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60 Millionen Tote

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Der Kontrast ist umso stärker, zumal die Europäer von heute den Eindruck haben, es gäbe eine Zäsur zwischen einem Davor und einem Danach: zwischen der ersten Hälfte des Jahrhunderts – „des schrecklichsten in der westlichen Geschichte“ (Isaiah Berlin) – und der zweiten, von der Pazifizierung geprägten Hälfte. Denn die kollektiven Gedächtnisse sind nach wie vor von der Erfahrung der zwei Weltkriege schwer belastet. Der Erste wird in manchen Ländern (Frankreich, Großbritannien) als der Große Krieg angesehen und die Erinnerung an ihn ist anlässlich des Gedenkjahres 2014 auf europäischer Ebene massiv wieder hervorgetreten, aber dennoch bildet der Zweite mit seinen weltweit geschätzten 60 Millionen Toten und davon zwei Drittel in Europa die hauptsächliche Zäsur. Die These eines Jahres null und eines Neuanfangs ohne jeglichen Kompromiss mit der Vergangenheit ist aufgrund der mehr oder weniger sichtbaren oder unterirdischen Kontinuitäten zwischen der Zwischenkriegszeit, den Kriegsjahren und der Nachkriegszeit so ziemlich überall in Europa revidiert worden. Doch das Jahr 1945 bleibt der Fluchtpunkt aller großen späteren Erzählungen, seien sie nun national oder auf ganz Europa bezogen. Mehrere Generationen hindurch und mit einer Offenkundigkeit, die nun mit dem Tod der letzten Zeugen nachlassen kann, hat alles die europäischen Gesellschaften zu dieser „letzten Katastrophe“ (Henry Rousso) zurückgeführt, die gleichzeitig destruktiv war und zu einem gemeinsamen Neubeginn führte.

Der Zweite Weltkrieg war der erste Konflikt seit dem Dreißigjährigen Krieg, der aufgrund von Massenmassakern, Genoziden, Bombenangriffen, Gewalt gegen die besetzten Bevölkerungen und erzwungenen Migrationen und Auswanderungen mehr zivile als militärische Opfer forderte. Neben den traditionellen militärischen Gedächtnissen (Schlachtenerzählungen, Militaria) sind die traumatischen Gedächtnisse Legion und betreffen zum ersten Mal das Hinterland genauso wie die Front, wodurch die Grenze zwischen diesen beiden Kategorien fließend wird. Wie bei jedem Krieg werden bestimmte Schlachten zu föderierenden Symbolen: Die Schlacht um England, die um Stalingrad, die Landung der Alliierten in der Normandie oder die Eroberung von Berlin im Mai 1945 sind eigenständige Erinnerungsorte in Europa und auf der ganzen Welt. Sie nähren die kulturellen Vorstellungswelten seit Jahrzehnten ununterbrochen. Doch das Schicksal der Zivilbevölkerung nimmt in den Kriegserinnerungen einen immer größeren Platz ein.

Der zunehmende zeitliche Abstand und mehr noch die zentrale Stellung der Zivilisten sowie der ideologische Charakter des Konflikts tragen seit 1945 im langsamen Ablauf der Jahre zu einer tiefreichenden Umwandlung in der Verteilung der Rollen bei. Die klassische Aufteilung in Siegerländer und Verliererländer wird überdeckt und sogar ersetzt von einer moralischen Aufteilung zwischen Widerstandskämpfern und Kollaborateuren, Opfern und Tätern. Diese nachhaltig wirkende binäre Lektüre trifft zwar auf komplexe Realitäten, insbesondere in dem zwischen Adolf Hitler und Josef Stalin gefangenen Mitteleuropa, erlaubt aber in fine auch europäische Bündnisänderungen und Übereinstimmungen. Das gilt etwa für Deutschland, das sich, wie dies Bundespräsident Richard von Weizsäcker ausgesprochen hat, nach und nach eher als vom Nationalsozialismus befreit als von den Alliierten besiegt betrachtete.

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