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Gebot der Differenzierung

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In diesem Sammelband soll nicht der Eindruck vermittelt werden, dass von älteren Personen eine gravierende oder neuartige Gefahr ausgeht. Eine Stigmatisierung oder Verunglimpfung dieser Altersgruppe ist ausdrücklich nicht intendiert. Zudem soll nicht durch unbelegte Vermutungen oder durch reißerische Überzeichnungen ein falsches Bild entstehen. Vielmehr gilt es, einen Beitrag für eine differenzierte und ausgewogene Sicht auf das Alter zu liefern und damit verbundene Implikationen abzuleiten. Dafür braucht es auch einen Blick in Nischen und Schattenbereiche des Alters. Eine verantwortungsvolle Gesellschaft ist auf eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung in genau dieser Hinsicht angewiesen, um vermeidbare und schädliche Formen der Devianz im Lebenslauf möglichst vereiteln oder doch zumindest auffangen zu können. Hierbei sind aus kriminologischer Sicht sowohl idiografische Methoden im Sinne von Einzelfallbetrachtungen anzuwenden wie auch nomothetische Erklärungen für übergreifende Verhaltensmuster (Schneider, 2012, S. 1165) und gerontologische Erkenntnisse über den Altersverlauf (Pohlmann, 2011) systematisch einzubeziehen. Dazu ist eine ergebnisoffene und vorurteilsfreie Herangehensweise an einen Gegenstandsbereich unerlässlich. Dies ist gerade bezogen auf die Kriminalität älterer Menschen bislang noch nicht ausreichend geschehen.

Einer Differenzierung bedarf es aber nicht nur im Hinblick auf die Zielgruppe, sondern auch auf die Kriminalitätsforschung selbst. Welche wissenschaftliche Erklärung ist für die Kriminalität älterer Menschen heranzuzuziehen? Als Pionier auf der Suche nach einer umfassenden Begründung gilt Émile Durhkeim, der bereits Ende des 19. Jahrhunderts seine Anomietheorie aufgestellt hat, um die Ursachen von Kriminalität zu bestimmen (Durhkeim, 1984). Nach seinem Dafürhalten ist Kriminalität Ausdruck eines Schwindens von Struktur- und Ordnungsprinzipien, die er in der Industrialisierung und Landflucht begründet sah ( Kap. 5). Dies könnte auch nach Beendigung der Familienarbeit oder dem Ausscheiden aus dem Berufsleben im Alter relevant sein. Wie würde sich nach diesem Ansatz die aktuelle Krisensituation durch die Covid-19-Pandemie und die im Hintergrund verlaufenden, rasanten gesellschaftlichen Transformationen bedingt durch demografische, epidemiologische, technologische, globale, kulturelle, ökologische und ökonomische Wandlungsprozesse auf regelkonformes Verhalten auswirken und welche Unterschiede würde dies in den jeweiligen Altersklassen der Bevölkerung mit sich bringen? Nun ist man sich einig, dass Durkheims Theorie zwar einen Verlust ethischer Orientierungen erklären kann, nicht aber die Vielfalt von Verbrechen und Vergehen in einer modernen Welt (vgl. Vito, Maahs & Holmes, 2007). Es braucht also zum einen robuste Daten, die jegliche Formen der Kriminalität repräsentativ wiedergeben (vgl. Bundeskriminalamt, 2020), und zum anderen passende Erklärungsmodelle, die auch die Motive und Auslöser solcher Normabweichung heranzuziehen in der Lage sind. Dieses Ziel liegt allerdings noch in deutlicher Ferne. Umso wichtiger sind die Anstrengungen, vorliegende Befunde zu verstehen und neues Datenmaterial zu sammeln und zu bündeln.

Eine feinmaschige Herangehensweise benötigen wir darüber hinaus auch im Hinblick auf den Umgang mit der Kriminalität Älterer. Dies gilt für Strafverfahren ebenso wie für Haftbedingungen (vgl. Kenkmann et al., 2020) und für angemessene Schritte einer gelingenden Resozialisierung. Hierzu finden sich zwar erste Ansätze – von einer Gesamtstrategie kann aber keine Rede sein.

Vor diesem Hintergrund zielt der vorliegende Sammelband darauf ab, Grundlagen für fundierte Aussagen zu erarbeiten. Zugleich sollen Fehler und Defizite aufgedeckt und kritische Aufgaben identifiziert werden. Dafür sind neue Ideen ebenso unerlässlich wie die Würdigung früher Ansätze. Daher sei dieser Sammelband einem der berühmtesten Universalgelehrten der Menschheitsgeschichte zugeeignet: Leonardo da Vinci, dem Visionär und Mitbegründer einer modernen Wissenschaft. Einer seiner Leitsprüche lautete:

»Wer forscht, indem er sich allein auf Autoritäten beruft, verwendet nicht seinen Geist, sondern nur sein Gedächtnis« (Codex Leicester, o. S.)

Neben dem hier zum Ausdruck kommenden Gebot für Sachverstand und der Forderung nach Offenheit ist für das Thema der Devianz im Alter vor allem eine gesteigerte Einsatzbereitschaft, Innovationsbereitschaft und viel Überzeugungsarbeit von Nöten. Eine Widmung für Leonardo da Vinci ist an dieser Stelle wohl zudem deshalb passend, weil er selbst im Zuge seiner vermutlichen Homosexualität im Jahre 1476 angeklagt wurde und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch einige Tag in Haft verbracht hat. Durch den schützenden Einfluss der damals herrschenden Medici blieb ihm auch später eine Verfolgung im Alter glücklicher Weise erspart (vgl. Bramly, 1995). Ferner zeigt das Beispiel da Vincis, dass eine Einschätzung von Kriminalität auch stets Ausdruck der zeitgenössischen Moral und kulturellen Wertvorstellungen ist. Fataler Weise gelten auch noch heute, Jahrhunderte später, in einigen homophoben Ländern die vermeintlich falsche sexuelle Ausrichtung als Straftatbestand. Gesellschaftliche Deutungen von Recht und Unrecht verdienen fraglos eine eigene Publikation. Sie sind daher nicht primärer Bestandteil dieses Sammelbands. Allerdings werden die herrschenden Vorstellungen über die Alterskriminalität sehr wohl eingehender zu betrachten sein. Dies soll mit dazu beitragen, Straftaten älterer Menschen in all ihren Facetten zu begreifen und ihnen mit unterschiedlichen Maßnahmen altersgerecht zu begegnen.

Alter und Devianz

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