amateur, and as the author of a language that tries to speak the truth to power« (Said 1994: xvi).

Wenn man die Literaturwissenschaft zur Anwendung bringt, um einerseits Geld aus ihr zu generieren und um sie andererseits durch Geld zu retten, läuft man Gefahr, sie ihrer Autonomie zu berauben. Hierfür ist ein Zitat aus Kleists berühmtem Aufsatz aufschlussreich: »Sehen Sie den jungen F… an, wenn er, als Paris, unter den drei Göttinnen steht, und der Venus den Apfel überreicht; die Seele sitzt ihm gar (es ist ein Schrecken, es zu sehen) im Ellenbogen« (Kleist 92001: II, 342). Entscheidet sich die Literaturwissenschaft für ein äußeres Ziel, dann ent-zweit sie sich mit sich selbst, zerreißt sich und verliert ihren inneren Schwerpunkt. »Niemand kann zwei Herren dienen: Entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon« (Matthäus 6:24). Möge Gott verhüten, dass die Literaturwissenschaft dem Geld zum Opfer fällt (sondern umgekehrt). Eine angewandte Literaturwissenschaft, die sich das Angewandt-Sein zum Ziel setzt, ist eine herumdilettierende Wissenschaft, die sich selbst zerstört. Was Kleist in Hinsicht auf die Naturwissenschaften sagt, gilt hier ebenfalls: »Ohne Wissenschaft zittern wir vor jeder Lufterscheinung, unser Leben ist jedem Raubtier ausgesetzt, eine Giftpflanze kann uns töten – und sobald wir in das Reich des Wissens treten, sobald wir unsre Kenntnisse anwenden, uns zu sichern u. zu schützen, gleich ist der erste Schritt zu dem Luxus und mit ihm zu allen Lastern der Sinnlichkeit getan« (Kleist 92001: II, 682). Unter dem Joch der ökonomischen Nutzbarkeit darf man keine transzendentale, kritische Literaturwissenschaft schreiben, die die Sinnlichkeit in Zweifel zieht, und man bedarf auch keiner. Denn es gibt schon genug utilitaristische Gesinnungen im Umgang mit Krisen, indem jede sich praktischerweise auf eine Lösung richtet. Es ist aber fast unwiderlegbar, dass diese diesseitigen Lösungen über kurz oder lang zu einer neuen Krise führen könnten.

Was soll die Literaturwissenschaft in der Krise leisten? Die Literatur bietet eine Zuflucht, in der sich wohl nichts auflöst, doch jeder sich erlöst. Sie bietet einen Witz, eine Anekdote, ein Fastnachtsspiel im größeren Sinne, ein Sanatorium im Zauberberg. Anders gesagt: Sie eröffnet einen Vakuumraum in der ausweglosen Realität, damit man sich erholen oder vielmehr rehabilitieren kann. Dementsprechend ist die Literaturwissenschaft ein Peter Pan, The Boy Who Wouldn’t Grow Up, der den Leser vom Alltag zum literarischen Neverland und zugleich durch Abenteuer zu sich selbst führt: »Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen« (Matthäus 18:3). Aus der irdischen Perspektive seien wir Außenseiter, Sonderling, Zyniker oder weltfremde Spinner – seien es im ursprüng­lichen Sinne oder auch nicht – und auf das Peter-Pan-Syndrom könne auch hingewiesen sein. Aber gerade die Literaturwissenschaft, die so exzentrisch ist, dient der Welt als Instanz der Reflexion – vor allem für denjenigen, der seiner zentralistischen Überzeugung zuliebe keine Gefahr der Dissoziation verträgt und deshalb keinen Gegenstand zur Reflexion hat. So formuliert Bernhard Waldenfels in Hinsicht auf das platonische Höhlengleichnis: »Die Wende kommt nicht dadurch zustande, daß Sehende den Schauplatz wechseln, so daß sie Höheres, Geistiges zu sehen bekommen; sie besteht vielmehr darin, daß der Schauplatz selbst sich wandelt und Sehende sehend werden« (Waldenfels 2017: 85). Die Literaturwissenschaft kann auf den Wandel des Schauplatzes auswirken, indem sie dem Sehenden die Literatur als Schauspiel vermittelt, einen Gegenstand, sein verlorenes Ebenbild, obwohl das Ebenbild keineswegs auf naive Weise darzustellen ist. »Darum rede ich zu ihnen durch Gleichnisse. Denn mit sehenden Augen sehen sie nicht, und mit hörenden Ohren hören sie nicht; denn sie verstehen es nicht« (Matthäus 13:13). Der Satz wurde uns gegeben und wir geben ihn weiter. Literaturwissenschaftler*innen sollen sich als Adressaten des Briefes von Novalis an Julius verstehen: »Wenn irgend jemand zum Apostel in unserer Zeit sich schickt, und geboren ist, so bist du es. Du wirst der Paulus der neuen Religion seyn, die überall anbricht – einer der Erstlinge des neuen Zeitalters – des Religiösen« (Novalis 1960ff: III, 493).

Gegen die globalen Krisenzeiten vermag die Literaturwissenschaft wohl nicht unmittelbar zu wirken. Den globalen Krisenzeiten gegenüber kann sie allerdings einen universalen konstanten Standpunkt bieten, indem sie Phänomene durchleuchtet und bis zu deren Struktur gelangt. Die Idee, die nur mittelbar – z.B. durch Gleichnisse – zu erkennen ist, bringt sie mithilfe ihres transzendentalen ›Schau-Spiels‹ zur intellektuellen Anschauung und lässt ihren Leser bzw. Zuschauer selbst zur Erkenntnis kommen. Aus dieser literarischen Offenbarung kann ein ***-Mittel gegen die Krisen entstehen, das womöglich Anwendung findet. Was aber das *** ist, geht die Literaturwissenschaft bereits nichts mehr an. Dies klingt resignativ. Es ist allerdings eine progressiv-resignative Verfahrensweise. Denn jedes Sternchen ist wiederum ein Phänomen. Und trotzdem schimmert die Idee im Finstern unverändert, solange wir schreiben.

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