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3 Die Hochphase des Imperialismus von ca. 1870 bis ca. 1925
ОглавлениеIn den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts begann die Phase des Hochimperialismus. Während zuvor indirekte politische Einflussnahme und wirtschaftliche Durchdringung Ziel westlicher Mächte im Vorderen Orient und in anderen Teilen der Welt waren, kam es nun mehr und mehr zur direkten Beherrschung. Die Kolonialismusforschung unterscheidet dabei drei Formen von Kolonien: erstens die sogenannte Stützpunktkolonie, d. h. eine Kolonie, die dazu dient, in einer strategisch wichtigen Region einen militärischen, im Regelfall für die Marine nutzbaren Stützpunkt zu erlangen; zweitens die sogenannte Beherrschungskolonie, bei der die imperialistische Macht die politische und im Regelfall auch wirtschaftliche Kontrolle über ein gegebenes Territorium ausübt. Dies geschah zum Teil auf dem Weg indirekter Herrschaft, d. h. unter zumindest äußerlicher Beibehaltung lokaler politischer Strukturen. Der dritte Typ ist die sogenannte Siedlungskolonie, bei der zusätzlich zur Übernahme politischer Herrschaft Personen entweder aus dem Mutterland der Kolonie oder solche, die mit Bewohnern des Mutterlandes gleichgesetzt werden (etwa die spanischen und maltesischen Einwanderer in Algerien, denen in Algerien die französische Staatsbürgerschaft verliehen wurde) angesiedelt werden.10
In der älteren Imperialismusforschung wird im Regelfall, ausgehend von Überlegungen sowohl liberaler als auch marxistischer Forscher des frühen 20. Jahrhunderts, die Annahme vertreten, die Kolonisierung außereuropäischer Territorien sei in erster Linie das Ergebnis der Konkurrenz zwischen Industriemächten um Absatzmärkte und Rohstoffquellen gewesen. Dies ist nur zum Teil richtig. Zum einen war es so, dass die wichtigsten imperialistischen Mächte, insbesondere Großbritannien, bis in die 1930er Jahre in ihren Kolonien im Regelfall eine Politik der offenen Tür vertraten. Das heißt, dass auch in britischen Kolonien alle anderen europäischen und außereuropäischen Mächte zu gleichberechtigten Bedingungen Handel treiben konnten; von exklusiven Rohstoffquellen und Absatzmärkten konnte also nicht die Rede sein. Zum anderen darf der machtpolitische und militärische Aspekt kolonialer Beherrschung nicht vernachlässigt werden. An der Übernahme von Kolonien beteiligt zu sein war Ausweis des Großmachtstatus eines europäischen Staates. Die menschlichen Ressourcen der Kolonien stellten darüber hinaus gegebenenfalls einen wichtigen Grundstock für die militärische Macht des Mutterlandes dar. Das galt insbesondere für Großbritannien und Frankreich, die die großen europäischen Kriege des 20. Jahrhunderts nicht hätten führen und gewinnen können, wenn sie nicht über die Humanressourcen Indiens oder Nord- und Westafrikas verfügt hätten.
Im Vorderen Orient finden sich alle drei der eben genannten Typen von Kolonien, insbesondere aber sogenannte Beherrschungs- und Siedlungskolonien. Zu den Siedlungskolonien gehörte dabei Algerien, das nach 1830 als erstes Land im Vorderen Orient unter Kolonialherrschaft geriet. Die französische Kolonialherrschaft in Algerien führte im Verlauf der folgenden Jahrzehnte zur weitgehenden Zerstörung der einheimischen algerischen Gesellschaft durch die französischen Kolonialherren. Aufstände der muslimischen Algerier hatten immer weitere Enteignungen lokaler Grundbesitzer und die Übernahme der fruchtbarsten Teile des Landes durch Siedler zur Folge. Diese stammten entweder aus Frankreich selbst oder Spanien, Italien und Malta. Die Letztgenannten wurden, anders als die muslimischen Algerier, den Franzosen gleichgestellt. Die ihrer Oberschicht weitgehend beraubte einheimische Bevölkerung wurde so zu einer Schicht von Landarbeitern, die über keine politischen Rechte verfügte. Die nördlichen Teile Algeriens wurden als Departement in das französische politische System eingegliedert. Wahlberechtigt waren dabei aber nur solche Personen, die bereit waren, sich dem französischen Zivilrecht zu unterwerfen, was für die Muslime Algeriens inakzeptabel war. Die muslimischen Algerier waren so bis zum Ende der Kolonialzeit im Jahr 1962 Bürger zweiter Klasse in ihrem eigenen Land. Die Marginalisierung der muslimischen Algerier war dabei insbesondere das politische Programm der Siedler. Durch ihren Einfluss in Paris, wo sie über Abgeordnete und Minister verfügten, sorgten diese über Jahrzehnte dafür, dass die wenigen Bestrebungen der französischen Politik, die Situation der muslimischen Algerier zu verbessern, im Sande verliefen. Die im Laufe der Zeit herangewachsene, nicht große, aber kulturell sehr stark assimilierte muslimische algerische Mittelschicht wurde so immer wieder vor den Kopf gestoßen. Mehr als anderswo im Vorderen Orient hat sich in dieser spannungsreichen Situation die Dekolonisierung Algeriens nach dem Zweiten Weltkrieg daher gewalttätig vollzogen. Die Siedler verteidigten die französische Herrschaft ohne Rücksicht auf Verluste, da sie im Falle einer Unabhängigkeit das Ende ihrer Privilegien, ja ihrer Existenz in Algerien kommen sahen. Die Dekolonisierung ist so in Algerien in den 50er und frühen 60er Jahren das Ergebnis eines langen Krieges. Dieser wurde zunächst zwischen dem französischen Staat, der europäischen Siedlerbevölkerung und ihren Verbündeten unter der muslimischen Bevölkerung auf der einen und einer nationalistischen Guerilla auf der anderen Seite ausgesprochen blutig ausgetragen. Am Ende des Krieges begannen sich innerhalb dieser Gruppen Konflikte aufzutun. Mit radikalen Siedlern verbündete Truppenteile versuchten gegen die französische Regierung zu putschen, bestimmte Gruppen innerhalb der Befreiungsarmee beseitigten Konkurrenten und monopolisierten dann die Macht im unabhängigen Algerien, das die Siedler mit wenigen Ausnahmen verließen.11
Die zweite Siedlungskolonie im Vorderen Orient war Libyen, das, bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg osmanische Provinz, ab dem Jahr 1911 von Italien beansprucht und erobert wurde. Diese Eroberung zog sich auch hier über viele Jahre hin und wurde insbesondere durch das faschistische Italien in den 1920er Jahren ausgesprochen blutig betrieben. Auch in Libyen wurde eine Siedlerbevölkerung im Lande installiert. Ähnlich wie in Algerien haben diese europäischen Siedler nach dem Ende der Kolonialzeit das Land wieder verlassen. Den dritten Fall einer Siedlungskolonie im Vorderen Orient stellt die zionistische Landnahme in Palästina dar. Anders als im algerischen und libyschen Fall gab es hier keine Kolonialmacht, die die Landnahme betrieb. Sie war vielmehr Produkt einer Nationalbewegung, die, transnational organisiert, eine Heimstatt für die nunmehr als Volk wahrgenommenen Juden Europas und des Nahen Ostens suchte. Die Gründung des Staates Israel wird uns im Weiteren noch beschäftigen.
Nicht allein die Übernahme der politischen Herrschaft in weiten Teilen des Nahen Ostens durch imperialistische Mächte und die Vertreibung zehntausender Muslime vom Balkan im Zuge der Herauslösung dortiger Nationalstaaten aus dem osmanischen Reichsverband war für viele Angehörige der Istanbuler Eliten ein Schock. Es war auch der Umstand, dass die Versuche, innerhalb des Reiches zu Reformen zu gelangen, eine ganz andere Wendung nahmen, als es die führenden Bürokraten und die Angehörigen der modernen gebildeten Schichten erhofft hatten. Im Jahr 1876 wurde im Osmanischen Reich eine Verfassung erlassen. Zum Teil geschah das aus außenpolitischen Erwägungen. Man hoffte, im Krieg gegen Russland und die neuen Balkanstaaten auf diese Weise das Bündnis der Briten gewinnen zu können. Mindestens genauso wichtig aber war, dass die Einführung einer Verfassung den Interessen und Vorstellungen der einheimischen Eliten entsprach. Die Verfassung orientierte sich an zeitgenössischen europäischen Modellen, insbesondere derjenigen Belgiens. Es war ein liberales Dokument im Sinne des 19. Jahrhunderts. Das heißt, es war ausdrücklich nicht demokratisch. Das Wahlrecht sollte nur bestimmten, besonders dafür qualifizierten Männern zustehen. Dazu gehörten keinesfalls Personen, die aufgrund mangelnder Bildung und fehlenden Eigentums als nicht geeignet galten, an den Angelegenheiten des Gemeinwesens teilzuhaben. Die Macht des Sultans wurde zwar beschränkt, es blieben ihm aber wichtige Vollmachten. Er war berechtigt, Dekrete zu erlassen, und er konnte Angehörige der politischen Elite, die als politisch gefährlich galten, exilieren. Der im Jahr 1876 auf den Thron gelangte neue Sultan Abdülhamid II. hat diese Vollmachten, sobald sich die Lage etwas beruhigt hatte und auch der Frieden im Äußeren wiederhergestellt war, dahingehend genutzt, dass er die führenden Bürokraten, welche die Einführung einer Verfassung betrieben hatten, von der Macht verdrängte und dann, entsprechend seinen Vollmachten, die Anwendung der Verfassung vorläufig suspendierte.
Von nun an regierte der Sultan selbst. Damit war die Lage eine ganz andere als in den Jahrzehnten zuvor, in denen wenig präsente Sultane die Geschäfte weitgehend den führenden Bürokraten überlassen hatten. Dass erstmals seit Beginn der Reformen die bürokratische Elite an Einfluss verlor, bedeutete nicht, dass die Veränderungsprozesse, die seit 1830 angestoßen worden waren, sich nunmehr verlangsamt hätten oder gar aufgegeben worden wären. Im Gegenteil! Auch unter der Regierung Abdülhamids II. wurde die Modernisierung des Osmanischen Reichs fortgesetzt. Das galt insbesondere für den weiteren Ausbau des Bildungssektors. Es wurden Primarschulen und weiterführende Schulen gegründet, um in der Lage zu sein, in Zukunft für den immer größeren Bedarf des Staates auf geeignetes Personal zurückgreifen zu können. Damit war es jetzt erstmals auch Muslimen in großer Zahl möglich, moderne, unter den neuen Bedingungen verwertbare Bildung zu erlangen. Bis dahin war dies weitgehend das Privileg der christlichen und jüdischen Minderheiten gewesen, die ihre Kinder in von christlichen Missionaren, im Falle der Juden auch in von der säkular orientierten Alliance Israélite Universelle betriebene Schulen schickten. In diesen Schulen lernte man nicht allein europäische Sprachen, meist Französisch. Man lernte auch moderne Naturwissenschaften und anderes mehr. Das traditionelle Schulwesen des Vorderen Orients bot dergleichen nicht und wurde auch von kritischen Muslimen als überholt empfunden. Da Muslime aus naheliegenden Gründen das moderne Schulangebot der Christen und Juden nur wenig genutzt hatten, waren sie im Laufe des 19. Jahrhunders in Bildungsdingen ins Hintertreffen geraten. Die neuen staatlichen Schulen boten hier Abhilfe.
Der zweite zentrale Bereich der Modernisierung war die Infrastruktur. Eisenbahnlinien wurden gebaut, Dampfschiffe ersetzten die Segler, Telegraphenanlagen durchzogen das ganze Land und ermöglichten nie dagewesene rasche Kommunikation, sowohl für die Regierung als auch für die Kaufleute. In großen Städten wurden Uhrtürme errichtet, so dass die Zeit nunmehr nicht nach den muslimischen Gebetszeiten gemessen wurde, sondern nach »westlicher« Methode. Neue Stadtviertel entstanden nach dem damals ganz neuen Vorbild der Pariser Boulevards und boten nicht allein Europäern, sondern auch den von europäischer Mode und europäischer Lebensweise faszinierten Angehörigen der lokalen Eliten ein angemessenes Lebensumfeld. Was immer in Europa aktuell war, fand rasch begeisterte Anhänger, von den Klavierstunden für höhere Töchter bis hin zu den am Ende des 19. Jahrhunderts erstmals veranstalteten Filmvorführungen.
Diese Infrastrukturmaßnahmen ermöglichten zum einen eine bessere Durchdringung und Kontrolle des Landes durch die Zentralregierung, in einem Ausmaß, wie das bis dahin nie möglich gewesen war. Sie erlaubten zum anderen eine immer weitere wirtschaftliche Anbindung des Reiches an den Weltmarkt. Beim Erteilen von Eisenbahnkonzessionen wurde den ausländischen Partnern, die die Eisenbahn bauten (der Staat verfügte, wie wir sahen, nicht über die Ressourcen dazu), zugestanden, die um die Bahnstrecke herum liegenden Gegenden wirtschaftlich auszubeuten. Eisenbahnen ermöglichten den Transport von Rohstoffen und landwirtschaftlichen Gütern an die Küste, wo die Exporthäfen nun mehr denn je florierten.
Nicht alle profitierten von diesen Veränderungen. Der Sultan bemühte sich, auch für die zahlreichen Verlierer der Modernisierungsprozesse Fokus der Loyalität zu bleiben. Er stellte sich mehr noch als seine Vorgänger als islamischer Herrscher dar und stützte die von ihm für zuverlässiger gehaltenen, nicht an der Militärakademie ausgebildeten, aus den Mannschaftsrängen aufgestiegenen Offiziere. Auch die Führer der tribalen Gruppen Anatoliens und der arabischen Provinzen suchte er an sich zu binden.
Doch letztlich war das Bündnis des Sultans mit den Vertretern von zunehmend an Bedeutung verlierenden Milieus zum Scheitern verurteilt. Wirtschaftliches Wachstum, die neue Infrastruktur und Bildung hatten dafür gesorgt, dass die politisch relevanten Gegner des Sultans sich nicht mehr wie in den 1870er Jahren aus einer kleinen Schicht von Bürokraten in der Hauptstadt rekrutierten. In den Provinzen und größeren Städten waren Ratsgremien geschaffen worden, in denen die lokale Elite an der Ausübung der Macht beteiligt wurde. Zeitungen berichteten trotz massiver Zensur über Neuerungen im wissenschaftlichen, kulturellen und sozialen Denken. Die moderne Öffentlichkeit, deren Anfänge in der vorherigen Epoche lagen, nahm so an Bedeutung noch weiter zu.
Es bildeten sich im In- und Ausland geheime Zirkel von Eliteangehörigen, die das autoritäre Regime des Sultans durch ein fortschrittlicheres zu ersetzen suchten. Wie dies aussehen sollte, blieb unter ihnen umstritten. Einige sahen im liberalen England das Vorbild, andere meinten, eine Modernisierung unter den schwierigen Bedingungen des Reiches sei nur durch eine starke Regierung möglich. Als der Sultan 1908/09 gestürzt wurde, waren es nach einigem Hin und Her die Vertreter einer autoritären Modernisierung im Militär, die sich durchsetzten und dann das Osmanische Reich an der Seite Deutschlands in den Ersten Weltkrieg führten.
Der Krieg verlief für die Osmanen nicht durchgängig schlecht. Die Angriffe der Entente-Mächte, sei es an den Meerengen, sei es in Ostanatolien oder im Irak, konnten zunächst zurückgeschlagen werden. Erst im Jahr 1918 geriet die osmanische Militärmaschine wirklich in die Krise, ohne aber vollständig zusammenzubrechen. Insofern waren die harten Friedensbedingungen des Vertrags von Sèvres, den die Entente-Mächte nach Kriegsende der osmanischen Regierung aufzwangen, mehr noch aber der Versuch Griechenlands, sich Westanatoliens zu bemächtigen, für viele türkische Nationalisten untragbar. Von Angehörigen des jungtürkischen Geheimdienstes wurde unter der Führung von General Mustafa Kemal, dem späteren Atatürk, an den sultanischen Behörden vorbei in Anatolien ein bewaffneter Widerstand gegen den Defätismus der Istanbuler Regierung organisiert. Dieser Unabhängigkeitskrieg verlief schließlich, da die Entente-Mächte kriegsmüde waren und an einem für sie zweitrangigen Schauplatz keine großen Ressourcen mehr mobilisieren konnten, für die türkischen Nationalisten siegreich. Ihre neue, in Ankara angesiedelte Regierung konnte im Frieden von Lausanne 1923 die Bedingungen von Sèvres revidieren; der moderne türkische Nationalstaat war geboren.
Die Gründung eines arabischen Nationalstaats in den ostarabischen Provinzen des Osmanischen Reiches war vor dem Krieg nur das Projekt einer Minderheit innerhalb der Bildungsschichten des arabischen Raums gewesen. Für die beduinischen Verbände, die im Weltkrieg unter der Führung des Scherifen von Mekka (d. h. des vom Propheten Muhammad abstammenden, erblichen osmanischen Gouverneurs der Stadt) an der Seite der Briten gekämpft hatten, war Nationalismus sicher keine Motivation. Dennoch, die osmanische Zentralregierung hatte es durch harsche Maßnahmen während des Krieges verstanden, die Bewohner der arabischen Provinzen gegen das Reich aufzubringen. Diese forderten nun, dass die von den Briten während des Krieges abgegebenen Versprechungen der Gründung eines arabischen Nationalstaats in den ehedem osmanischen Provinzen umgesetzt würden. Die Briten freilich hatten sich für die Zeit nach Kriegsende längst mit Frankreich auf eine Aufteilung des Gebietes unter den beiden Großmächten geeinigt (das berühmte Sykes-Picot-Abkommen). Zudem hatte die britische Regierung während des Krieges, in dem Glauben, die Juden verfügten überall auf der Welt über großen Einfluss, der entstehenden zionistischen Bewegung die Schaffung einer jüdischen »nationalen Heimstätte« in Palästina versprochen. Um ihren imperialistischen Absichten den Schein der Legitimität zu geben, ließen sich Briten und Franzosen nach dem Krieg vom neugegründeten Völkerbund mit der Verwaltung des späteren Palästinas, Jordaniens und Iraks einerseits, der des späteren Syriens und Libanons andererseits betrauen. Im Rahmen dieser Völkerbundsmandate sollten die genannten Territorien auf eine auf unbestimmte Zeit verschobene Unabhängigkeit vorbereitet werden.
Der Erste Weltkrieg führte so zum Ende der imperialen Ordnung des Osmanischen Reiches. Diese gewaltsame Zerstörung der imperialen Ordnung begann mit den Balkankriegen unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg und endete mit dem Frieden von Lausanne. Nationalistische Ideologien, die zuvor bereits insbesondere die jüngere Generation und die nicht ganz an der Spitze der Gesellschaft stehenden Teile der Bildungsschichten erreicht hatten, setzten sich nun in der Orgie von Gewalt, die der Erste Weltkrieg auch für die Menschen des Vorderen Orients bedeutete, endgültig durch. Zu diesen Gewaltphänomenen gehörten bereits vor 1914 die fortgesetzte Vertreibung muslimischer Menschen vom Balkan, dann die harschen Maßnahmen der osmanischen Regierung zur Sicherung von Gehorsam und Mobilmachung in Großsyrien, die zusammen mit einer Seeblockade der Entente-Mächte zum Tod mehrerer hunderttausend Menschen durch Hunger und Seuchen führte, die gezielte Ermordung von womöglich über einer Million armenischer und syrischer Christen in Anatolien, denen die jungtürkische Regierung (im armenischen Fall nicht immer zu Unrecht) Kollaboration mit dem russischen Feind vorwarf, endlich gegenseitige Massaker von Muslimen und Griechen während des türkischen Unabhängigkeitskrieges und schließlich der Bevölkerungsaustausch nach Kriegsende, bei dem die Griechisch-Orthodoxen Anatoliens und die Muslime Griechenlands jeweils ihre Heimat gegen ein neues Zuhause in »ihrem« Nationalstaat eintauschen mussten. In Anatolien waren nunmehr im Wesentlichen noch sunnitische und alevitische türkisch- und kurdischsprachige Menschen zuhause. Der neue Nationalstaat setzte sich zur Aufgabe, aus diesen Menschen mit meist religiöser oder lokaler Identität Türken im Sinne des modernen Nationalismus zu machen.12
Auch in den ehemaligen arabischen Provinzen versuchten die einheimischen Eliten, teils mit Unterstützung der Kolonialmächte, teils gegen ihren Willen, aus ihren Landsleuten patriotische Bürger der neugebildeten Nationalstaaten zu machen. In Ägypten gab es seit dem Ende des 19. Jahrhunderts einen lokalen ägyptischen Nationalismus, dessen Vertreter nach Ende des Krieges zum Widerstand gegen die fortgesetzte britische Beherrschung des Landes aufriefen. Es gelang dieser Bewegung, weite Teile der städtischen Bevölkerung, Muslime wie Christen, für die Idee der ägyptischen Unabhängigkeit zu begeistern und die Briten nach 1919 zu weitgehenden Zugeständnissen zu zwingen. Eine britische Garnison blieb allerdings im Lande und kontrollierte die Kanalzone. Die von Ägypten im Jahr 1936 endgültig erlangte Unabhängigkeit stand immer unter dem Vorbehalt britischer Einmischung, die insbesondere während des Zweiten Weltkrieges sehr massiv ausfallen konnte.
In den französischen Mandatsgebieten im heutigen Syrien und Libanon gab es zunächst bewaffneten Widerstand gegen die neuen Herrscher. Der Versuch der lokalen Eliten, einen großsyrischen Nationalstaat zu schaffen, scheiterte unter der bewaffneten Übermacht Frankreichs. Die Mandatsmacht gründete im Libanon einen eigenen Staat, der unter der Dominanz der katholischen und frankreichfreundlichen maronitischen Volksgruppe stehen sollte. Auch im übrigen Syrien versuchte man kleine, ethno-religiös einigermaßen homogene Einheiten zu schaffen. Der syro-arabische Nationalismus der Eliten war aber so stark, dass Frankreich der Errichtung eines syrischen Einheitsstaates zustimmte. Dessen Unabhängigkeit wurde zwar versprochen, vor Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch nicht umgesetzt.
Faisal, der ursprünglich von der dortigen Nationalbewegung als König Syriens ausersehene Sohn des Scherifen von Mekka, fand nach dem Scheitern dieses Projekts offene Aufnahme im britisch beherrschten Irak, wo die Mandatsmacht nach einem geeigneten König für den unter ihrer Ägide zu gründenden Staat suchte. Auch hier kam es zu Widerstand gegen die neue Kolonialherrschaft, der aber genauso wie in Syrien angesichts der militärtechnischen Überlegenheit der Briten bald gebrochen werden konnte.
Die Bevölkerung Iraks war recht heterogen. Einer Masse schiitischer Landbewohner im Süden und kurdischer tribaler Gruppen im Norden stand die sunnitische Bevölkerung im Zentrum des Landes gegenüber. In osmanischer Zeit war Irak nie gemeinsam verwaltet worden. Beim Versuch, in dieser schwierigen Gemengelage einen Nationalstaat zu gründen, bedienten sich Faisal und seine britischen Protektoren der sunnitischen Bürokraten- und Offiziersschicht, die bereits in osmanischer Zeit bestimmend gewesen waren. Die religiösen Führer der Schiiten wurden, obwohl zum guten Teil schon immer oder doch seit Generationen im Lande ansässig, als Perser abgestempelt, die im neuen arabischen Irak nichts zu sagen haben sollten.13
Auf Dauer noch problematischer war das britische Agieren im palästinensisch-transjordanischen Mandatsgebiet. Die Region jenseits des Jordans, das heutige Jordanien, eine damals gänzlich unterentwickelte, von beduinischen Gruppen dominierte Region, wurde Abdallah, dem Bruder Faisals, als Emirat unter weitgehender britischer Kontrolle zugestanden. Westlich des Jordans gab es Regionen vergleichsweise intensiver Landwirtschaft und zahlreiche Städte, nicht zuletzt Jerusalem. Hier nun sollte einerseits eine Unabhängigkeit des Territoriums, das genauso wenig wie Irak in den Jahrhunderten zuvor eine politische oder kulturelle Einheit dargestellt hatte, vorbereitet werden. Anderseits sollte, entsprechend den britischen Zusagen während des Krieges, eine Heimstatt für das jüdische Volk geschaffen werden. Vor 1918 lebten nur wenige Juden im Land. Die überwiegend säkulare, oftmals sozialistische zionistische Bewegung kaufte Land von palästinensischen Großgrundbesitzern und versuchte, jüdische Einwanderer aus Europa darauf anzusiedeln. Unter der arabischen Bevölkerung Palästinas entwickelte sich bald Widerstand gegen das zionistische Siedlungsprojekt. Dieser Widerstand sorgte für die Entstehung eines eigenen palästinensischen Nationalbewusstseins, das sich nach der Gründung des Staates Israel und der Vertreibung eines großen Teils der arabischen palästinensischen Bevölkerung vom Territorium des neuen Staates noch verstärkte. Dass es zu dieser Gründung kommen würde, war vor dem Zweiten Weltkrieg allerdings durchaus nicht klar. Angesichts der Deutlichkeit des palästinensischen Widerstandes gegen das zionistische Projekt versuchten die Briten in den 30er Jahren vielmehr die in Anbetracht der Lage in Europa zunehmende zionistische Einwanderung weitgehend zu unterbinden. Teilungspläne, die einen kleinen Teil des Landes den Zionisten zugesprochen hätten, wurden von der arabischen Seite abgelehnt.14
In Iran kamen im Vergleich zum Osmanischen Reich die Modernisierung von Staat und Gesellschaft vor dem Ersten Weltkrieg nur mühsam voran. Eine wirtschaftliche Anbindung des Landes an den Weltmarkt durch Ausbau der Verkehrswege fand nicht statt. Von einer modernen Armee, die eine wirkliche Kontrolle der Regierung über die Provinzen ermöglicht hätte, konnte, anders als beim westlichen Nachbarn, nur in Ansätzen die Rede sein. Die Herrscher bemühten sich, mit der Vergabe von wirtschaftlichen Konzessionen an ausländische Finanziers ihre Ressourcenbasis zu verbreitern. Die so eingenommenen Gelder wurden aber kaum für die Modernisierung der Infrastruktur ausgegeben. Sie dienten hauptsächlich der Repräsentation, insbesondere auf kostspieligen Reisen der Herrscher nach Europa. Gegen die mit den Konzessionen verbundene ausländische Einflussnahme kam es gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu Widerstand, insbesondere von Seiten der schiitischen Geistlichkeit. In Teheran oder Täbris fanden darüber hinaus die nicht zuletzt aus dem Osmanischen Reich importierten Ideen des Nationalismus und des Konstitutionalismus Anhänger. Es bildete sich eine Oppositionsbewegung, die vorübergehend durchaus Erfolge erzielen konnte. Letztlich war sie aber zu heterogen in ihrer Zielsetzung, auch verfügte sie kaum über eine das ganze Land erfassende Infrastruktur. Endlich war der russische Nachbar nicht an einer Modernisierung Irans interessiert. Erst mit der Machtergreifung eines Offiziers der kleinen, nach europäischen Vorbildern organisierten Elitetruppe, Reza, im Jahr 1925 begann in Iran eine Epoche der beschleunigten, von oben gesteuerten Veränderungen. Angesichts des damaligen Widerstandes des schiitischen Klerus gegen eine als unislamisch angesehene republikanische Staatsform ließ er sich zum König krönen und begründete damit die Pahlavi-Dynastie, die das Land bis 1979 beherrschte.
Iran und die Türkei waren nach 1920 die einzigen muslimischen Staaten auf der Welt, die nicht unter europäischer Kolonialherrschaft standen. Anders als in der Türkei stand die iranische Unabhängigkeit dabei bis in die 1950er Jahre stets unter dem Schatten der Sowjetunion und der Briten, die, soweit sie es insbesondere in der Zeit des Ersten und Zweiten Weltkrieges für nötig erachteten, jederzeit im Lande eingreifen und etwa die Regierung stürzen konnten. Dies ist im Jahr 1941 auch Reza Schah widerfahren, der aus der Sicht der Briten zu große Sympathien für das nationalsozialistische Deutschland hegte.