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Mittelbare Wahrheiten

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Mit all dem zeigt sich, dass Niklas Luhmanns Modellierung der modernen Gesellschaft als sich ausdifferenzierender Zusammenhang autopoietischer, d.h. sich selbst hervorbringender und vorantreibender Kommunikationen in Kombination mit den skizzierten literatur- und kulturgeschichtlichen Einsichten einen möglicherweise entscheidenden Schlüssel zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Situation bieten könnte. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Stichwort von der ›Realitätsverdoppelung‹ (vgl. dazu auch Luhmann 2000: 58–64), das wiederum im Zusammenhang mit dem systemtheoretischen Verständnis von ›Sinn‹ zu sehen ist:

Sinn gibt es ausschließlich als Sinn der ihn benutzenden Operationen, also auch nur in dem Moment, in dem er durch Operationen bestimmt wird, und weder vorher noch nachher. Sinn ist demnach ein Produkt der Operationen, die Sinn benutzen, und nicht etwa eine Weltqualität, die sich einer Schöpfung, einer Stiftung, einem Ursprung verdankt. (Luhmann 1997: 44)

Ganz im Sinne der ›Realitätsverdoppelung‹ existiert ›Sinn‹ nun aber in zwei Dimensionen: Obwohl es nicht (immer) notwendig wäre, wird der der Welt im systemtheoretischen Verständnis innewohnende operativ-prozesshafte Sinn von Menschen unablässig mit ›Welt‹ (Repräsentationen, Zeichen, Bildern, Sprache) gefüllt. Für die ›Welt‹ ergibt sich durch die in dieser Dimension gegebenen Speicherfunktion bei gleichzeitiger Simulation von Weltreferenz eine Suggestion von Bedeutung, die häufig für wahr im Sinne der Korrespondenztheorien genommen wird, obwohl sie doch bestenfalls wahr im Sinne der Kohärenz-, Konsens- oder Diskurstheorien der Wahrheit ist. Auch über Roman und Wahrscheinlichkeitsrechnung hinaus liegt somit in der modernen Kultur eine Realitätsverdoppelung vor, die es schwer macht, jenseits einer Anerkennung dieser konstitutiven Differenz zwischen Welt und ›Welt‹ von der Wahrheit zu sprechen. Aus dieser Perspektive gibt es immer mindestens zwei Wahrheiten, nämlich einerseits die operative Sinnhaftigkeit des (evolutionären) Vollzugs der Welt, wie sie sich in den fortlaufenden Systemoperationen auf organischer, psychischer und sozialer Ebene manifestiert, und andererseits den Reim, den sich Menschen in Form von Sinn (normale Sprachverwendung) und Bedeutung darauf zu machen vermögen.

In jüngerer Zeit scheint zudem die Kluft zwischen operativem Sinn und menschlichem (Be-)Deutungsvermögen größer zu werden, wobei Letzteres gegenüber Ersterem in die Defensive gerät. So nennt etwa Armin Nassehi die beiden Dimensionen in seinem bezeichnenderweise Die letzte Stunde der Wahrheit betitelten Versuch, systemtheoretisch geschultes komplexes Denken in den öffentlichen Diskurs einzuspeisen, »Zwei Welten« und fragt provokativ: »Gibt es analoges Leben in digitalisierten Welten?« (2015: 159) In der Tat lassen sich die spezifischen Varianten der Realitätsverdoppelung vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart verfolgen, wobei wiederum der Mediengeschichte eine zentrale Rolle zukommt. Aus der Linie Aufklärung – ›harte Realitäten‹ – Wissenschaft – Wahrscheinlichkeitsrechnung gehen dann die digitalisierten Welten der Gegenwart hervor, die erahnen lassen, dass die moderne Welt des Buchdrucks und die damit einhergehende Buchkultur nunmehr in der Tat durch eine postmoderne Algorithmuskultur (Striphas 2015) abgelöst wird (oder wurde), in der ›die rechnerische Konstruktion der Wirklichkeit‹ (Seyfert und Roberge 2017) dominiert. Die Linie Romantik – ›weiche Realitäten‹ – Literatur – Roman hingegen bleibt dem analogen Leben verpflichtet, das zunehmend in die Defensive gerät, und neben der Literatur und der Literaturwissenschaft trifft dies auch die Geisteswissenschaften insgesamt.

Was bleibt ist ein Dilemma: Elena Esposito bemerkt trocken, dass »die Realität […], wie wir inzwischen wissen, in der Regel wenig realistisch« ist (2007: 76), und dennoch sind, wenn man so will, ›realistische‹, d.h. komplexitätsreduzierende und an menschliche Erfahrungshorizonte angepasste Zugänge der einzige der breiteren Öffentlichkeit kommunizierbare Weg, sich der Wirklichkeit über ›wahre‹ Aussagen anzunähern. Das moderne Wissenschaftssystem versuchte hier im Zuge der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft Abhilfe zu schaffen, indem es ›Objektivität‹ operativ-prozessual absicherte, damit die moderne Gesellschaft weiterhin mit ›ontologischen‹ Gewissheiten versorgt werden konnte. Gleichzeitig aber vollzog das moderne Wissenschaftssystem selbst die von Luhmann konstatierte Umstellung auf ein konstruktivistisches Selbstverständnis. Darüber hinaus generierten andere sich ausdifferenzierende Kommunikationssysteme ihre eigenen Rationalitäten und Wahrheiten, die jeweils auf der systemisch operativen Ebene sinnhaft sind und systemspezifische Anschlussfähigkeit gewährleisten, während sich der semantische und weltanschauliche Horizont der modernen Gesamtgesellschaft durch diese Spezialisierungen jedoch zunehmend differenzierte und fragmentierte. Dabei ist die jeweils systemspezifische Kommunikation in unterschiedlichem Maße sprachgebunden und damit bedeutungsgeladen: Wissenschaftliche Kommunikation generiert ›objektive‹ Wirklichkeitserzählungen, literarische Kommunikation eher subjektive, und die Massenmedien schließen sich scheinbar an erstere an, bedienen dabei aber immer auch subjektive Sinndimensionen. In anderen Kommunikationssystemen ist demgegenüber die repräsentative Dimension eher sekundär und operative Faktoren rücken in den Vordergrund, wie die Verhandlung von Macht und Eigentum und Recht im Politik-, Wirtschafts- und Rechtssystem (Haben oder Nicht-Haben, das ist dort die Frage). Alle diese Systeme generieren darüber hinaus ihre eigenen Inklusions- und Exklusionsmechanismen, die den Zugang zur öffentlichen Kommunikation durch Gatekeeping-Funktionen regulieren und verknappen.

Was gegenüber dieser Beschreibung der buchdruckbasierten modernen Gesellschaft gegenwärtig wirklich neu zu sein scheint, ist die mit der durchgreifenden Digitalisierung einsetzende De-Differenzierung: Jedermann hat heutzutage über die sogenannten sozialen Medien Zugang zum öffentlichen Raum des Internets, der sich aber entgegen aufklärerischer Ideale und früher Interneteuphorie nicht zu einem basisdemokratisch vernunftgeleiteten Verhandlungsfeld entwickelt hat, sondern vielmehr in einem neuartigen Differenzierungsprozess Filterblasen (Pariser 2012) mit ihren jeweils eigenen Wirklichkeitserzählungen (Tophinke 2009) generiert, in denen sich Meinungen nahezu in Echtzeit und unterstützt von algorithmischen Steuerungsprozessen stets bestätigen und mitunter ins Hysterische aufheizen können. An die Stelle der Wahrheiten der Funktionssysteme tritt dann die aufgeblasene gefühlte Wahrheit jedes einzelnen in digitalen Kommunikationsprozessen involvierten psychischen Systems, der innerhalb der Blase auch kein Außen anderer Meinungen mehr entgegentritt. Das Internet und die sozialen Medien übernehmen dabei mit zunehmender Dominanz eines nicht mehr funktionssystem- sondern nunmehr filterblasenspezifischen operativen Sinns die Konstruktion der gesellschaftlich wahrgenommenen (und wahrnehmbaren) Wirklichkeit und intensivieren dabei Luhmanns prominent zu Beginn und Ende seines Buches über Die Realität der Massenmedien platzierte skeptische Diagnose: »Was wir über die Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. […] [W]ie ist es möglich, Informationen über die Welt und über die Gesellschaft als Informationen über die Realität zu akzeptieren, wenn man weiß, wie sie produziert werden?« (1996: 9 und 215)

Die Antwort ist: schwer. Allerdings gibt es, wie geschildert, keine Alternative zu diesen prinzipiell defizitären Informationen über die Realität. Es muss also darum gehen, die Mittelbarkeit aller ›Wahrheiten‹ anzuerkennen im Sinne einer Kalkulation der für Informationen konstitutiven Einheit der Differenz von operativem Sinn im jeweils gegebenen Kommunikationszusammenhang einerseits und ihrer Bedeutungsebene andererseits. Damit verschiebt sich der Interpretationsprozess von seinem traditionellen Fokus auf Repräsentation/Bedeutung hin zur Performativität. Gefordert ist hier, und dies gilt sowohl für die (Geistes-)Wissenschaften als auch für die (kritische) Öffentlichkeit, ein neues Verständnis von Interpretation, das sich an der durchaus vorhandenen Wortbedeutung im künstlerischen Bereich orientiert (die Interpretation eines Dramas im Theater etwa im Gegensatz zu der eines Lesers). Steven Connor hat dies in einem bemerkenswerten Aufsatz auf den Punkt gebracht:

Now interpretation is part of a general practice of putting-into-practice […] This new, expanded form of interpretation does not say what things say, but shows how they work, which is to say, how they might be worked out. […] The purpose of playing the game is not to show what the game means […], but to explore what it makes possible. […] Interpretation has been drawn into a general performativity, in which informing interacts with performing […] Interpretation is no longer to be thought of as the solving of a riddle, or the cracking of a code […], but rather the playing out of a game, the running of a programme, the perfecting of a routine, the exploiting of a potential. […] The pursuit of interpretation now asks, not what does an object mean, but what are the implications of what it might mean – what does what it means mean? (Connor 2014: 184–186)

Im Lichte eines solchen Verständnisses von Interpretation wird deutlich, dass der von den Kritikern des Konstruktivismus aufgemachte Gegensatz von ›Konstruktion‹ und ›Realität‹ nicht haltbar ist, weil eben nur die Operation der Konstruktion real ist, ihr Ergebnis aber immer Fiktion im Sinne einer Realitätsverdoppelung. Der Gegensatz wird damit performativ, er hat das Ziel, die eigene Konstruktion »als ›natürlich‹, als ›gegeben‹, als ›Tatsache‹« auszugeben (Sasse und Zanetti 2017) und sich damit vor dem Hintergrund, dass »die Vorstellung vom Sonderstatus der realen Realität nach wie vor weit verbreitet ist« (Esposito 2007: 71), scheinbar unwiderlegbar ins Recht zu setzen.

Die Literaturwissenschaft ist angesichts ihrer langen Erfahrung mit Phänomenen der Realitätsverdoppelung bestens platziert, um im Verbund mit anderen Geisteswissenschaften der Komplexität der Dinge im Lichte dessen, was über sie behauptet wird, auf der Spur zu bleiben. Es ist allerdings eben diese Komplexität und (mindestens) Doppelbödigkeit der Phänomene zwischen operativem Sinn und den mit ihm verwobenen Bedeutungen, die eine Einspeisung derartiger Analysen in den breiteren öffentlichen Diskurs so schwierig macht, einen Diskurs, in dem es, wenn überhaupt, nur unter anderem um Wahrheiten geht. Stattdessen ist dieser Diskurs immer überformt von Machtansprüchen und/oder Befindlichkeiten, denen die Wissenschaft jenseits von technologischen Verwertbarkeiten wenig zu bieten hat, zumal ihre Einsichten sowohl in den Natur- als auch in den Geisteswissenschaften immer abstrakter werden und sich immer weiter von der Lebenswirklichkeit von Nicht-Wissenschaftlern entfernen. Die Rückkehr in den öffentlichen Raum führt dann häufig in die Banalisierung und Trivialisierung. Auf seinem soeben erschienenen Album Dark Matter erfasst der amerikanische Satiriker Randy Newman diese Entfremdung sehr schön in seinem einer Art Mini-Oper gleichenden achtminütigem Eröffnungstitel ›The Great Debate‹, in dem ein Conferencier Wissenschaftler in einem (sehr amerikanischen) Unterhaltungssetting dazu anhält, die Welt zu erklären:

NARRATOR: Dark matter, go ahead

SCIENTIST: Dark matter is out in space

It’s 75 % of everything

NARRATOR: Just a moment, sir

Do yourself a favor

Use our music

People like it

And your music is making people sick

No? Allright, it’s a free country, go ahead

Dark matter

What is it?

SCIENTIST: We don’t know what it is

But we think it’s everywhere

NARRATOR: I’d like to take a look at it

Can we get some down here?

SCIENTIST: Ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha ha

Of course not!

NARRATOR: Let me get this straight

You don’t know what it is

You don’t know where it is

And we can’t get any

Put that to the one side

Let’s put the Lord, faith, eternity,

whatever on the other side

A show of hands?

[CHORUS]: I’ll take Jesus

I’ll take Jesus

I’ll take Jesus everytime […] (Newman 2017)

Angesichts dieser Entfremdung wird es in Zukunft darum gehen, die für die moderne Kultur konstitutiven Legitimationsmechanismen für Aussagen über die Wirklichkeit (Wissenschaft, Literatur, Massenmedien) aus der Welt des Buchdrucks in die digitalisierte Welt zu überführen. Dafür gibt es angesichts des selbstorganisierenden Charakters der (post-)modernen Kommunikation keine Patentrezepte, aber es gilt, eine kritische Beobachtungsperspektive zu wahren, von der aus sich abzeichnende Ordnungsmechanismen frühzeitig identifiziert und womöglich in ihrer Funktionalität unterstützt werden können. Eine medien- und kulturwissenschaftlich informierte Literaturwissenschaft erscheint dabei als Beobachtungs- und Reflexionsinstanz unverzichtbar.

Literaturwissenschaften in der Krise

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