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Nach dem Krieg: Pax europeana
Оглавление„Polemos [der Konflikt, der Krieg] ist der Vater aller Dinge“, sagte Heraklit. In der europäischen Geschichte ist der Krieg ganz offenkundig eine Matrize: eine Matrize der Nationen (der Hundertjährige Krieg für Frankreich und England), die Matrize eines europäischen Gleichgewichts (der Dreißigjährige Krieg, aus dem das westfälische System hervorging, oder die mit den Wiener Verträgen abgeschlossenen Napoleonischen Kriege, die das Konzert der Nationen ermöglichten) und schließlich die Matrize des europäischen Aufbaus, der aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs und der Ohnmacht eines Europas in Ruinen hervorgegangen ist, das unter der Vormundschaft der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion stand. Die Europäer erinnern sich gern an diese Bekehrung zum Frieden, die sich in die ehrwürdige Tradition einer Suche nach einem ewigen Frieden einschreibt, die parallel zur Tradition der Kriege verläuft und von Erasmus von Rotterdam über die berühmten, 1713 vom Abbé de Saint-Pierre und 1795 von Immanuel Kant vorgeschlagenen „ewigen Friedensprojekte“ bis zu den „Vätern Europas“ reicht. Ist das die übliche Selbstzufriedenheit eines gewissen europäistischen Diskurses, der, weil zu oft heruntergeleiert, an Kraft für die gesegneten Generationen der nach 1945 Geborenen eingebüßt hätte, die nur die Lebensqualität in einem vereinten Europa gekannt haben? Mag sein. Die Entrüstung und die Ratlosigkeit der heutigen Europäer angesichts des Krieges, der bei ihnen wieder zu einer Realität geworden ist (1991 bereits mit den Kriegen in Jugoslawien, heute in der Ukraine), sind deshalb umso spürbarer, da sie doch geglaubt hatten, ihn für immer verbannt zu haben, was sie nicht daran hinderte, außerhalb von Europa militärisch einzugreifen, und zwar seit den Kolonialkriegen der Nachkriegszeit bis hin zu den zeitgenössischen Interventionen in Afrika oder Asien.
Die kriegerische Rhetorik, die noch vor 16 Jahren verurteilt wurde, als sie von George W. Bush für den Beginn seiner Offensive im Irak verwendet wurde, hat im Kontext des zeitgenössischen islamistischen Terrorismus wieder Einzug gehalten und dabei deutliche Unterschiede ins Licht gerückt. Präsident François Hollande verwendet sie in der Reaktion auf die Attentate in Paris vom 13. November 2015, während Bundeskanzlerin Angela Merkel nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin im Dezember 2016 deutlich von diesen martialischen Tönen Abstand nimmt. Nach mehreren Jahrzehnten der Gewöhnung an den Frieden entdeckt Europa von Neuem die Aktualität des Konzepts von Carl von Clausewitz, für den der Krieg nichts anderes als „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist. Oder das von Carl Schmitt, für den jegliche Politik auf der Dichotomie zwischen Freund und Feind basiert. Ohne direkt die Frage nach dem Preis zu stellen, den es für die Konstruktion eines von der Unausweichlichkeit des Kriegs befreiten politischen und kulturellen Gebildes zu entrichten gilt, werden sich die Europäer der Tatsache bewusst, dass es ihnen vielleicht schwerfallen wird, noch länger „über dem Schlachtengetümmel zu bleiben“, um hier den frommen Wunsch eines Romain Rolland aus dem Jahr 1915 wieder aufzugreifen.