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VALÉRIE ROSOUX/AKIYOSHI NISHIYAMA

Einführung: Die Vergangenheit lösen

„Die Toten sind die Unsichtbaren. Sie sind nicht die Abwesenden.“ Dieser Satz von Victor Hugo zeugt eindringlich von der Anwesenheit der Vergangenheit in unserem Leben. Diese Anwesenheit ist vielgestaltig. Die Vergangenheit ist – je nach den Orten und den Gesprächspartnern – entweder richtungsweisend für die Zukunft oder eine Last. Überall ist sie weiterhin von Bedeutung. Der rote Faden dieses ersten Teils zeichnet eine Vielschichtigkeit nach, bei der die unsichtbarsten Schichten keineswegs die unwichtigsten sind. Zwischen die Schichten, die uns mit der Antike verbinden, schieben sich Zwischenräume, in denen das Schweigen herrscht: Die ganze Kehrseite unserer Leben ist in dieser Vielschichtigkeit anwesend, von den unterdrückten Erinnerungen über die Gedächtnislücken bis hin zum geleugneten Leid.

Der erste Teil dieser Publikation nimmt die Form einer Spurensuche an: Manche Wege sind bereits ausgesteckt, andere hingegen sind unerwartet. Unterwegs wird der Leser einer Vielzahl von Gesichtern und Stimmen begegnen.

Es geht darum, mit dem Gewicht der Vergangenheit umgehen zu lernen und sich mit ihren Verwerfungen zu konfrontieren. Die Autoren lassen sich auf eine Herausforderung ein: Sie wollen die Emotionen über lange Zeitstrecken hinweg messen – und das bedingt, dass sie nicht nur die auslösenden Momente ausmachen müssen, sondern auch die Spannungen und die Verschiebungen, die die Fäden unserer Geschichte ineinander verflechten. Alle Überlegungen berühren mehr oder weniger die Frage der Überlieferung. Von Generation zu Generation werden nicht nur die Erzählungen weitergegeben, sondern auch die Emotionen: die Dankbarkeit, wenn die Vergangenheit ehrenhaft ist, das Ressentiment, wenn sie demütigt, die Angst, wenn sie unterdrückt, die Hoffnung, wenn sie befreit, die Nostalgie, wenn sie fehlt, die Schande, wenn sie anklagt, die Zärtlichkeit, wenn sie besänftigt, den Hass, wenn sie verstümmelt, den Kummer, wenn sie spaltet, das Schuldgefühl, wenn sie wie Blei lastet, und die Gelassenheit, wenn sie Respekt bezeugt.

Die Emotionen schließen einander keineswegs aus, sondern verbinden sich. Nostalgie und Wut werden kombiniert. Ressentiment, Hass und Schuldgefühl greifen dort ineinander, wo die Konflikte andauern. Angst und Verantwortung konfrontieren einander, um die Zukunft zu erfinden. Die europäische Geschichte ist in diesen Bewegungen, die jeweils ihr eigenes Tempo besitzen, verankert. Inwiefern prägt uns diese Gedächtnisbahn weiterhin? Um diese Frage zu beantworten, gliedern sich die Einträge des ersten Teils in vier große Themenkreise: die Verbrennungen, die Erzählungen, die Wiegen und die Nahkämpfe.

Der erste Themenkreis verweist auf das brennende Gedächtnis Europas. Wie kann man auf einem Kontinent, der mit großer Mühe die Wunden seiner Kriege zu heilen sucht, das Gewicht der Vergangenheit leugnen. Der tschechische Philosoph Jan Patočka, einer der Sprecher der Charta 77, der bis zum Ende seines Lebens gegen die Angriffe auf die menschliche Würde Widerstand leistete, setzt Europa mit einer „Gemeinschaft der Erschütterten“ gleich. Wenn man die Erschütterung, die den Kontinent verstümmelt hat, ernst nimmt, dann muss man die Spuren und die Abdrücke ausmachen, die weiterhin unsere Vorstellungen und unsere Verhaltensweisen beeinflussen. Die Deportationen, die Diktaturen und die Massaker, die Europa verheert haben, beschränken sich nicht alle auf das 20. Jahrhundert. Die tragischen Stunden der Antike, des Mittelalters, der Neuzeit und der Zeitgeschichte hallen wie das Echo ein und desselben Dramas nach. Die Seiten, die ihnen in dieser Publikation gewidmet sind, zeigen, dass manche Wunden verheilt, andere hingegen nach wie vor offen sind.

Der zweite Themenkreis ist der der großen Erzählungen. Um den Zerreißproben standzuhalten und den Horizont zu erweitern, sind Stimmen laut geworden, um Diskurse mit universeller Tragweite vorzuschlagen. Demokratie, Vernunft, Humanismus oder Aufklärung, lauter Prinzipien, um Denken und Tun zu verankern. Sozialstaat, zweites Geschlecht oder Homosexualität, lauter Kämpfe, um nach und nach die Grundrechte jedes Individuums anzuerkennen. Jede dieser hier erwähnten großen Erzählungen ist – ungeachtet ihrer scheinbaren Einheit – die Frucht intensiver Verhandlungen, sei es auf nationaler Ebene (darum geht es bei der Konstituierung von Identität), auf internationaler Ebene (die Kämpfe kennen keine Grenzen), auf lokaler Ebene (die Erzählungen sind immer irgendwo verwurzelt) und sogar auf individueller Ebene (die vielen Verhandlungen im eigenen Selbst, bevor man endgültige Taten setzt).

Der dritte Themenkreis vertieft die Ursprünge. In Europa gibt es mehrere Wiegen: Jerusalem, Athen und Rom, Homer und Averroës, das römische Recht und den Islam. Keine Facette des Kontinents ist identisch und würde ohne die meistens heftigen Reibungen mit dem anderen existieren, von der antiken Nymphe bis hin zu den Monotheismen. Dieser andere, der bald als Barbar, bald als Wilder beschrieben wird, aber immer als derjenige, der nicht wie wir ist, wechselt je nach den Gestaden. Die Angst vor der Dekadenz, der Bau von Brücken und die Errichtung von Mauern, jeder Schlüsselmoment ist ein neuer Würfelwurf.

Der letzte Themenkreis ist der der Nahkämpfe, die unsere Vorstellungswelten bevölkern. Von der Konterrevolution bis zum Klassenkampf hat sich Europa rings um Konfrontationen für die Emanzipation oder gegen die Segregation gespalten und strukturiert. Die Zeit der Konfrontationen ist keineswegs vorüber, sie entwickelt sich. Die Seiten, die vor uns liegen, laden dazu ein, eine höhere Warte einzunehmen, die Neugier zu steigern und auf alle Fächer zurückzugreifen, um die verschiedenen und mitunter antagonistischen Vergangenheiten miteinander zu verbinden. Um dies zu schaffen, berufen wir uns auf Johann Sebastian Bach, den Meister des Kontrapunkts. Es setzt sich nicht mehr eine einzige Stimme durch, die die andere auf die Rolle der Begleitung oder sogar auf die des Metronoms beschränkt: stattdessen mehrere ineinandergreifende Stimmen, ein unaufhörlicher Dialog, Verhandlungen ohne das Beisein der Mächtigen.

Wie kann man „die Vergangenheit lösen“ und „die Zukunft entriegeln“? Wie kann man Helle erzeugen mit dem Dunkeln? Zu den Schauplätzen des Verbrechens zurückkehren, um Ehre zu erweisen, und, wie Marguerite Yourcenar es wünschte, „die Augen offen halten“.

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