Читать книгу Literaturwissenschaften in der Krise - Группа авторов - Страница 9

Geisteswissenschaften in der Krise

Оглавление

Die Krise der Geisteswissenschaften ist sicher kein neues Thema (Martus 2017). Es ist also nicht sonderlich überraschend, dass ein im Februar 2017 veröffentlichter Artikel von Spiegel-Autor Martin Doerry die aktuelle Relevanz der Germanistik als Studienfach in Frage stellt. Die Germanistik, so Doerry, sei gesellschaftlich zum Schweigen verurteilt, denn »[w]er aus der akademischen Nische heraustritt, muss um sein Ansehen fürchten.« (Doerry 2017) Die Germanist*innen Heinz Drügh, Susanne Komfort-Hein und Albrecht Koschorke – Letzteren zitiert Doerry mit den Worten, »[d]as Fach habe ›keinen Biss‹ und ›keine Identität‹ mehr« (Doerry 2017) – kritisierten Doerrys Aussagen in der FAZ. Die Germanistik vermittle, so die AutorInnen, »ein spezifisches Wissen in Fragen der Form«, das »den Blick für Fiktionalisierungen und ihre strategischen Einsätze öffnen [könne], auf die wir nicht nur in der Kunst, sondern vielleicht verstärkt auch in der politischen Wirklichkeit treffen.« (Drügh, Komfort-Hein und Koschorke 2017) Und auch andere Vertreter des Fachs engagierten sich für die Relevanz der germanistischen Literaturwissenschaft (zum Beispiel Steffen Martus, ebenfalls in der FAZ, und Klaus Kastberger in der ZEIT). Die Kritik an Doerrys Artikel ist jedoch mehrheitlich darauf ausgerichtet, die Relevanz und gesellschaftliche Nützlichkeit des Fachs Germanistik zu verteidigen und übersieht damit, wie Doerrys Artikel selbst, die wesentlich weitreichendere Frage nach der Position der Geisteswissenschaften in Krisenzeiten. Hierzu müssen in der Tat nicht nur die Germanisten, wie von Doerry gefordert, »Stellung beziehen« (Doerry 2017), gerade weil sie einen wichtigen Beitrag zum Umgang mit diesen Krisen leisten können.

Die mangelnde gesellschaftliche Wirkung geisteswissenschaftlicher Forschung ist jedoch nicht allein auf das zu geringe Selbstbewusstsein der Geisteswissenschaften oder die gesamtgesellschaftliche Irrelevanz ihrer Forschungsgegenstände zurückzuführen. Vielmehr handelt es sich um ein systematisches, kulturelles Problem, das Achille Mbembe im Rahmen eines Kommentars zu einem aktuellen Forschungsprogramm der südafrikanischen Regierung folgendermaßen beschreibt: »The assumption is that coupled with science and technology, market capitalism will sort out most of our problems. Not once does it mention the humanities.« (Mbembe 2012a: 8) Mbembe führt dies vor allem auf die Dominanz neoliberaler Wirtschaftsmodelle zurück, die auch die Gewichtung natur- und geisteswissenschaftlicher Forschung an Universitäten beeinflusst. Dabei bezieht er sich zwar vor allem auf Südafrika; dass es sich aber nicht um ein genuin südafrikanisches, sondern ein globales Problem handelt, wird vor allem beim Blick in die USA und nach Großbritannien deutlich, wo neoliberale Wirtschaftsüberlegungen noch mehr als im deutschsprachigen Raum die Struktur der universitären Landschaft verändert haben. Gerade hier, im industrialisierten, kapitalistischen Norden liegt ein großer Teil des Problems, wie Philipp Blom argumentiert:

Die reichen demokratischen Länder, die großen Wirtschaftsmächte, die G7 oder G8, die ehemaligen Kolonialherren und ehemaligen Industriestandorte sind in ein reaktionäres Zeitalter abgerutscht. Ihr schönstes Gefühl ist Nostalgie. Sie wollen keine Zukunft. Zukunft ist Veränderung, und Veränderung ist Verschlechterung, bedeutet millionenfache Migration, Klimawandel, kollabierende Sozialsysteme, explodierende Kosten, Bomben in Nachtklubs, Umweltgifte, ausbleichende Korallenriffe, massenhaftes Artensterben, versagende Antibiotika, Überbevölkerung, Islamisierung, Bürgerkrieg. Zukunft sollte vermieden werden. Die Menschen in der reichen Welt wollen nur, dass die Gegenwart nie endet. (Blom 2017: 16)

Gerade deshalb kann der krisengeplagte globale Süden, in dem die Menschen auf kreative Eigenlösungen angewiesen sind, einen besonderen Modellcharakter für die Lösung dieser Probleme einnehmen, wie auch Mbembe argumentiert. Jenseits euro-amerikanischer Theoriemodelle und altbekannter Narrative könnten kreative Fragestellungen eine Schlüsselrolle in der Neubewertung der Geisteswissenschaften (und Universitäten insgesamt) jenseits ihrer neoliberal-kapitalistischen Nützlichkeit einnehmen. Dies kann und muss im Anthropozän auch eine Neubewertung der Rolle des Menschen (im Englischen durch das »Human« im Begriff »Humanities« repräsentiert) und seiner Auswirkungen auf diesen Planeten beinhalten. Denn nur wenn Geistes- und Naturwissenschaften zusammenarbeiten und neue Fragestellungen und Problemlösestrategien entwickeln, werden wir der Klimakrise überhaupt etwas entgegenzuhalten haben.

Die siebzehn Kapitel des vorliegenden Bandes setzen sich in diesem Sinne kritisch mit der Rolle der Geisteswissenschaften in Krisenzeiten auseinander. In vier Teilen bieten sie Bestandsaufnahmen, Lektüren, Anwendungen und Interventionen.

Ausgehend von Rita Felskis Überlegungen zu den Aufgaben der Geisteswissenschaften – einerseits konservativ-konservatorisches »curating« bzw. »conveying«, andererseits tendenziell innovatives »criticizing« bzw. »composing« – konstatiert Dorothee Kimmich in einer ersten Bestandsaufnahme zwei Tendenzen in der Literaturwissenschaft. Die konservativ-konservatorische Richtung der Germanistik wird zwangsläufig in kommenden Jahrzehnten schrumpfen, so Kimmich. Dagegen wird (und sollte) das innovative Potential des Faches einen Zuwachs erleben. In diesem Sinne entwirft Kimmich ein Programm für solche Fächer bzw. Studiengebiete, die auf die Arbeit des Urteilens und die Erläuterung des Urteils fokussiert sind. In dieser Grauzone des impliziten Wissens, der Ambiguität, der Diffusitätskompetenz – also in Bereichen des Denkens/Handelns, die für unsere heutige Gesellschaft in Zeiten multipler Krisen höchst relevant sind – liegt der eigentliche Kernkompetenzbereich der Geisteswissenschaften. Das Urteilen zu untersuchen ist wichtig, da, so Kimmich, »Literatur- und Kulturwissenschaften gerade das kompliziert machen, was auf den ersten Blick einfach erscheint. Sie brechen das Normale auf, ändern den Kontext und machen sichtbar, was sich im ›Normalen‹ verbirgt«.

John K. Noyes etabliert im zweiten Kapitel ein konzeptuelles Dreieck aus den Eckpfeilern Philosophie, Naturwissenschaften bzw. Technologie und Literatur(wissenschaft). Da wo sich die Philosophie im Zuge ihrer zunehmend sichtbar werdenden Irrelevanz für die Welt der Technologie gänzlich von der Realität abgewandt hat, und wo die naturwissenschaftliche Fetischisierung des Fortschritts als ihre eigene Bankrotterklärung fungiert, kommt der Literatur(wissenschaft) eine wichtige Rolle zu: und zwar die des Möglichmachens einer Rückkehr zu einer scheinbar von der Technologie überholten Vergangenheit, so dass die Literatur(wissenschaft) als ein Locus der Infragestellung des Fortschrittsglaubens hervorzutreten vermag. Literatur(wissenschaft) übernimmt so eine Wächterrolle für das Unbewusste des naturwissenschaftlich modellierten Menschen. Viele Fragen der Technologie, z.B. die ihrer Gewinne und Verluste, können nicht von ihr selbst beantwortet werden, sondern müssen aus ihrem Unbewussten, d.h. aus dem Bereich der Literatur(wissenschaft) beantwortet werden – und zwar im Dialog mit einer neu konzipierten Version der Philosophie, der (kritischen) Theorie.

I-Tsun Wan stellt im dritten Kapitel aktuelle Krisennarrative in den historischen Zusammenhang der krisenhaften Welt um 1800. Seine beispielhafte Lektüre zeitgenössischer literarischer (Kleist) und philosophischer (Schlegel) Positionen zielt dabei auf die Beschreibung einer transzendentalen Geschichtsschreibung, die schließlich eine Überwindung der gravierenden – d.h. ausweglos erscheinenden – Krise ermöglicht. Im Spannungsfeld von Literatur und Wissenschaft, Kommerzialisierung und Religion argumentiert Wan für eine Rückbesinnung auf eine ethisch-religiöse Transzendentalität der Literatur.

Vor dem Hintergrund ›postfaktischer‹ politischer Diskurse (Trump et al.) und solcher Kommentare, die die Schuld für die Untergrabung objektiver Wahrheitsmaßstäbe vor allem bei den linksradikalen Theoretikern der Postmoderne suchen, stellt Christoph Reinfandt in Kapitel vier eine Typologie der gegenwärtigen Wahrheitsbegriffe auf. Anhand von Niklas Luhmanns Modellierung der modernen Gesellschaft als ein sich ausdifferenzierender Zusammenhang autopoietischer, d.h. sich selbst hervorbringender und vorantreibender Kommunikationen, schlägt Reinfandt vor, dass literatur- und kulturgeschichtliche Einsichten einen möglicherweise entscheidenden Schlüssel zum besseren Verständnis der gegenwärtigen Situation bieten können.

In Kapitel fünf geht es Thomas Kater um die Ausdifferenzierung aktueller Krisenzusammenhänge für die Literaturwissenschaft, die sich – möglicherweise zu Recht – genötigt sieht ihre Relevanz in Krisenzeiten zu rechtfertigen. Kater attestiert der Literaturwissenschaft weniger ein Relevanz- denn ein Kommunikationsproblem, lägen ihre Kernkompetenzen doch gerade im schmalen operativen Bereich an der Grenze von Fakt und Fiktion, also im »Modalitätsmanagement« von Texten, das er konkret am Beispiel postfaktischer Auseinandersetzungen in den Social Media (zwischen dem AfD Landtagsabgeordneten Björn Höcke und dem ARD faktenfinder der Tagesschau) aufzeigt. Statt einer Krise attestiert Kater der Literaturwissenschaft die »Notwendigkeit zur Selbstreflexion im Hinblick auf ihre eigene Relevanz« – sind ihre Kompetenzen doch heute gefragt wie selten zuvor.

Raphael Zähringers Kapitel sechs beginnt die Reihe der Lektüren mit einem Plädoyer für die narratologische Auseinandersetzung mit postfaktischer Politik, die, genau wie Literatur, als »fiktionale Projektionsfläche von Wirklichkeit« gelesen werden kann. Ausgehend von Monika Fluderniks Typenmodell mündlicher Erzählformen und Juri Lotmans Plot-Typologie setzt sich Zähringer mit der »Literaturhaftigkeit« postfaktischer Medientechniken auseinander und kommt zu dem Schluss, dass sich die multimedialen Strukturen postfaktischer Politik mittels literaturtheoretischer Werkzeuge nicht nur beschreiben lassen, sondern dass dies eine sonst kaum führbare Debatte über solche Narrative erst ermöglicht.

In Kapitel sieben setzen sich Robert Leucht und Carl Niekerk anhand konkreter Redebeispiele mit den narrativen Strategien populistischer Politiker (Trump, Blocher, Wilders) auseinander – darunter die Etablierung simplifizie­render narrativer Konzepte, z.B. eines »wir«-Gefühls über die Evozierung eines »Volksbegriffs«, dem eine Gruppe von »Feinden« gegenübergestellt wird, oder die Erzeugung von Feindbildern über das Umdefinieren der »Rede des Feindes« für die eigenen Zwecke. Leucht und Niekerk entwickeln so eine Narratologie populistischer Rhetorik, die neue Fragen für die Auseinandersetzung mit der­artigen politischen Strategien aufwirft und auch die unausweichliche Frage stellt, was wir als Gesellschaft – und ganz konkret auch die Literaturwissenschaften – diesen Narrativen entgegensetzen können.

Eine ganze Reihe aktueller literarischer Krisennarrative steht im Zentrum von Sascha Seilers Kapitel acht, das sich konkret mit der Frage nach der Darstellung und Untersuchung von Grenzüberschreitungen in der Literatur und durch die Literaturwissenschaft auseinandersetzt. Lähmende Globalisierungsangst steht, so Seiler, im Zentrum des 2017 erschienenen Romans Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens von Roman Ehrlich, ebenso wie in Simon Strauss’ ebenfalls in diesem Jahr veröffentlichtem Roman Sieben Nächte. Beide Texte können damit exemplarisch für die literarische Darstellung aktueller Ängste gelesen werden.

In Kapitel neun setzt sich Nele Guinand anhand einer Lektüre von Friedrich von Borries Klimakapseln mit der Frage auseinander, wie das Leben im reichen Globalen Norden in Zukunft aussehen könnte, und zeigt dabei die vielfältigen ökologischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Verstrickungen von arm und reich, globalem Norden und globalem Süden, willkommenem, anerkanntem Bürger und illegalem, aus der Gesellschaft ausgestoßenem Migranten auf. Von Borries Text, so argumentiert Guinand, präsentiert ein paradoxes Zukunftssystem, dass sich gleichzeitig als literarische Intervention zu aktuellen wirtschafts- und klimapolitischen Zusammenhängen lesen lässt.

Stefan Hofer-Krucker Valderrama eröffnet die Reihe der Anwendungen mit konkreten Überlegungen zur didaktischen Aufbereitung des genuin zur Literatur (und damit auch zur Literaturwissenschaft) gehörenden Krisenbewusst­seins im Literaturunterricht. Dabei geht es ihm sowohl um literaturwissenschaftliche Klimawandelforschung, die untrennbar mit der Rolle menschlichen Handelns im Anthropozän verknüpft ist und deren Aufgabe es sein sollte, das von der Literatur generierte ›hybride Wissen‹ gesellschaftlich verfügbar zu machen, als auch um das konkrete Anwendungsbeispiel einer in die Diskussion der aktuellen ›Flüchtlingskrise‹ eingebetteten Kafka-Lektüre im Rahmen des gymnasialen Literaturunterrichts. Das Kapitel beschreibt sowohl die didaktische Umsetzung als auch Reaktionen und Verstehensarbeit der Schüler und kommt zu dem Schluss, dass die von vielfältigen Formen von Krisenhaftigkeit geprägte Literatur(wissenschaft) es vermag, den Menschen in seiner Selbstzufriedenheit aufzurütteln und zum Nachdenken über sich selbst anzuregen.

In Kapitel elf setzt sich Jens F. Heiderich mit den Möglichkeiten dramatischer Texte und Praktiken zur Ausprägung eines ökonomischen Bewusstseins im Deutschunterricht auseinander. Anhand des Begriffs der ›literarischen Ökonomik‹ (der Verzahnung von Literatur- und Wirtschaftswissenschaft) analysiert Heiderich verschiedene, vor allem zeitgenössische Theaterstücke im Hinblick auf ihre Darstellung der Finanzwelt, von Arbeit, Geld und Börsenhandel und stellt Überlegungen zur bisher eher zögerlichen didaktischen Auseinandersetzung und Aufbereitung solcher Diskurse für die Anwendung im Literaturunterricht an. Das Kapitel schließt mit einem Plädoyer für eine ›ökonomie-sensible‹ Lektüre- und Theaterpraxis im Unterricht, die Schüler*innen für die vielfältigen wirtschaftlichen Diskurse, in die sie in ihrem alltäglichen und zukünftigen Leben eingebunden sind und sein werden, sensibilisieren (und auch wappnen) könnte.

In Kapitel zwölf setzen sich Julian Ingelmann und Christian Dinger kritisch mit der Frage auseinander, warum die Literaturwissenschaft scheinbar in einer Sinnkrise bezüglich der allgemeinkulturellen Vermittelbarkeit ihrer eigenen Relevanz zu stecken scheint, und zeigen Parallelen und Anknüpfungspunkte der Literaturwissenschaft zu den Vermittlungsformen neuer Medien – vor allem zum auf Youtube verbreiteten Format des Videoessays – auf. Der Erfolg dieser neuen Medien, gerade wenn sie sich mit literatur- und sprachwissenschaftlichen Kernthemen auseinandersetzen (wie hier am Beispiel des Videoessays How Donald Trump answers a question gezeigt wird), spricht, so Dinger und Ingelmann, für ein breites öffentliches Interesse an Themen aus dem Bereich der Sprache und Literatur, das durch eine Öffnung der Literaturwissenschaft gegenüber diesen neuen Formen der Literaturvermittlung als Argument für die Aktualität literaturwissenschaftlicher Themen und Methoden nutzbar gemacht werden könnte.

Daniela Roth setzt sich in Kapitel dreizehn kritisch mit der Rolle der Gegenwartsliteratur als Spiegel aktueller Themen und Diskurse (hier konkret der deutschen Flüchtlingspolitik und gesellschaftlicher Reaktionen auf diese) auseinander und argumentiert, dass sich auch die Literaturwissenschaft fragen muss, wie sich ihre Begrifflichkeiten (hier das Stichwort Transnationalismus) auf den Umgang mit solchen Problemen und Fragestellungen auswirken. Am Beispiel von Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen zeigt Roth, wie zeitgenössische Texte die Problematik transnationaler Mobilität in Kontexten diskutieren können, in denen selbstbestimmte grenzüberschreitende Bewegungen eben gerade nicht Teil der Erfahrungswelt der Geflüchteten sind, und argumentiert, dass in Erpenbecks kontrovers diskutiertem Text auch »bildungsbürgerliche und literatur- sowie geisteswissenschaftliche Ansätze und Denkmuster (selbst-)kritisch reflektiert werden.«

In Kapitel vierzehn bietet Tom Reiss eine erste kritische Intervention zum Krisenbegriff, der aktuell auf so unterschiedliche Diskussionsgegenstände wie persönliche Ausnahmezustände von Geflüchteten und die kritische Auseinandersetzung der Literaturwissenschaften mit ihrem eigenen Selbstverständnis Anwendung findet. Reiss konstatiert einen problematischen Zusammenhang zwischen beiden Anwendungsbereichen, der sich über eine ernsthafte Auseinandersetzung der Literaturwissenschaften mit Fluchtnarrativen lösen ließe. »Die Öffnung der Literaturwissenschaften für Geflüchtete ist eine Frage des Selbsterhaltes«, argumentiert Reiss, und schlägt hierfür eine Reihe von Strategien vor – eine Demokratisierung von Kanon und Diskurs, die Auseinandersetzung mit den Grundbedingungen von Narration, eine kritische Hinterfragung von Nationalphilologien und Öffnung von wissenschaftlichen Perspektiven für deren durch Kolonialismus erzeugte globale Verbindungen sowie eine kritische Auseinandersetzung der Literaturwissenschaften mit dem eigenen Selbstverständnis, um die Krise weniger als Notstand und mehr als Chance zur Nutzung der eigenen Fähigkeiten zur Auseinandersetzung mit Krisen zu begreifen.

Swen Schulte Eickholt argumentiert in Kapitel fünfzehn ebenfalls für eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen kulturellen und politischen Diskursen, die oft einfache Lösungen und griffige Slogans über die notwendige Auseinandersetzung mit komplexen Problemlagen stellen und so Populisten, die scheinbar einfache Lösungen anbieten, Tür und Tor öffnen. Dagegen setzt Schulte Eickholt eine Argumentation für einen dynamischen Begriff des Interkulturellen, für eine Neubewertung des Verstehensbegriffs und für eine engagierte und standortbestimmte Literaturwissenschaft, die sich »der Komplexität einer Welt aus den Fugen« stellt und sich gegen ihre Vereinfachung einsetzt.

John Kinsellas didaktische, poetische und kulturkritische Auseinandersetzung mit Hölderlins Werk in Kapitel sechzehn zielt darauf ab, Literatur(wissenschaft) als Strategie des Widerstands zu etablieren – gegen konformistische Textlektüren, die Argumente, wie kritisch sie auch immer sein mögen, lediglich wiederholen, anstatt sie effektiv zu nutzen. Dagegen setzt Kinsella, gleichermaßen Poet und Literaturwissenschaftler, ein Plädoyer für einen neuen Umgang mit Texten, der das Umschreiben, das Rekontextualisieren und auf die eigene Situation Beziehen sowie das Öffnen von Leerstellen und Abwesenheiten aus dem Text in den Mittelpunkt literaturwissenschaftlicher und ‑didaktischer Arbeit stellt. Kinsella zeigt dies am Beispiel seiner eigenen poetischen Auseinandersetzung mit und »Verstörung« von Hölderlins Gedichten ebenso wie in der Frage nach der Möglichkeit, Bildung zu entschulen und Wissen stärker in den Dienst der Gemeinschaft, des Schutzes der Umwelt und einer erstrebenswerten Zukunft zu stellen.

Matthias N. Lorenz prangert im siebzehnten Kapitel Missstände im deutschen Hochschulsystem – wie etwa prekäre Beschäftigungsverhältnisse sowie feudale Hierarchien bzw. Abhängigkeitsverhältnisse von Mittelbauwissenschaftler*innen – an. Er deutet solche Missstände als lokale Symptome weitreichender globaler Krisen. Nur durch eine Überwindung der Kluft zwischen den laut geäußerten linksliberalen Theorien vieler Literaturwissenschaftler*innen und der gleichzeitig oft ausbeuterischen Praxis im akademischen Alltag durch eine vielerorts bereits begonnene (jedoch leider häufig unstrukturierte und nicht zielgerichtete) Reform der hochschulinternen Strukturen können universitäre Forschung und Lehre überzeugende Antworten auf die globale Krise geben.

Mögliche Interventionen im Sinne einer extrovertierten (d.h. nicht auf ihre eigene Krise, sondern nach außen gerichteten) Literaturwissenschaft stehen auch im Zentrum des Schlussworts dieses Bandes, mit dem wir einen Beitrag zu einer Neuinterpretation der Rolle der Literaturwissenschaften (und Geisteswissenschaften) in globalen Krisenzeiten leisten möchten.

Literaturwissenschaften in der Krise

Подняться наверх