Читать книгу Literaturwissenschaften in der Krise - Группа авторов - Страница 8

Krise als Chance(?)

Оглавление

Was tun wir also, in Zeiten der Krise? Nichts, argumentiert Jonas Lüscher in seiner als »Abrechnung mit dem Neoliberalismus« gefeierten Novelle Frühling der Barbaren (2013). Lüschers Protagonist, der Schweizer Fabrikerbe Preising, ist ein Mensch, der keine Entscheidungen trifft, und sein Nichthandeln hat im Laufe der Zeit eine Reihe problematischer Konsequenzen – für andere. Dies zeigt sich vor allem in seiner Haltung gegenüber Hilfsbedürftigen und Abhängigen, die im Kontext der Novelle nicht ohne argumentativen Grund alle im Globalen Süden angesiedelt sind. So deutet der Titel der Novelle zwar auf den »arabischen Frühling« hin, die titelgebenden »Barbaren« sind jedoch die von einer imaginären Finanzkrise überraschten Europäer in einem Ferienresort in der tunesischen Wüste. Die Hotelanlage fungiert dabei als eine Art Foucault’sche Heterotopie der Krise – ein Ort außerhalb der normalen Raum-Zeit, an dem Handlungen scheinbar ohne Konsequenzen für das ›reale‹ Leben der Charaktere in Europa bleiben. Dass dies ein Trugschluss ist, zeigt der Text anhand der wirtschaftlichen Verbindungen und Verstrickungen von Europa und Nordafrika. Preising reist zum Ausbau seiner Geschäftsbeziehungen mit nordafrikanischen Zulieferbetrieben nach Tunesien, fürchtet jedoch jegliches Handeln seinerseits könnte dort als »unangemessene Einmischung« (Lüscher 2015: 27) empfunden werden. Die moralische Schieflage dieser Ansicht wird nicht nur durch Preisings Reichtum unterstrichen – sein Tagesverdienst an den Firmenanteilen entspricht der »Existenz einer ganzen Familie« (Lüscher 2015: 26) –, sondern wird vor allem durch die Weigerung seines Prokuristen deutlich, »auch nur einen Franken nach Afrika fließen zu lassen«, mit der Begründung, »[d]ieser Kontinent ertrinkt in unserer Fürsorge. Afrika ist wie gelähmt durch die Hilfsgelder. Dieser Kontinent muss sich an seinen eigenen Stiefelhacken aus dem Sumpf ziehen.« (Lüscher 2015: 27) Dass diese Weigerung und Preisings Untätigkeit keine neutrale Haltung, sondern ganz im Gegenteil ein grundlegender Faktor der Krise sind, wird im Zusammenhang der Kinderarbeit in einer Zulieferfabrik seines Unternehmens deutlich. Preising begründet seine Nichteinmischung mit der mehrfach wiederholten Überlegung, »wie schwierig das mit der Kinderarbeit sei« (Lüscher 2015: 12–13). Die Aussage bleibt jedoch unbegründet und wird nicht nur durch ihre Wiederholung, sondern auch durch Preisings Quelle in ihrer Aussagekraft in Frage gestellt, handelt es sich doch um ein Mitglied eines »liberale[n] Unternehmerclub[s]« (Lüscher 2015:12), einen »Jungunternehmer, der [ihm] einstmals bei Zürcher Geschnetzeltem und Rösti wortreich erklärt hatte, dass, mit etwas gesundem Abstand betrachtet, die Sache mit der Kinderarbeit nicht so einfach sei.« (Lüscher 2015: 123) Direkt mit den gebeugten Kinderrücken und »blutverkrusteten Fingernägeln« (Lüscher 2015: 122) der afrikanischen Kinder konfrontiert, die unverkennbar seine Produkte fertigen, zieht Preising sich auf diese geografisch im globalen Norden verortbare Position des »Abstands« zurück, die vom Fabrikleiter, der Preising aufgrund seines Schweigens für »einen ganz harten Hund« (Lüscher 2015: 124) hält, als Aufforderung zu neuen Preisverhandlungen interpretiert wird. Preisings Untätigkeit hält somit nicht nur der sprichwörtlich neutralen Schweiz, sondern gleich einer ganzen neoliberal-finanzkräftigen Schicht des globalen Nordens den Spiegel vor:

Preising war natürlich nicht bereit, sich allzu viele Gedanken über das Größere und Höhere zu machen, zumindest war er nicht bereit, die damit verbundene Verantwortung auf sich zu nehmen und unterlief die an ihn gestellten Erwartungen damit, dass er sich einfach damit begnügte, reich zu sein, ich vermute sogar stinkend reich, und ansonsten das Leben eines Durchschnittsbürgers führte, mit Ausnahme der Haushälterin, die er sich leistete, weil sie ihm viele Entscheidungen des Alltags abnahm. (Lüscher 2015: 66)

Den Reichtum Preisings, seines Prokuristen und der »Masse seiner Mitleistungsträger, Großentscheider und Vielverdiener« (Lüscher 2015: 67) identifiziert der Erzähler als wesentlichen Faktor der Krise, indem er ihre Argumente in einem moralisierenden Kommentar als fadenscheinige Ausreden entlarvt:

Geld sei ja nur Mittel zum Zweck, es würde Möglichkeiten eröffnen, Möglichkeiten Großes zu tun, wobei sich dann die Größe der Taten meistens doch in Quadratmetern Wohnfläche in Cap Ferrat oder Rumpflängen in St. Barth manifestierte oder bestenfalls im Zukauf noch einer BH-Bügelfabrik in Bangladesch, die noch mehr Geld abwarf, mit dem man ›Dinge in Bewegung setzen konnte‹, wie sie sich gerne ausdrückten. Dass Geld nicht für sich selbst steht, lag in der Natur der Sache, das war die Idee dahinter. Warum nur versuchen sie, uns das als ihre eigene Entdeckung zu verkaufen, und warum glaubten sie, würde das irgendetwas besser machen? (Lüscher 2015: 67)

In diesen Überlegungen zeigt sich die Funktion des namenlosen extradiegetischen Erzählers, der sowohl als Adressat für Preisings Narrativ als auch als moralischer Kommentator der von Preising beschriebenen Ereignisse fungiert. Dabei stellt der Erzähler nicht nur Preisings Untätigkeit an den Pranger, sondern hinterfragt exemplarisch gleich das gesamt globale kapitalistische Wirtschaftssystem. Dies wird vor allem durch Preisings die Novelle gleichsam umrahmende Kritik deutlich: Der Erzähler, so argumentiert der Fabrikerbe, »stell[e] die falschen Fragen« (Lüscher 2015: 7).

Preisings Unglaubwürdigkeit wird dabei durch die meta-narrativen Überlegungen des Erzählers unterstrichen, der sich der narrativen Qualitäten von Preisings Erzählung durchaus bewusst ist: »Was mir Preising hier also präsentierte, war eine Variante der Erzählung ›Wo ich gerade war, als England den Staatsbankrott erklärte‹, ein Genre, welches die Erzählung ›Womit ich am 11. September gerade beschäftigt war‹ abgelöst hatte […]« (Lüscher 2015: 96). Diese Kontextualisierung der Krise im Alltäglichen mag auf den ersten Blick wie ein Versuch ihrer Verarbeitung erscheinen, ersetzt die notwendige Auseinandersetzung mit dem Schrecklichen und Unfassbaren aber meist nur durch die Erzählung persönlicher Banalitäten. Im Text steht hierfür bildhaft die minutiöse Kritik der »babyblauen Seidenkrawatte« des britischen Premierministers, die dem Erzähler »auch heute noch als unangemessen optimistisch und frivol in Erinnerung ist.« (Lüscher 2015: 96) Darüber hinaus wird diese Lesart der Krise als Sensationsnarrativ durch Preisings Beschreibung der medialen Reaktionen auf die Krise getragen, die sich einer für Krisensituationen typischen Sprache bedienen: »Allerorts begegnete ich aufgeregten Gesichtern. Sondermeldungen verlesenden Nachrichtensprechern, nachlässig gepuderten Kommentatoren, schwitzenden Experten. Von einem drohenden Flächenbrand, einer Epidemie war die Rede.« (Lüscher 2015: 97) Die verwendete Metaphorik (Flächenbrand / Epidemie) unterstreicht die unvorhersehbaren Auswirkungen und wahrscheinliche Ausweitung der Katastrophe und ist so dazu angetan, zusätzliche Ängste im Zuschauer zu schüren. Diese sprachliche Hysterie wird in Preisings Erzählung direkt als solche entlarvt: »Beides, wie du weißt, ist dann doch nur in weit geringerem Maße eingetroffen, als an diesem Morgen in den Fernsehstudios und auf den Sonderseiten der Weltpresse heraufbeschworen wurde.« (Lüscher 2015: 97)

Was wäre aber nun der richtige Umgang mit der Krise? Vor dem Hintergrund der zunehmenden Panik setzt die Novelle sich in diesem Zusammenhang auch mit möglichen Reaktionen verschiedener Schlüsselfiguren auseinander, die stellvertretend für eine Reihe wissenschaftlicher Disziplinen stehen. Die textbasierten Geisteswissenschaften – in diesem Szenario vertreten durch die Englischlehrerin Pippa Greyling – präsentiert sie dabei als entrückt und von den Ereignissen einigermaßen unbeeindruckt: »Pippa nahm die schlechte Nachricht resigniert zur Kenntnis und bemerkte, dass sie das habe kommen sehen. Sie war sich nicht sicher, ob sich deswegen die Welt auf eine bedeutsame Art und Weise ändern würde, ob deswegen Dinge wie zum Beispiel das Rezitieren eines Gedichtes wieder an Bedeutung gewinnen würden […]« (Lüscher 2015: 93). Der Kommentar zur Gedichtrezitation, obschon im Kontext der Novelle auf ihren misslungenen Vortrag auf der Hochzeit ihres Sohnes bezogen, unterstreicht dennoch einen aktuellen Kritikpunkt an der Distanzierung der textbasierten Geisteswissenschaften vom aktuellen Weltgeschehen, suchen sie ihre Forschungsthemen doch häufig gerade nicht in der Gegenwart, sondern in eta­blierten historischen Kanons. Auch die Soziologie, vertreten durch Pippas Mann, kommt in diesem Kontext nicht besser weg. Seine Vorstellungen von einem gesellschaftlichen »Neuanfang, der ohne Männer wie ihn, die ein Leben lang auf der richtigen Seite gestanden hatten und ihre besten Jahre damit verbraucht hatten, darüber nachzudenken, wie die Gesellschaft eigentlich einzurichten sei, kaum zu bewerkstelligen war« (Lüscher 2015: 105), werden zugleich durch die selbsteingestandene »Lächerlichkeit« seiner spontanen Affäre mit der Trauzeugin seines Sohnes untergraben (Lüscher 2015: 105). Die Geistes- und Sozialwissenschaften, so wie sie im Text präsentiert werden, haben keine Handhabe gegen die Barbarei der Finanzwirtschaft, mehr noch, sie haben kein Interesse an ihr. Lüschers Novelle reflektiert somit, jenseits der eindeutigen Parallele von neoliberalen Finanzmärkten und Barbarei, auch eine aktuelle Kritik an der Position der Geisteswissenschaften in der Krise. Auch sie stellen, so argumentiert der Text, »die falschen Fragen« (Lüscher 2015: 7).

Lüschers Novelle ist ein Zitat von Franz Borkenau vorangestellt, das Barbarei als »schöpferische[n] Prozess« und die Krise damit als Chance interpretiert – auch wenn dieser »Barbarei« und »Jahrhunderte spiritueller und materieller Verarmung und […] schreckliche Leiden« vorangehen könnten (Borkenau in Lüscher 2017). Das Zitat spiegelt sich auch in einer umstrittenen Äußerung Slavoj Žižeks, in der er sich positiv zur Wahl Donald Trumps äußerte, die notwendig sei, um die »inertia of the status quo« (Žižek 2016) aufzubrechen. Dieser accelerationistisch geprägten Liebäugelei mit den »reinigenden« (in ihrer selektiven Bevorzugung einer finanziell und körperlich überlebensfähigen Bevölkerungsgruppe extrem problematischen) Kräften der Apokalypse steht auf der anderen Seite eine kollektive Apathie im Angesicht der Krise gegenüber, die im globalen Norden vor allem der wahrgenommenen Komplexität geschuldet zu sein scheint. Dabei würde es doch zur ureigenen Rolle der textbasierten Geisteswissenschaften gehören, Interpretationsansätze zu finden und Strategien im Umgang mit komplexen Szenarien zu entwickeln. Dazu bedarf es allerdings neuer Ansätze jenseits verängstigter Kopf-in-den-Sand Politik und apokalyptischer Begeisterung für die reinigende Wirkung von Katastrophen. Doch wie könnten solche Ansätze aussehen und befinden die Geisteswissenschaften sich nicht aktuell selbst in der Krise?

Literaturwissenschaften in der Krise

Подняться наверх