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a) Begriffsbestimmung

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Standardsprachen sind doppelt kodifizierte Schriftsprachen. Weitgehend synonym zu Standardsprache werden die Ausdrücke Hochsprache, Schriftsprache, Literatursprache, Kultursprache, Einheitssprache, Koiné und Standardvarietät verwendet (AmmonAmmon, Ulrich, »Standardsprache«). Am Anfang jeder Standardsprache steht die Verschriftung einer bislang nur gesprochenen Sprache bzw. eines Dialekts. Die jeweilige Sprachgemeinschaft muss davor nicht schriftlos gewesen sein; sie kann eine allochthone Schriftsprache verwendet haben, im mittelalterlichen Europa etwa das Lateinische. Alphabetisierung und Schriftkultur fußen dann auf einer Fremdsprache. Mit Verschriftungen gehen häufig Reformen und Neuschaffungen von existierenden Schriftarten einher; so haben das Lateinische, das Georgische, das Armenische und das Kirchenslawische (glagolitisch, dann kyrillisch) ausgehend vom Griechischen eigenständige Schriftarten entwickelt. Schriftsprachen spielen in diesen Prozessen als »Merkmal nationaler Eigenständigkeit« eine bedeutende Rolle (BoederBoeder, Winfried, »Identität«, 66). Auch mündlich tradierte Epen können für die Entwicklung von Standardsprachen von Bedeutung sein. Das antike Griechenland berief sich auf HomerHomers Epen als Gründungsdokumente der eigenen Schriftkultur: sie wurden überliefert, weil man sie aufschrieb (vgl. GlückGlück, Helmut, Schrift und Schriftlichkeit, 125–130).

Am Beginn von Standardisierungen standen in Europa oft Bibelübersetzungen (LewaszkiewiczLewaszkiewicz, Tadeusz, »Rola«). Das gilt für die frühen Schriftsprachen wie das Armenische und Georgische (4. Jahrhundert), das Irische (6. Jahrhundert) und das Althochdeutsche (8. Jahrhundert), noch mehr aber für Schriftsprachen, die im Zusammenhang mit der Reformation entstanden sind oder sich funktional durchsetzten. Die LutherLuther, Martinbibel (Neues Testament 1522, Vollbibel 1534) war für die Entwicklung des Frühneuhochdeutschen von erheblicher Bedeutung. Auch andere reformatorische Bibelübersetzungen waren für die Entwicklung von Standards relevant, so im Englischen (Tyndale-Bibel, 1525), Niederländischen (Doen PieterzonPieterz., Doen, Druck 1523 durch Adriaen van BerghenVan Berghen, Adriaen; 1535, hrsg. v. Jacob van LiesveldtVan Liesveldt, Jacob), Dänischen (Christian den TredjesChristian III. (Dänemark und Norwegen) bibel, 1550), Schwedischen (Gustav WasasGustav I. Wasa (Schweden) bibel, 1541) und Isländischen (Neues Testament 1540). In anderen Sprachgebieten standen Übersetzungen der Bibel und anderer geistlicher Schriften am Anfang ihrer Entwicklung zu Schriftsprachen, so im Slowenischen, Finnischen und beiden Varianten des Sorbischen im 16. Jahrhundert, im Lettischen und Estnischen im 17. Jahrhundert. Die Einflüsse von LuthersLuther, Martin Übersetzungen auf andere Bibelübersetzungsprojekte sind bekannt und wurden vielfach beschrieben (z.B. ErbenErben, Johannes, »Luther«).

Das Arabische wird in der islamischen Welt als Sprache der göttlichen Offenbarung und deshalb als unantastbar betrachtet. Übersetzungen des Korans in andere Sprachen gelten allenfalls als Hilfsmittel für Personen, die des Arabischen nicht mächtig sind. Die moderne arabische Standardsprache beruht auf dem Koranarabischen. Das Maltesische ist der einzige Dialekt des Arabischen, der sich zu einer eigenständigen Standardsprache entwickelt hat. Die anderen real gesprochenen Varietäten des Arabischen gelten ihren Sprechergemeinschaften als prestigelose Dialekte, nicht als Sprachen. Die heutige arabische Standardsprache wird fast nur bei offiziellen Anlässen mündlich verwendet. Das Hebräische hat in der Judenheit eine ähnlich stabile Stellung als Sprache der Heiligen Schrift. Jeder orthodoxe Jude hat es zu lernen, damit er die Thora nicht nur rezitieren, sondern auch verstehen kann. Über die Frage, ob das Jiddische überhaupt eine Sprache sei, gab es um 1900 erbitterte Auseinandersetzungen.

Standardisierung erfolgt dadurch, dass eine Sprache als Sprache identifiziert, verschriftet und durch Wörterbücher und Rechtschreiblehren einerseits, grammatische Regelwerke andererseits reguliert wird; das ist die eingangs erwähnte ›doppelte Kodifizierung‹. Dem schriftsprachlichen Standard folgen in der Regel Festlegungen des orthoepischen Standards (Aussprache). Beides muss durch geeignete Institutionen in der Sprachgemeinschaft implementiert werden (GlückGlück, Helmut, »Standardisierung«). Standardisierungen wählen aus konkurrierenden lexikalischen und strukturellen Varianten aus, sie legen fest, was richtig und was falsch ist. Durch Standardisierungen entstehen Zweifelsfälle, Doppelformen, Schwankungen, ›Hauptschwierigkeiten‹ sowie Fehler und Normverstöße. Der Duden-Band Rich­tiges und gutes Deutsch (EisenbergEisenberg, Peter, Richtiges und gutes Deutsch) umfasst über 1000 Seiten mit (geschätzt) 5000 »Zweifelsfällen« im Deutschen. Standardisierungen definieren darüber hinaus hohe, mittlere und niedrige Register, guten, neutralen und schlechten Stil und legen Muster für unterschiedliche Genres fest. Sie ermöglichen es andererseits, Fehler von rhetorischen Figuren, Innovationen und der »poetischen Lizenz« zu unterscheiden (Dembeck, »Für eine Philologie«, 12).

Textuelle Mehrsprachigkeit, d.h. das Changieren zwischen zwei oder mehreren Sprachen oder Sprechweisen innerhalb eines Textes, setzt voraus, dass die Leser bzw. Hörer über Kenntnisse mehrerer Sprachen verfügen oder doch wenigstens in der Lage sind, anderssprachige Passagen als poetische Anspielungen oder als Quellen von Missverständnissen zu interpretieren (vgl. z.B. MarešMareš, Petr, »Also – Nazdar!«; Dembeck, »Für eine Philologie«). Beispiele sind die französischen Sätzchen, Wörter und Wendungen in vielen Romanen Theodor FontanesFontane, Theodor oder die kölschen Passagen in Ulla HahnHahn, Ullas Roman Das verborgene Wort (viele werden in Fußnoten ins Hochdeutsche übersetzt).1Hahn, Ulla

Die Standardisierung einer Sprache schafft überregionale Kommunikationsräume, die oft als »national« verstanden wurden und werden (vgl. dazu JanichJanich, Nina/GreuleGreule, Albrecht, Sprachkulturen). Sie ermöglichen die Verständigung ohne Dolmetscher und ohne Rückgriff auf Fremdsprachen. Im deutschen Sprachraum setzte sich der im mitteldeutschen Gebiet entwickelte neuhochdeutsche Standard um die Mitte des 18. Jahrhunderts durch, nachdem Kaiserin Maria TheresiaMaria Theresia von Österreich GottschedGottsched, Johann Christophs Deutsch, das Deutsch »der oberen Classen« in Sachsen, als musterhaft akzeptiert hatte. Der oberdeutsche Widerstand gegen diese Entwicklung (u.a. Carl Friedrich AichingerAichinger, Carl Friedrich, Johann Siegmund Valentin PopowitschPopowitsch, Johann Siegmund Valentin, Augustinus DornblüthDornblüth, Augustinus, Johann Jakob BodmerBodmer, Johann Jakob, Johann Jakob BreitingerBreitinger, Johann Jakob) blieb erfolglos (vgl. von PolenzPolenz, Peter von, Deutsche Sprachgeschichte). Großräumige Verständigungssprachen waren von der Antike bis ins 18. Jahrhundert das Lateinische im Westen, das Griechische, Arabische und Osmanisch-Türkische im Osten des Mittelmeerraumes. Das Kirchenslawische hatte in den Ländern der orthodoxen Slaven eine vergleichbare Funktion. Das Mittelniederdeutsche war vom 13. bis zum 16. Jahrhundert die Koiné Nordeuropas. Es verlor diese Funktion infolge der Verlagerung von Handelswegen und ging als internationale Verständigungssprache in den Jahren um 1600 unter. Das Französische stieg im 17. Jahrhundert zur Verständigungssprache der europäischen Eliten auf, das Englische wurde seit dem späten 18. Jahrhundert zur ersten tatsächlichen Weltsprache. Weitere europäische Kolonialsprachen setzten sich außerhalb Europas großräumig als Standardsprachen durch: Spanisch, Portugiesisch und Russisch. Das Arabische ist seit dem 7. Jahrhundert die Sprache des Kults, des Staats und der Bildung in der gesamten islamischen Welt; später übernahmen das Persische und das Osmanisch-Türkische einige dieser Funktionen.

Literatur und Mehrsprachigkeit

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