Читать книгу Alter und Devianz - Группа авторов - Страница 15

1.1 Kriminelle Energie und Alterskriminalität

Оглавление

Richtig ist, dass man auf der Grundlage der Tatverdächtigenbelastungszahlen von einer Alterskriminalitätskurve ausgeht (vgl. Suhling & Greve, 2010, S. 43), die das massivste Aufkommen krimineller Handlungen im Jugendalter beschreibt und dann kontinuierlich abfällt. Kriminalität tritt im hohen Alter damit statistisch seltener auf. Gleichwohl existiert sie, und es fehlen Ideen, wie damit umzugehen ist. Aber auch wenn es dafür Handlungsansätze gäbe: Lässt sich, wie in dem Gutachten angedeutet, Gesetzestreue tatsächlich mit einem – salopp formuliert – schwachen Akku für destruktives Verhalten befriedigend erklären? Eine ebenso gewagte wie unbelegte Annahme! In einem Online-Lexikon für Psychologie findet sich indessen eine deutliche Unterstützung für diese Behauptung. Hier ist von einer Kriminalität der Schwäche die Rede, die angesichts einer tendenziell abnehmenden Körperkraft die Durchführung von Straftaten erschwere oder unmöglich mache.

(www.spektrum.de/lexikon/psychologie/alterskriminalitaet/708).

Ohne große Mühe fallen uns auch ohne intensive Recherche viele alternative Konstrukte für eine Abnahme der Kriminalität im Alter ein. Dazu zählen variierende Impulskontrolle, Angst vor Bestrafung oder Statusverlust, steigendes Einsichtsvermögen, höhere Ausprägungen von Rechtsbewusstsein, Rollenkonformität oder Folgenabschätzung bis hin zu Gelegenheitsmangel oder einfach mehr Raffinesse in der Umsetzung von Straftaten. Diese erste Auflistung alternativer und nicht durchgängig trennscharfer Erklärungsmuster sollte Anlass genug sein, dieses Feld genauer zu beforschen. Schon James E. Birren hat als Pionier der Altersforschung (1974, S. 291) darauf hingewiesen, dass es gefährlich ist, Straftaten im Altersverlauf zu interpretieren, ohne die zugrundliegenden psychologischen und soziologischen Faktoren genauer zu kennen. Zudem erscheint es problematisch, die steten Veränderungen der Alterszusammensetzung in der Bevölkerung gänzlich auszublenden. Schnell entsteht hier die Gefahr von rigiden Altersklischees. Um dem entgegen zu wirken, werden gerade im Hinblick auf die Vorhersage von Kriminalität derzeit Modellierungsverfahren erprobt, die das Zusammenspiel soziologischer, psychologischer und kultureller Faktoren gezielt einbeziehen (vgl. Cornelius, Lynch & Gore, 2017). Es bleibt abzuwarten, welchen Beitrag derartige Programme zur Erklärung von Alterskriminalität noch leisten werden. Zur Vermeidung realitätsfremder Altersbilder braucht es in jedem Fall belastbare empirische Daten aus der Forschung.

Dass gerade zum Thema der Alterskriminalität verschiedene Altersmythen kursieren, vor denen auch die Wissenschaft nicht gefeit ist, zeigt exemplarisch die gerontologische Forschungstradition der DDR. In den einschlägigen Publikationen über das Alter findet sich dort die Idee, dass sich ein Rechtsbewusstsein und damit einhergehend ein Rechtsverhalten durch kontinuierliche Propagandamaßnahmen geradezu zwangsläufig im höheren Alter einstelle. Entsprechend enthält die von Pickenhain und Ries (1988, S. 644) herausgegebene Enzyklopädie des Alterns des früheren VEB Bibliografisches Institut Leipzig folgender Passus:

»Ältere Menschen befolgen im Allgemeinen gewissenhaft das vom sozialistischen Recht gebotene Verhalten. Sie zeichnen sich durch Verantwortungsbewusstsein bei der Erfüllung von Pflichten und der Wahrnehmung von Rechten aus. Die vom Leben bestätigte Übereinstimmung zwischen dem sozialistischen Recht, den moralischen Anschauungen werktätiger Menschen und bewährten Gewohnheiten des Alltagslebens kann hierfür ebenso als Grund genannt werden wie die in vielen Lebensbereichen und -situationen erworbene Erkenntnis von der gesellschaftlichen Notwendigkeit und dem persönlichen Vorteil eines Verhaltens, das den Erfordernissen von Ordnung, Sicherheit und Disziplin entspricht.«

Staatstreue und Bürgerpflichtempfinden älterer Menschen wäre somit nichts anderes als das Ergebnis einer erfolgreichen und in diesem Fall sozialistischen Sozialisation. Diese Vorstellung suggeriert, ältere Menschen seien lediglich Produkt ihres zugrundeliegenden politischen Systems. Die persönliche Entscheidungsfähigkeit und die sich ständig neu stellende Entscheidungsnotwendigkeit kommen bei dieser Vorstellung hingegen nicht zum Tragen. Nun ließe sich einwenden, eine solche Auffassung von Wissenschaftsvertretern eines ohnehin überkommenen Regimes erscheine heute obsolet. Doch auch in anderen Staaten lassen sich nach wie vor ähnliche Begründungen ausfindig machen. So besteht in China noch immer die Vorstellung, dass eine korrekte politische Orientierung ausreiche, sich rechtskonform zu verhalten. Angesichts der dort überfüllten Haftanstalten (vgl. Wang, 2014) wirken politisch motivierte Slogans einer harmonischen Gesellschaft (vgl. Mühlhand, 2019) jedoch ebenso wenig glaubhaft wie die nach heutigem Wissen frisierten Kriminalitätsstatistiken der früheren DDR (vgl. Sensch, 2008).

Wohlverhalten staatlich zu verordnen bleibt eine schlichte Utopie – zumindest gibt es dazu weltweit selbst dann keine überzeugende Erfolgsmeldung, wenn Staaten zu drakonischen Maßnahmen der Überwachung und Bestrafung tendieren. Warum sich Gesetzestreue mit zunehmendem Alter zementieren soll, bleibt darüber hinaus erklärungsbedürftig. Dann wäre es, nur um bei dem Bild der oben bemühten Kräftespeicherung zu bleiben, wohl weniger eine abnehmende kriminelle Energie, Vorschriften zu brechen, als eine erlahmende Stärke, sich Regelvorgaben zu widersetzen.

Alter und Devianz

Подняться наверх