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6. Schriftsysteme, Sprachen, Mehrsprachigkeit

Monika Schmitz-Emans

Sprachstandardisierung ist in besonderem Maße mit Schrift verbunden, denn Schrift gilt als eine Voraussetzung zumindest strikterer Formen von Standardisierung oder Kodifizierung. Jenseits der übergeordneten Frage nach dem Einfluss von Schriftmedien auf Prozesse der Sprachstandardisierung muss allerdings auch konkret danach gefragt werden, welche Spielarten von Schriftlichkeit es überhaupt gibt und wie sie zu unterscheiden sind. Denn Schrift dient nicht nur dazu, sprachliche Äußerungen festzuhalten, sondern kann grundsätzlich auch anderen Aufzeichnungen dienen, etwa im Falle der musikalischen Notenschrift. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann beschreiben, inwiefern unterschiedliche Arten von Schrift zur Ausbildung von insbesondere literarischer Mehrsprachigkeit beitragen (siehe III.4 Mehrschriftlichkeit). Bezieht man sich eingrenzend auf solche Schriftsysteme, die der sichtbaren Fixierung verbaler Äußerungen bzw. Texte dienen, so lassen sich mindestens folgende Ebenen unterscheiden:

1. Unterschiedliche Typen von Schriftcodes, also etwa segmentierende (phonetische) Schriften, syllabische Schriften, logographische Schriften (siehe CoulmasCoulmas, Florian, Writing Systems, 38–108). Gebräuchliche Schriften basieren selten ausschließlich auf einem einzigen Typus von Schrift. Beispielsweise ist in logographischen Schriftsystemen wie der chinesischen Schrift zwar die Verbindung einzelner Zeichen mit einzelnen Worten vorherrschend; das Schriftsystem bezieht aber auch Konstruktionsprinzipien ein, die syllabisch oder phonetisch funktionieren. Auch ist es für phonetische Schriften fast nie der Fall, dass einzelne Schriftzeichen sich klar einzelnen Lauten bzw. Phonemen zuordnen lassen. Vielmehr weisen phonetische Schriftsysteme, indem sie feste Zeichenkombinationen für einzelne Silben verwenden, die sich nicht aus den ›Lautwerten‹ der Buchstaben erschließen, auch Merkmale von syllabischen Systemen auf. Überdies gibt es Schriftsysteme, die mehrere Typen von Schriftcodes mehr oder weniger gleichberechtigt miteinander kombinieren. So sind in den japanischen Schriftzeichenrepertoires Elemente einer ursprünglich logographischen Schrift (aus China) mit einem silbenschriftlichen Code verbunden. Die abendländischen phonetischen Schriften sind zumindest genetisch vielfach zu frühen logographischen Schriften in Beziehung gesetzt worden. Die semitischen Schriften, etwa das Hebräische, sind phonetische Schriften, die (zunächst) in erster Linie Konsonanten verzeichneten, auch wenn in bestimmten Konstellationen auch ›Konsonantenzeichen‹ vokalische Qualitäten anzeigen konnten (ebd., 116–122); die punktierte Variante des Hebräischen ist insofern ein Hybrid.

2. Innerhalb ein und desselben Typus von Schrift lassen sich viele differente Schriftcodes unterscheiden, etwa innerhalb der (im Wesentlichen) phonetischen Codes Europas die Buchstaben der griechischen, lateinischen und kyrillischen Schrift. In der Linguistik wird für diese unterschiedlichen Schriftcodes der Begriff »script« im Unterschied zu »writing system« vorgeschlagen (ebd., 35). Einzelne, an (nationale) Standardsprachen gebundene Alphabete weisen wiederum (beispielsweise durch diakritische Zeichen konstituierte) Besonderheiten auf. In der Verwendung identischer Schriftsysteme für unterschiedliche Sprachen ergeben sich oft sehr unterschiedliche Formen der Interrelation zwischen Sprach- und Schriftstruktur. So sind schon bei der Verwendung lateinischer Buchstaben für die eng miteinander verwandten Sprachen Deutsch und Englisch sehr unterschiedliche Laut-Buchstabe-Zuordnungen gegeben.

3. Auf der Ebene ihrer graphischen Konkretisierung (wie der des lateinischen Alphabets) sind sowohl historische Entwicklungen als auch synchrone Ausdifferenzierungen zu verzeichnen, und zwar wiederum auf mehreren Ebenen. So konkretisieren sich die Buchstaben des lateinischen Alphabets in verschiedenen Glyphen; das lateinische ›A‹ als abstraktes Buchstabenzeichen lässt sich auf verschiedene Weisen schreiben oder drucken. Die typographische Dimension von Texten, realisiert unter Auswahl aus zahlreichen Schriften und Schriftgrößen, ist nicht nur materiell, sondern auch semantisch für einen Text konstitutiv; das illustrieren Zeitungslayout und Buchdesign, das demonstrieren auch literarische Texte.

4. Für die jeweilige konkrete Realisierung eines (abstrakten) Buchstabens ist auch seine physische Produktionsweise konstitutiv, insbesondere mit Blick auf die Differenz zwischen Handschrift und Druckschrift sowie rezent von Computerschriften.

5. Im Bereich der bestehenden Schriftsysteme wird oft der Versuch unternommen, die Elemente der alltagspraktisch verwendeten Schrift ganz oder teilweise durch erfundene Zeichenrepertoires abzubilden oder zu ersetzen. Solche sekundären Schriftcodes finden ihren Einsatz u.a. in Situationen, die eine konventionell-schriftliche Verständigung verhindern; Morsezeichen sowie spezifische visuelle Signale (Lichtsignale, Fahnen) ersetzen hier die Buchstaben zu Zwecken der Echtzeitkommunikation über räumliche Distanzen hinweg; tastend zu lesende Blindenschriften wurden für Leser entwickelt, die geschriebene Zeichen nicht sehen können. Sekundäre Schriftcodes dienen aber auch dazu, den Lautwert von Schriftzeichen und Texten in möglichst vereinheitlichender Weise darzustellen. Die international gebräuchlichen Lautschriften-Varianten sind in diesem Sinn Meta-Schriften.

Mit dem Unicode wird seit Jahrzehnten an einem entsprechenden graphischen Repräsentationssystem für eine zunehmend größer werdende Zahl von Schriftsystemen gearbeitet, das vor allem auf der Ebene globaler elektronischer Kommunikation die heterogensten Schriftkulturen und Schriftzeugnisse durch Transliteration in einen einheitlichen digitalen Code erschließt. Damit verwandt sind zum einen kryptographische Codes, die sowohl direkt auf Inhalte oder Lautwerte bezogene als auch sekundäre (auf Normalschriften basierende) Schriftcodes sein können; zum anderen kann die Abkehr von vertrauten Schriftcodes durch das Bedürfnis motiviert sein, eine neuartige, eine ›bessere‹, leistungsfähigere oder schönere Schrift zu erfinden. Mit Schriftcode-Erfindungen kann sich ein utopisches Moment verbinden: Dies demonstrieren sowohl Texte in Phantasieschriften als auch Beispiele für die Integration neuer (erfundener) Schriften in konventionell-schriftliche Texte.

6. An der Schwelle zur Schriftlichkeit bzw. an der Grenze zwischen bildlicher Figuration und Schriftzeichen lassen sich gestisch erzeugte Spuren verorten. Was im Alltag eher versehentlich zu geschehen pflegt, kann unter Umständen Teil einer Schriftkonstellation werden: Spuren von Körperbewegungen, von Bewegungen, klimatischen Verhältnissen und materiellen Objekten können sich in die Textgestaltung einmischen und den Buchstaben überlagern; Kleckse, Bewegungsspuren und Spuren anderer Vorgänge können auf dem Papier sichtbar werden.

Literatur

Coulmas, FlorianCoulmas, Florian, Writing Systems. An Introduction to their Linguistic Analysis, Cambridge 2003.

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