Читать книгу Literaturwissenschaften in der Krise - Группа авторов - Страница 15

Krise und Literatur

Оглавление

Zweifelsohne befinden wir uns in einer krisenbehafteten Welt/Epoche – wenn nicht gar mitten drin in einer Krise. Gegen diese totalitäre Wir-Aussage hätte sich früher wohl einwenden lassen, dass man sie nur aus einer ***-zentralistischen Perspektive konstatiert und die Heterogenität der Welt willkürlich-wissend ignoriert. Infolge der Globalisierung hat die Welt allerdings eine gewisse Homogenität erlangt, die diese totalitäre Aussage, wenn auch nicht ermöglicht, so doch voraussetzt. Je stärker die Welt globalisiert wird, desto weniger utopische En- bzw. Exklaven bleiben als ›Nicht-Ort‹ übrig. Folglich geht es, wenn heutzutage die Welt als in einer Krise befindlich beschrieben wird, um eine totalitäre Krisensituation, sei es eine Militär-, eine Klima-, eine Infektionskrise oder eine Krise durch einen Computervirus usw. Im etymologischen Sinne bedeutet die Krise eine »entscheidung in einem zustande, in dem altes und neues, krankheit und gesundheit u.ä. mit einander streiten« (DWB, Bd. 11, Sp. 2333). Gerade in solch einem Zustand ist jede Entscheidung bzw. Orientierung fragil: Während man um Fassung ringt, bleibt man fassungslos, indem jede Fassung im nächsten Augenblick von einer neuen Situation bestritten werden kann.

Diesbezüglich dient uns das Europa um 1800, als sich die Europäer in einer ›europäisierten‹ Krise infolge von Napoleons Politik sahen, als Miniatur einer krisenhaften Welt. Im Hinblick auf Napoleons unaufhaltsamen Siegeszug schrieb Heinrich von Kleist im November 1805 an seinen Freund Rühle von Lilienstern: »Die Zeit scheint eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und wir werden davon nichts, als bloß den Umsturz der alten erleben« (Kleist 92001: II, 760f.). Und am 12. November 1805 schrieb Johann Friedrich Cotta an Goethe: »Das HauptGewitter wäre in gegenwärtigem Augenblik gewiß beschworen, wenn aber die Besorgung mancher, daß Preußen noch gegen Frankreich sich erklären werde – welches ich der Inconsequenz des bisher consequent gehandelten Ministeriums wegen nicht glauben kann – wirklich einträffe, dann fürchtete ich eine totale Umkehrung der Welt« (Kuhn 1977: I, 131). Es scheint, als wäre niemand in der Lage gewesen, dem Gravitationsfeld dieser »totalen Umkehrung« der Welt respektive Europas zu entfliehen. In diesem Ausnahmezustand wagte auch Cotta, »Bonaparte unter den Buchhändlern« (Fehling 1925: 488), keine souveräne Entscheidung zu treffen, sondern hielt sich allenfalls an seine resignative Maxime: »Hoffen wir das Beste und seyen wir für das Schlimste gefaßt! Diß in der That darf in diesem Augenblick nicht blosser Wahlspruch für mich seyn, sondern Norm meines Handelns« (Kuhn 1977: I, 131). Es ist nicht verwunderlich, dass Kleist, der sich zeit seines Lebens wieder und wieder in einer Krise befand und sich damit abfinden musste, die »Einrichtung der Welt« in seiner Erzählung als »gebrechlich« darstellte (Kleist 92001: II, 15 u. 143), in der jede Krise zur Maßnahme und jede Maßnahme wiederum zur Krise führt – ein Teufelskreis, der Kleists literarische Welt prägt.

Insbesondere der Fall Kleist zeigt eines: So schwierig die Zeit und somit der Buchmarkt auch waren (vgl. Fischer 2014: 290), so wenig ließen sich die literarischen Praktiken beschränken. Dies lässt sich wohl auf ein fundamentales Bedürfnis des Menschen zurückführen, nämlich das Bedürfnis zum Erzählen. Man versucht die Situation durch die narrative Praktik zu begreifen, um zuerst einen Begriff und dann eine Orientierung und Konzeption zu bekommen. Ohne diesen ›Standpunkt‹ würde man sich nicht nur in der Verwirrung verlieren, sondern sich vielmehr in der Verwirrung auflösen. Den roten Faden in der Hand zu halten, ist also die Aufgabe und zugleich der Zweck der Geschichtsschreibung, und zwar der Geschichtsschreibung im doppelten Sinne.

Es geht zunächst um die Geschichtsschreibung im Sinne der Historie, die sachlichen Bericht mithilfe von (signifikanten) Zahlen und (prominenten) Namen erstattet und somit die historischen Geschehnisse zu rekonstruieren versucht. Aus diesem Versuch entsteht nicht nur eine Rekonstruktion, sondern zugleich auch die Legitimation einer Orientierung stiftenden Konzeption, einer programmierten Macht über die Verwirrung und der Macht per se. Diese Geschichte dient also vor allem demjenigen, der über die Macht verfügt. Aber alle anderen, die die historischen Geschehnisse erleben, miterleben oder überleben, werden hingegen dieser einen Geschichtsschreibung respektive der Macht unterworfen und geraten in Vergessenheit – wie namenlose Versatzstücke. Außerdem leiden Zahlen und Namen nicht, haben deshalb auch kein Mitleid. Zwar vermögen diese Daten etwas dem Anspruch dieser Geschichtsschreibung: »Zur Sache!« entsprechend darzustellen, dies ist jedoch nicht hinreichend, um eine Geschichte mit Blut und Fleisch zu schreiben. Für die leidenden anderen ist die Historie, die sich auf die objektive Zweckmäßigkeit richtet, keine befriedigende. Man muss in der Geschichte auch schreien, weinen, heulen, lachen, sich totlachen und weglachen können.

Man braucht also eine andere Geschichtsschreibung, die die historischen Geschehnisse auf intuitive Weise umgekehrt als Versatzstück benutzt, damit man in diesem Spiel der Macht auch eine autonome Rolle übernehmen kann/darf und nach der Ohnmacht wieder zu sich selbst findet. Es ist die aus der Historie ausdifferenzierte Historia, die die historischen Geschehnisse allein der subjektiven Zweckmäßigkeit gemäß behandelt und die Phantasie zulässt, um die Leerstellen zwischen den Zeilen und den Zahlen und den Namen mit Blut und Fleisch zu füllen. Nicht (nur), dass die Historia in Anlehnung an die Historie ihre Legitimation und notwendige Authentizität gewinnt, sondern (auch) dass die Historia der Historie Leben einhaucht: Sie beschwört die leidenden, vergessenen Seelen herauf und bietet eine andere, menschlichere Konzeption, die das Leiden und das Leben erkennt und anerkennt. Sie eröffnet einen utopischen Raum, einen Nicht-Ort an dem Ort, damit das menschliche Leben mehr ist als bloß ein Name und ein paar Zahlen auf dem Grabstein, nämlich eine Erzählung mit einem mit Leben bestückten Inhalt.

Indem diese Geschichtsschreibung nicht nur das Leben erzählt, sondern auch zugleich das Leben erzählend erschafft, ist sie im Wesentlichen eine Geschichtsschreibung a posteriori und zugleich eine a priori. Um uns der Worte Friedrich Schlegels zu bedienen: »Sie [die Transzendentalpoesie] beginnt als Satire mit der absoluten Verschiedenheit des Idealen und Realen, schwebt als Elegie in der Mitte, und endigt als Idylle mit der absoluten Identität beider« (Schlegel 1967: 204). Kraft ihrer Duplizität vermag sie, gegebene Phänomene aufzulösen und feste Gesetze aufzuheben. Sie enthält eine Transzendentalität, die die sinnlichen Phänomene dekonstruiert, und führt somit zur Kern-Struktur der Geschichte und führt die gegebene Geschichte bzw. die Gegebenheit zu ihrem Ur-Keim bzw. Urknall zurück. In diesem Augenblick eines erneuten Entstehens (Status Nascendi) kann/darf man etwas beliebig in die Geschichte geben. Aus dem heteronomen Geschöpf wird also ein autonomer Schöpfer. Ein literarisches Werk ist damit jeweils eine (Wieder-)Genesis, die die Geschichte erneut codiert.

Sofern ein literarisches Werk transzendental ist, vermag es die Krise zu überwinden. Denn ein Werk als solches besitzt die Kraft, mit der Krise zu spielen. Die gravierende Krise zeichnet sich dadurch aus, dass man, steckt man in ihr, keinen Ausweg finden kann und stets von ihr zerdrückt, gepresst und zermalmt wird – eine Sumpfsituation. Man wird zum Spielball der Krise. Indem man sich nun durch die Literatur über diese gravierende Krise erhebt und sich damit geistig außerhalb ihrer Gravitation befindet, ist man umgekehrt in der erhabenen Lage, mit ihr und dem leidenden Ich in ihr zu spielen. Dieses transzendentale Spiel ist also antigravitativ oder, wie Nietzsche es nennt, dionysisch: Es ist »ein Analogon zu der Empfindung, mit der der dionysisch erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah, mit dessen Leiden er bereits eins geworden ist« (Nietzsche 1999: 64). Hierdurch wird die subjektive Zweckmäßigkeit gleichsam anerkannt und mit einer gleichsam allgemeinen Gültigkeit versehen. Hierdurch erhalten die Leiden Mitleid und man bleibt standhaft in der zerstörenden Krise. Es ist allerdings gleichgültig, ob es ein Lust-Spiel oder ein Trauer-Spiel ist, denn die Hauptsache ist, dass man in dem Spiel bzw. in dem Augenblick des Spiels seine Autonomie zurückgewinnt und sich von der Gegebenheit befreit. Eben dies ist es, was Novalis meint, wenn er schreibt: »Das Leben soll kein uns gegebener [!], sondern ein von uns gemachter Roman sein« (Novalis 1960ff: I, 563). Um es salopp zu sagen, er macht sich Luft – durch die Anti-Kraft der Literatur.

Literaturwissenschaften in der Krise

Подняться наверх