Читать книгу Literaturwissenschaften in der Krise - Группа авторов - Страница 20

Wahrheit und Wahrheiten

Оглавление

Der des linken Pubertierens völlig unverdächtige Soziologe und Systemtheoretiker Niklas Luhmann wies schon 1990 darauf hin, dass die »Umstellung des Wissenschaftssystems von einem ontologischen auf ein konstruktivistisches […] Selbstverständnis, wie sie in den zweihundert Jahren seit Kant zu beobachten ist, […] in sehr tiefgreifender Weise das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft [berührt]« (627). Und auch die weiter ausgreifenden, die westliche Tradition seit der Antike einbeziehenden Überlegungen des ebenfalls der postmodernen Schaumschlägerei unverdächtigen Physikers, theoretischen Biologen und Naturphilosophen Bernd-Olaf Küppers machen deutlich, dass es mit der Wahrheit nicht so einfach ist: Schließlich hat doch »die Diskussion um das Wahrheitsproblem […] im Laufe ihrer Geschichte immer wieder neue Varianten des Wahrheitsbegriffs hervorgebracht […]: [d]ie ontologische, die logische, die empirische, die kontingente oder die pragmatische Wahrheit, die zugleich die fortschreitende Differenzierung unseres Weltverständnisses widerspiegeln.« (2008: 177) Wahrheit, so zeigt sich hier, war zumindest im westlichen Kulturkreis schon immer Verhandlungssache. Die Kriterien für ihre Akzeptanz haben sich im Laufe der Jahrhunderte langsam aber unaufhaltsam von ›absolut‹ Richtung ›hypothetisch‹ bewegt. Selbst im Rahmen der auf Aristoteles zurückgehenden und von Thomas von Aquin wiederaufgenommenen Korrespondenztheorien der Wahrheit wurde zunehmend nicht nur die abbildende, sondern auch die sprachlich-symbolische Darstellungsfunktion anerkannt. Dies geschah zunächst noch abgefedert in Annahmen der Strukturgleichheit von (sprachlicher) Darstellung und Welt, dann aber mit zunehmender Akzentverschiebung hin zu Kohärenztheorien der Wahrheit, deren Angemessenheit sich in der Widerspruchsfreiheit auf der Ebene der (sprachlichen) Repräsentation insgesamt erweist und dann letztlich nur noch im Handeln an der Wirklichkeit selbst bewähren kann. Erfolgreiche Bewährung wiederum muss auch mitgeteilt werden, und so verschiebt sich der Akzent erneut, hin zu Konsens- und Diskurstheorien einer Wahrheit, die sich intersubjektiv in kommunikativen Verhandlungsprozessen bewähren muss. Diese allerdings, dies sei betont, werden stets dadurch destabilisiert, dass der modernen Wissenschaft mit ihrer auf die Produktion neuen Wissens und die Falsifikation etablierten Wissens ausgerichteten Praxis immer auch eine Dissenstheorie der Wahrheit eingeschrieben ist.

Die volle Komplexität dieses am Ende eines langen Evolutionsprozesses stehenden Zustands ist erst in jüngeren Jahren erfasst worden. Sie wird häufig unter dem bei Luhmann genannten Stichwort des Konstruktivismus verhandelt, der ganz unterschiedliche Formen annehmen kann. Im rückblickend von Richard Rorty (1967) für den Anfang des 20. Jahrhunderts angesetzten Linguistic Turn der Philosophie geht es im Kern darum, dass (und wie) die Sprache das Denken formt, und diese Grundfrage ist seither auch in anderen Disziplinen intensiv weiterverfolgt worden (vgl. Boroditzki 2012). Da Sprache zudem niemals pur auftritt, sondern stets an gesellschaftliche Praktiken und verfügbare Medientechnologien gebunden ist, schließen hier im Laufe des 20. Jahrhunderts zahlreiche weitere Cultural Turns an und verheißen Neuorientierung in den Kulturwissenschaften (Bachmann-Medick 2006). Zuvor schon war auch in der Soziologie Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit in den Mittelpunkt gestellt worden (Berger und Luckmann 1966). Erkenntnistheoretisch auf den Punkt gebracht werden die mit dieser Entwicklung verbundenen Einsichten von den sogenannten ›radikalen Konstruktivisten‹ wie etwa Ernst von Glasersfeld (vgl. etwa 1996). Im Kern geht es dabei darum, »dass vom Beobachter und seinen Methoden des Beobachtens und deren Wirkung auf den beobachteten Gegenstand nicht (!) abstrahiert werden darf, wenn Aussagen über die Welt und deren Beschaffenheit gemacht werden« (Simon 2017). Da sich die Angemessenheit derartiger Aussagen wie oben erwähnt nur noch im Handeln, d.h. im Umgang mit der Wirklichkeit bewähren kann, verschiebt sich das Kriterium geglückter Erkenntnis »[v]on der Wahrheit zur Viabilität« (Köck 2011). Man kann somit, fasst Fritz B. Simon (2017) zusammen, »aus konstruktivistischer Sicht zwar nicht sagen, welche Aussagen eine ewige Wahrheit beschreiben, aber man kann durchaus sagen, was Quatsch und unwahr ist.«

Allerdings bleibt dabei unberücksichtigt, dass es Aussagen über die Wirklichkeit gibt, deren Angemessenheit sich eben nicht (oder zumindest nicht sofort) im Handeln bewähren kann: Wie sollte sich Donald Trumps Behauptung, seine Inaugurationsfeier sei die von der Zuschauerzahl her größte der amerikanischen Geschichte gewesen, im Handeln bewähren? Zwar scheint seine Behauptung angesichts des existierenden Bildmaterials offensichtlich falsch, aber letztlich handelt es sich ja nur um Bildmaterial, das ein Ereignis nie vollständig und in allen seinen Dimensionen erfassen kann. Eine unmittelbare Handlungsoption, in der sich die auf diesem Bildmaterial beruhende gegenteilige Behauptung an der Wirklichkeit bewähren kann, steht ja leider ebenfalls nicht zur Verfügung. Simon (2017) verweist nun darauf, dass

aus konstruktivistischer Sicht die Möglichkeit der Objektvierung darin [besteht], dass unterschiedliche Beobachter sich über die Fokussierung der Aufmerksamkeit (= Selektion der Phänomene), die Selektion der Beobachtungsmethode, die Kriterien der Bewertung (z.B. Messmethoden) und die Selektion der Erklärungsansätze (= Theoriearchitektur) für die beobachteten Phänomene einigen

– aber während dies innerhalb eines normativ-prozedural gerahmten Kommunikationszusammenhangs wie der modernen Wissenschaft gelingen mag, fehlt im durch Digitalisierung zunehmend beschleunigten und dezentrierten öffentlichen Diskurs unserer Zeit doch genau dieser Rahmen. Auch andere regulative Rahmungen institutioneller oder kultureller Art sind nach Jahrhunderten der Ausdifferenzierung in Modernisierungsprozessen erodiert. Zu denken wäre hier einerseits insbesondere an die Gatekeeping-Funktionen der Welt des Buchdrucks und andererseits an die normative Dimension von Gefühlsstrukturen (vgl. Williams 1977), wie sie sich etwa in Koordinaten von Moral, Scham und Anstand manifestieren.

Vor diesem Hintergrund wird erkennbar, dass es sich bei dem Angriff auf die ›pubertären linken Konstruktivisten‹ der ›Postmoderne‹, wie er am pointiertesten in dem bei konservativ-rechten Stimmen populären Manifest des Neuen Realismus des italienischen Philosophen Maurizio Ferrari (2014) vorgetragen wird, um ein »strategische[s] misreading« handelt, das »eine Umkehrung von Vorher und Nachher, eine Vertauschung von Ursache und Wirkung« vornimmt und so die ›Postmoderne‹ als linken »Pappkamerad« aufbaut (Sasse und Zanetti 2017). In der Tat gibt es gute Gründe dafür, die Rede von der ›Postmoderne‹ angesichts des Fortbestehens vieler seit dem 18. Jahrhundert etablierter Strukturen eher als typisch modern(istisch)e Semantik zu betrachten, der es um Distinktionsgewinn durch die Behauptung von Innovation und Originalität geht. Akademisch präziser hätte man wohl besser von ›Spätmoderne‹ sprechen sollen, deren Kennzeichen wiederum in Anlehnung an die englischsprachige Diskussion als ›postmodernistisch‹ oder, wie von Hans Robert Jauss (1983) weitgehend ungehört vorgeschlagen, als ›postistisch‹ zu bezeichnen wären. Erst in jüngster Zeit mehren sich demgegenüber die Anzeichen dafür, und hier ist der spezifische Charakter des jüngsten Aufstiegs der Populisten in der Tat signifikant, dass sich die seit dem 18. Jahrhundert etablierten Strukturen der modernen Gesellschaft und die damit verbundenen Koordinaten der modernen Kultur endgültig in etwas transformieren, das dann tatsächlich als ›Postmoderne‹ bezeichnet werden könnte (vgl. dazu Beck 2016).

Literaturwissenschaften in der Krise

Подняться наверх