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Literatur und Literaturwissenschaft

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Der transzendentalen Literatur wohnt die Religiosität inne, weil es um das Transzendieren und die Erlösung geht. Und der Gott heißt nicht unbedingt Dionysus. In der spielerischen Anbetung der Poesie wird die Tagesordnung in das Chaos des Status Nascendi zurückversetzt und die alltägliche Logik wird entblößt und bleibt dahingestellt. Hieraus entsteht eine neue Ordnung, eine neue Mythologie wie ein neues Jerusalem, die zugleich eine Heimkehr bedeutet. Denn es sind »Staaten und Systeme, die künstlichsten Werke der Menschen, oft so künstlich, daß man die Weisheit des Schöpfers nicht genug darin bewundern kann« (Schlegel 1967: 370). Im Gegensatz dazu hat die neue Mythologie Vorzug: »Was sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen, und festgehalten, wie die Seele in dem umgebenden Leibe, durch den sie in unser Auge schimmert, zu unserm Ohre spricht« (Schlegel 1967: 318). Und dieser Prozess beschränkt sich in der Tat nicht nur auf die Romantik. Denn auch im Programm des Realismus steht z.B. die sogenannte »Verklärung« der Wirklichkeit (vgl. Plumpe 1996: 50–57). Obwohl sich das Programm der deutschen Romantik von dem des deutschen Realismus unterscheidet – ohne Frage –, lässt sich doch auch ein gemeinsamer Nenner finden: Eine abklärende Potenzierung der Welt. Somit eröffnet sich ein neuer Horizont, von dem her etwas Neues, etwas Ganzes scheint, das (noch) nicht von der venunftzentrischen Kultur kas­triert ist. Und dieses Neue, dieses Ganze ist doch das Ursprüngliche. Hierdurch ist die Natur von ihrer Impotenz genesen. Denn »Poesie ist«, so Novalis, »die große Kunst der Konstruktion der transzendentalen Gesundheit. Der Poet ist also der transzendentale Arzt« (Novalis 1960ff: I, 535). Wenn man die Potenz und die Potenzierung durch ihren etymologischen Sinn miteinander verbindet, so liegt hierin auch der Kern des Appells von Novalis: »Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts, als eine qualitative Potenzierung« (Novalis 1960ff.: I, 545). Die Literatur ist also ein Analogon zu dem Schamanismus im weiten Sinne oder dem Urchristen. Oder die transzendentale Literatur ist vielmehr schon eine neue Religion.

Friedrich Schlegel fasst die Religiosität der Literatur folgendermaßen zusammen: »Der dichtende Philosoph, der philosophierende Dichter ist ein Prophet. Das didaktische Gedicht sollte prophetisch sein, und hat auch Anlage, es zu werden« (Schlegel 1967: 207). Dementsprechend soll die Literaturwissenschaft die Rolle des gläubigen Apostels übernehmen, der die Idee der Literatur ausbreitet, als ob man auf den kategorischen Imperativ hörte: »Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur« (Markus 16:15). Dabei soll die Literaturwissenschaft kein naiver Gläubiger sein, weil die transzendentale Literatur auch keine naive Literatur ist, sondern sie soll den Schatz der Literatur auf tiefgründige Weise zutage fördern, so wie die Literatur die neue Mythologie »aus der tiefsten Tiefe des Geistes« (Schlegel 1967: 312) herausbildet. Also verhält sich die Literaturwissenschaft zu ihrem Gegenstand Literatur wie die Literatur zur gegebenen Geschichte.

Die Kombination der Literatur und der Wissenschaft könnte auf Schwierigkeiten stoßen, wenn die Wissenschaft die Literatur tot schreibt oder wenn die Literatur die Wissenschaft scheinbar degradiert. Auf diesen prekären Sachverhalt geht Roland Barthes ein. Er spricht weiterhin für die Literaturwissenschaft, indem er ihr ein höheres Ziel setzt: »Schreiben allein hat die Chance, die Unaufrichtigkeit aufzuheben, die jeder Sprache, die sich ihrer nicht bewußt ist, anhaftet« (Barthes 42015: 14). Die Literaturwissenschaft soll als sekundäre transzendentale Literatur dienen, die die primäre potenzierte Welt nochmals potenziert und somit eine Dimension der tiefen Struktur hervorhebt. Und die Potenzierung bedeutet manchmal auch eine Zerstörung, wie Barthes deutlich macht:

[D]as Schreiben will ein totaler Code mitsamt seinen eigenen Zerstörungskräften sein. Daraus folgt, daß nur das Schreiben das von der Wissenschaft aufgezwungene theologische Bild zertrümmern, den von der mißbräuchlichen »Wahrheit« der Inhalte und Argumentationen verbreiteten väterlichen Schrecken zurückweisen und der Forschung den vollständigen Raum der Sprache erschließen kann mitsamt seinen Subversionen der Logik, der Durchmischung seiner Codes, mit seinen Verlagerungen, seinen Dialogen, seinen Parodien (Barthes 42015: 15).

Ja, es gibt Trivialliteraturwissenschaft, wie es Trivialliteratur gibt, indem diese beiden sich bloß auf die sinnlichen Phänomene oder die buchmarktlichen bzw. akademischen Phänomene richten, ohne die Struktur zu berücksichtigen, und sich somit von der Wahrheit immer weiter entfernen, wie es Tzvetan Todorov in Hinsicht auf die literarischen Praktiken formuliert: »Wer Strukturen auf der Ebene der beobachtbaren Bilder sucht, schneidet sich eben damit von aller sicheren Erkenntnis ab« (Todorov 1972: 20). Die wahre Literaturwissenschaft soll dagegen als Apostelbrief dienen, der nicht nur die Wahrheit in den Fokus rückt, sondern sich ihr jeweils auf eigene Weise annähert oder zumindest anzunähern versucht.

Aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur Literatur kann sich die Literaturwissenschaft in der Krise auch ihre graziöse Beweglichkeit gegen die Gravitation der Krise erhalten. Deshalb ist sie ebenso in der Lage, einen höheren, makroskopischen Standpunkt zu bieten, so wie die Literatur auf einem erhabenen Standpunkt steht. Es gibt allerdings einen Unterschied: Während die Literatur sich mit der subjektiven Zweckmäßigkeit begnügt und vergnügt, muss die Literaturwissenschaft nicht nur der subjektiven, sondern auch der objektiven Zweckmäßigkeit entsprechen, weil sie, wie die apollinische Kraft bei Nietzsche, angesichts ihrer vermittelnden Rolle ein Bild, einen Begriff, eine Lehre oder eine sympathische Erregung aus der scheinbar chaotischen Literatur liefern muss:

So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheit und entzückt uns für die Individuen; an diese fesselt es unsre Mitleidserregung, durch diese befriedigt es den nach grossen und erhabenen Formen lechzenden Schönheitssinn; es führt an uns Lebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassen des in ihnen enthaltenen Lebenskernes. Mit der ungeheuren Wucht des Bildes, des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung reisst das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit des dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes Weltbild, z.B. Tristan und Isolde, sehe und es, durch die Musik, nur noch besser und innerlicher sehen solle (Nietzsche 1999: 137).

Die Literaturwissenschaft ist demnach eine progressive apollinische Wissenschaft, die in der chaotischen Literaturwelt eine belehrende Orientierung bietet, damit man sich auch diesseits, nämlich jenseits der Literatur, mit sich selbst als Individuum nicht nur abfinden, sondern vielmehr begnügen kann und auf das nächste dionysische Erlebnis wartet – eine Erbauung durch Ventilfunktion. So ersetzt die Literaturwissenschaft die ausweglose Dialektik im ewigen Kampf zwischen der subjektiven Zweckmäßigkeit der Phantasie und der objektiven Zweckmäßigkeit der Vernunft durch eine progressive Dialektik zwischen der Historie und der Historia resp. zwischen der Weltgeschichte und der Heilsgeschichte.

Literaturwissenschaften in der Krise

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