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4. Künstliche Sprachen (Plansprachen/Welthilfssprachen)

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Heinz Sieburg

Im Gegensatz zu natürlichen Sprachen (Ethnosprachen) sind künstliche Sprachen, meist Plansprachen (auch Welthilfssprachen, vor allem im 17./18. Jahrhundert auch Universalsprachen genannt), konstruierte Sprachsysteme, die in aller Regel von Einzelpersonen geschaffen wurden, um als Lingua Franca (Verkehrssprache) zur leichteren Überwindung einzelsprachlich begründeter Sprachbarrieren und damit zur Förderung internationaler Kommunikation zu dienen. Da Plansprachen prinzipiell nicht als Muttersprachen oder Nationalsprachen fungieren, sondern als neutrale Zweitsprachen, nivellieren sie den mit natürlichen Weltsprachen (vgl. II.2) notwendig verbundenen ›Heimvorteil‹ einzelner (dominanter) Sprachgemeinschaften gegenüber anderen. Nicht selten verbinden die Schöpfer (und Verfechter) von Plansprachen mit ihren Projekten dezidiert ethisch-idealistische Motivationen wie Völkerverständigung, Friedenssicherung, Demokratisierung oder die Abwehr von Sprachimperialismus. Ludwik Lejzer ZamenhofZamenhof, Ludwik Lejzer stellte sein Plansprachen-Projekt ›Esperanto‹ in den Zusammenhang einer zu schaffenden neutralen, kosmopolitischen Religion (Hillelismus, später homaranismo genannt). Interethnische Konflikte, so die Hoffnung, könnten durch eine gemeinsame interethnische und daher diskriminationsfreie Sprache überwunden werden. Jan Baudouin de CourtenayBaudouin de Courtenay, Jan formuliert 1907 entsprechend optimistisch: »Die Existenz einer solchen die ganze Menschheit vereinigenden Weltsprache wird dem nationalen und staatlichen Größenwahn seinen scharfen und giftigen Zahn abbrechen. Das Streben nach Weltbeherrschung und nach Vernichtung anderer Nationalitäten wird durch die Weltsprache neutralisiert und paralysiert werden.« (»Zur Kritik der künstlichen Weltsprachen«, 105)

Mit dem Anspruch der Plansprachen auf Kommunikationserleichterung ergeben sich – aus heutiger Sicht – bestimmte Kriterien, denen diese idealiter zu genügen haben: Plansprachen sollen demnach möglichst einfach und regelmäßig konstruiert sein und auf bereits international gebräuchliches Morphemmaterial (vor allem lateinisch-romanischer Herkunft) zurückgreifen, um so eine möglichst große ›Merkhilfe‹ (durch Vorwissen bekannter Zusammenhang von Wortform und Bedeutung) und tendenziell eine prima vista-Verständlichkeit zu ermöglichen.

Plansprachen werden als Untersuchungsgegenstand heute meist der Interlinguistik zugewiesen. In grober Unterteilung kann Interlinguistik im engeren Sinne mit ›Plansprachenwissenschaft‹ gleichgesetzt werden, in einem weiteren Sinne hat diese auch die natürlichen Weltsprachen bzw. die internationale sprachliche Kommunikation mit all ihren Aspekten zum Gegenstand. Innerhalb der Linguistik gilt die Interlinguistik, trotz aller Bemühungen einzelner Spezialisten, vielen bis heute als eher exotisches Randgebiet, – obwohl die Zahl der Plansprachenprojekte inzwischen auf etwa tausend geschätzt wird und sich hieran unterschiedlichste, auch für die allgemeine Linguistik interessante Fragestellungen (Sprachlenkung, Sprachwandel, Natürlichkeit etc.) knüpfen lassen.

Im Gegensatz zu natürlichen Sprachen, die zuerst als phonetisch/phonologische Systeme entstehen, werden Plansprachen zunächst schriftlich konzipiert. Unter Umständen ist eine Beschränkung auf die schreibsprachliche Verwendung im Sinne einer internationalen Schrift (Weltsinnschrift, Pasigraphie) von vorneherein intendiert.

Systematisieren lassen sich Plansprachen vor allem in Hinblick auf ihr Ausgangsmaterial. Die allermeisten von ihnen zählen zu den aposteriori-Sprachen, weil sie sich natürlicher Sprachelemente als Grundlage bedienen. Weniger verbreitet sind apriori-Sprachen (ohne Bezug zu natürlichen Sprachen), die etwa von Philosophen (z.B. René DescartesDescartes, René, Gottfried Wilhelm LeibnizLeibniz, Gottfried Wilhelm) im Sinne mathematischer Kalküle oder philosophischer Klassifikationen erdacht wurden. Bei den aposteriori-Sprachen kann mit Blick auf das Ausgangsmaterial zwischen Konstrukten unterschieden werden, die darauf abzielen, eine vorhandene Einzelsprache zu vereinfachen, um dadurch deren Verwendung als Welthilfssprache zu optimieren (z.B. latine sine flexione durch den italienischen Mathematiker Guiseppe PeanoPeano, Guiseppe, 1903; vgl. auch Weltdeutsch von Adalbert BaumannBaumann, Adalbert 1915 oder Basic English von Charles K. OdgenOdgen, Charles K. 1930). Den Normalfall bilden jedoch Modelle, die, aufbauend auf lexikalischen, morphologischen und syntaktischen Elementen unterschiedlicher Ausgangssprachen eine neutrale neue Sprache entwickeln.

Die weitaus meisten Plansprachen sind über ein mehr oder weniger entwickeltes Entwurfsstadium nicht hinausgekommen und verfügen im Sinne Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand des allenfalls über eine (Art) langue, nicht aber über eine parole; sie sind daher nur unter Vorbehalt überhaupt als Sprache zu bezeichnen. Zu real erprobten Kommunikationssystemen mit einer größeren internationalen Sprachgemeinschaft haben es nur wenige künstliche Sprachen gebracht. Bei nur einzelnen wurden zudem feste Organisationsstrukturen und Publikationsforen – wie regelmäßige (Welt-)Kongresse, Zeitschriften, Internetauftritte und dergleichen entwickelt. Nach Detlev BlankeBlanke, Detlev (Interlinguistische Beiträge, 64) sind die »bekanntesten und am besten beschriebenen Systeme […] Volapük (1879), Esperanto (1887), Latino sine flexione (1903), Ido (1907), Occidental-Interlingue (1922) und Interlingua (1951)«. Vielfach wurden Plansprachen in Konkurrenz zu anderen bereits bestehenden entwickelt oder verstanden sich als Reformprojekt gegenüber – als unzulänglich angesehenen – Vorgängern. So können Ido (= Esperanto reformita), Occidental (später in Interlingue umbenannt) oder Interlingua als Weiterentwicklungen von Esperanto angesehen werden.

Versuche zur Herausbildung internationaler Plansprachen lassen sich bis in die Vormoderne verfolgen, einen Höhepunkt bildet die Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Insbesondere bedingt durch den Aufschwung der Wissenschaften, der Technik und des Welthandels gewinnt die Frage nach einem adäquaten internationalen Kommunikationssystem in dieser Zeit an Relevanz. Dabei stehen sich Befürworter und Gegner von künstlichen Sprachen teilweise unversöhnlich gegenüber. Zu den prominenten Verfechtern zählen neben dem Slawisten Jan Baudouin de CourtenayBaudouin de Courtenay, Jan (1845–1929) etwa der Romanist Hugo SchuchardtSchuchardt, Hugo (1824–1927), der Indologe Friedrich Max MüllerMüller, Friedrich Max (1823–1900) sowie der Anglist Otto JespersenJespersen, Otto (1860–1943), der 1928 mit Novial ein eigenes Plansprachenprojekt vorlegt. Ablehnend äußern sich dagegen etwa die Junggrammatiker Karl BrugmannBrugmann, Karl (1849–1919) und August LeskienLeskien, August (1840–1916) (»Zur Kritik der Künstlichen Weltsprachen«). Der Linguist Nikolai Sergejewitsch TrubetzkoyTrubetzkoy, Nikolai Sergejewitsch (1890–1938) lehnt die Plansprachen-Idee zwar nicht grundsätzlich ab, kritisiert diese aber als eurozentristisch: »Gerade die nichtromanischen und nichtgermanischen Völker sind es aber, die eine internationale Hilfssprache wirklich brauchen« (»Wie soll das Lautsystem einer künstlichen internationalen Hilfssprache beschaffen sein?«, 216). Im Folgenden sollen mit Volapük und Esperanto die zwei Plansprachen näher vorgestellt werden, die den Anfangs- und vorläufigen Endpunkt praktischer Anwendung markieren.

Volapük (›Weltsprache‹, aus: vol (<- engl. world), –a = Genitivendung, pük (<- engl. speak)) ist die erste Plansprache, die weltweit propagiert und bis zu einem gewissen Umfang auch praktiziert wurde. Sie ist das Werk des badischen Prälaten Johann Martin SchleyerSchleyer, Johann Martin (1831–1912) und wurde von diesem 1879 in der von ihm selbst herausgegebenen katholischen Zeitschrift Sionsharfe (Monatsblätter für katholische Poesie) publiziert. Schleyer verstand seine Sprache als (pfingstlich) philanthropisches Unternehmen und stellte es unter das Motto »Menadé bal / Püki bal! Der einen Menschheit / Eine Sprache«1. Lexikalisch basiert Volapük auf germanischen (vor allem englischen und deutschen), französischen und lateinischen Elementen, die aufgrund starker Modifikationen als solche allerdings oft kaum mehr erkennbar sind, – wodurch die Sprache oberflächlich wie eine apriori-Sprache anmutet: z.B. nol (›Wissen‹) aus engl. knowledge, mud (›Mund‹) aus dt. Mund, plim (›Kompliment‹) aus frz. compliment oder nim (›Tier‹) aus lat. animal (vgl. Blanke, Interlinguistische Beiträge, 204). Die ersten Verse des Vaterunsers lauten: »O Fat obas, el in süls! Paisaludomöz nem Ola! Kömomöd monargän Ola! Jenomöz vol Ola, äs in sül, i su tal!« (HaupenthaHaupenthal, Reinhardl, »Johann Martin SchleyerSchleyer, Johann Martin (1831–1912) und seine Plansprache Volapük«, 81). Volapük verfügt über ein ausgebautes autonomes Wortbildungssystem und eine regelmäßige Grammatik. Die Plansprache SchleyerSchleyer, Johann Martins erreichte in den ersten Jahren eine z. T. begeisterte Aufnahme und eine beachtliche Verbreitung. BlankeBlanke, Detlev (Interlinguistische Beiträge, 202) gibt für das Jahr 1889 neben 18 nationalen und internationalen Verbänden auch weltweit ca. 400 Volapük-Clubs an. Daneben erschienen zahlreiche Zeitschriften und Lehrmittel sowie eine recht umfangreiche Original- und Übersetzungsliteratur.

Der dennoch rasch folgende Niedergang von Volapük resultierte u.a. aus dem Beharren SchleyersSchleyer, Johann Martin auf seinen Autorenrechten und der konsequenten Ablehnung von Veränderungsvorschlägen von außen, sprachstrukturell insbesondere aus dem geringen Wiedererkennungswert (Merkhilfe) des an sich aposteriorischen Ausgangsmaterials. Hierdurch war die (passive) Verständlichkeit und Erlernbarkeit der Plansprache deutlich erschwert. Volapük ist heute bis auf einige wenige eher nostalgische Reste (etwa der Rundbrief Vög Volapüka oder eine Wikipedia-Variante) als Gebrauchssprache praktisch verschwunden, bleibt als kulturhistorisches Phänomen und linguistisches Experiment aber von Interesse.

Weitaus erfolgreicher und heute die einzige Plansprache mit nennenswerter praktischer Bedeutung ist Esperanto, das Projekt des Warschauer Augenarztes ZamenhofZamenhof, Ludwik Lejzer, von diesem 1887 auf Russisch unter dem Pseudonym »Doktor Esperanto« (›Hoffender Doktor‹) vorgelegt. Zamenhof orientierte sich in Hinsicht auf Organisations- und Propagandaformen einerseits am Beispiel der Volapükisten (jährliche Weltkongresse, Bildung von Ortsgruppen und Landesverbänden, Gründung einer Sprachakademie, Komposition einer Hymne etc.) und lernte andererseits auch aus dem Misserfolg von Volapük: Im Gegensatz zu SchleyerSchleyer, Johann Martin verschließt sich ZamenhofZamenhof, Ludwik Lejzer Änderungsvorschlägen am Sprachsystem nicht, erklärt Esperanto vielmehr zum ›allgemeinen Eigentum‹ und verzichtet auf alle Autorenrechte. Beleg für den bemerkenswerten und dauerhaften Erfolg von Esperanto ist auch die Tatsache, dass die ›Esperantologie‹ einen eigenen Zweig innerhalb der Interlinguistik darstellt.

Typologisch zählt Esperanto zu den schematischen, streng regelmäßig gebauten Sprachen. Dies zeigt sich etwa in der Bildung der Hauptwortarten durch bestimmte Endungen, -o bei Substantiven (knab-o ›Junge‹), -a bei Adjektiven (bel-a ›schön‹) und -i bei Verben (kant-i ›singen‹), oder in einer autonomen (regelmäßigen) Wortbildung. Der Wortschatz wird in weiten Teilen durch lineare Verkettung von Morphemen konstruiert (agglutinierendes Prinzip). Zentral hierfür sind gut 30 Wortbildungsformen, die ihrerseits z. T. als Basismorpheme fungieren können. So kann z.B. die Ableitungsform ulo auch selbstständig für Person stehen, dient in der Regel aber der Wortbildung: tim-ulo (›Angsthase‹; timi = ›fürchten‹), entsprechend ejo für Ort, kuir-ejo (›Küche‹, zu kuiri ›kochen‹). Durch Kombination lassen sich morphologisch hochkomplexe Wörter bilden wie beispielsweise mal-san-ul-ej/o für Krankenhaus (eigentlich ›Ort für nicht gesunde Menschen‹). Die Wortbildungsbasen sind zu rund 75 % romanischer und zu 20 % germanischer Herkunft. Der Rest resultiert aus unterschiedlichen anderssprachigen, vor allem slawischen Morphemen. Der Wiedererkennungsgrad (Merkhilfe) ist für Kenner romanischer bzw. germanischer Sprachen demnach besonders hoch, wie sich am Beispiel der ersten Sätze der Genesis zeigen lässt:

(1) En la komenco Dio kreis la ĉielon kaj la teron. (2) Kaj la tero estis senforma kaj dezerta, kaj mallumo estis super la abismo; kaj la spirito de Dio ŝvebis super la akvo. (3) Kaj Dio diris: Estu lumo; kaj fariĝis lumo. (http://www.steloj.de/esperanto/biblio/libro_gen.html [Stand 25.7.2016])

(Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde aber war wüst und wirr, Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser. Gott sprach: Es werde Licht. Und es wurde Licht. – Einheitsübersetzung 1980)

Bemühungen, Esperanto durch sprachpolitische Maßnahmen administrativ zu etablieren, blieben trotz einiger Achtungserfolge (z.B. wohlwollende, wenngleich unverbindliche Resonanz seitens des Völkerbundes 1923 sowie der UNESCO 1954, vereinzelte Etablierung im schulischen Fremdsprachenunterricht) letztlich ohne durchschlagende Wirkung. Bekämpft wurden die Esperantisten im Nationalsozialismus und Kommunismus (insbesondere in der StalinStalin, Josef-Ära). Gründe hierfür waren neben der jüdischen Herkunft ZamenhofsZamenhof, Ludwik Lejzer die prinzipiell demokratische Orientierung seines Projektes. Speziell in der Sowjetunion wurden Esperanto-Briefkontakte ins nichtkommunistische Ausland unter Spionageverdacht gestellt. Wie hoch die Zahl der Esperanto-Sprecher heute ist, ist nicht zweifelsfrei zu beziffern. Einige Angaben überschreiten die Millionengrenze. Unstreitig ist die Vitalität der Sprache, was sich an zahlreichen Publikationen oder Internetaktivitäten ablesen lässt. Hervorzuheben ist etwa das 1999 gegründete Lexikografie-Projekt Reta Vortaro (REVO), das neben etlichen anderen Sprachen auch ein aktuelles Lexikon Esperanto-Deutsch bietet (http://www.reta-vortaro.de/revo [Stand: 25.7.2016]).

Der Erfolg von Esperanto im Sinne einer allgemein anerkannten und angewandten Welthilfssprache ist heute dennoch sehr unwahrscheinlich geworden, was im Sinne Umberto EcoEco, Umbertos durchaus kulturpessimistisch kommentiert werden könnte:

So unausweichlich die Forderung nach einer WHS [Welthilfssprache, H.S.] auch sein mag, eine Weltgemeinschaft, die nicht in der Lage ist, sich auf die dringendsten Maßnahmen zur Rettung des Planeten vor der ökologischen Katastrophe zu einigen, scheint kaum geeignet, auf schmerzlose Weise die Wunde zu heilen, die Babel offengelassen hat. (EcoEco, Umberto, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, 339)

Zentral ist aber wohl, dass Englisch inzwischen die Funktion der Weltsprache mehr und mehr besetzt hat. Auch Vorschläge, Esperanto zur Sprache der Europäischen Union zu erheben, blieben (bislang) ohne große Resonanz. Gerade hier aber könnte das als eurozentristisch kritisierte Esperanto als neutrale Sprache im Sinne einer ›Fremdsprache für alle‹ seinen Vorteil ausspielen. Mit dem Ausscheiden Großbritanniens aus der EU (Brexit) ist allerdings – sieht man vom Heimvorteil der Iren ab – das Englische in diesem Rahmen nun auch zu einer (quasi) neutralen Fremdsprache mutiert.

Literatur und Mehrsprachigkeit

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