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Der Totenkult

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Der Namenkult ist aus der Demokratisierung des Todes während des Kriegs hervorgegangen. Während in Großbritannien zwischen 1914 und 1916 die Heere nach dem Prinzip der Freiwilligkeit aufgestellt wurden, war auf dem Kontinent vom Beginn der Feindseligkeiten an die Einberufung zum Wehrdienst die Regel. Da 1914 die Anzahl der Gefallenen unermesslich hoch war und die militärischen Verluste ab Weihnachten 1914 eine Million überschritten hatten, nahm man davon Abstand, bei den Gedenkfeiern die Opfer zu privilegieren, die dem Offizierskorps angehört hatten. Und da so viele sterbliche Überreste ganz einfach verschwunden waren, erschien es sinnvoll, das Einzige, was von diesen Soldaten übrig blieb, aufzubewahren und zu ehren, nämlich ihre Namen. Als die Imperial War Graves Commission beschloss, einen rechteckigen Steinaltar auf seinen Militärfriedhöfen aufzustellen, wählte der englische Dichter Rudyard Kipling, der seinen Sohn im Krieg verloren hatte, folgenden Satz aus dem Buch Kohelet: „Und ihr Name ist lebendig für Generationen.“ Auf diesen Friedhöfen wurden die Holzkreuze durch Stelen aus Steinen aus Devonshire ersetzt, auf denen der Name des Mannes eingraviert wurde, sein Regiment, ein Kreuz oder Davidstern und ein von seinen Eltern ausgewählter Text. Auf den Kriegerdenkmälern in Großbritannien stehen die Namen gewöhnlich in alphabetischer Reihenfolge oder nach dem Todesdatum und nicht aufgrund des Ranges der Opfer in der Armee oder in der Marine. Jeder Name hatte den gleichen Wert.

Die Kenotaphe sind leere Gräber. In Großbritannien gefiel dieses griechische Wort denjenigen, die allen Toten des Empires Ehre erweisen wollten – Hindus, Muslimen, Juden, Atheisten und Christen. Man errichtete sie an mehreren Orten, aber am bekanntesten ist vermutlich derjenige in Whitehall, der für den Siegesaufmarsch am 19. Juli 1919 in London konzipiert worden war. Das von Sir Edwin Lutyens entworfene Kenotaph wurde in sehr kurzer Zeit aus Pappmaschee gebaut. Es handelte sich um eine temporäre Konstruktion, doch angesichts der Begeisterung der britischen Bevölkerung – mehr als zwei Millionen Menschen zogen an diesem Tag und an den folgenden an ihm vorüber – beauftragte die Regierung Lutyens mit dem Bau einer neuen Version aus Stein, die heute noch in Whitehall steht.

Die Gräber der unbekannten Soldaten, die in zahlreichen Hauptstädten im Jahrzehnt nach dem Krieg geschaffen wurden, zeugen von einem ähnlichen Willen. Das Kenotaph, ein leeres Grab, konnte das Grab jedes x-beliebigen der zehn Millionen Männer sein, die während des Krieges umgekommen sind. Das Grab des unbekannten Soldaten (eine Ehrung für die Seeleute genauso wie für die in dem Konflikt getöteten Infanteristen) enthält die sterblichen Überreste eines Mannes, der der Ehemann oder der Sohn einer x-beliebigen Person unter den Millionen trauernder Witwen und Verwandten sein könnte. Den unbekannten Soldaten zu ehren, hieß, das große Heer derjenigen zu ehren, die im Krieg einen Angehörigen verloren hatten.

Das Denkmal von Edwin Lutyens für die französischen und britischen Soldaten, die 1916 auf den Schlachtfeldern der Somme gestorben waren, wurde 1931 vollendet und eingeweiht. Es ist von bemerkenswerter Schlichtheit. Lutyens Talent hat uns eine Botschaft hinterlassen, die ein visuelles Wunder darstellt. Wenn man an das Kenotaph herantritt, erblickt man ab einer bestimmten Entfernung auf den weißen Platten des Sockels die 73.000 Namen der Männer, denen das Denkmal huldigt und die keine bekannte Grabstätte besitzen. Dieser Augenblick des Erkennens erschüttert die Besucher, die plötzlich alle Namen unterscheiden, diese Namen, die alles sind, was von den im Verlauf dieser einen Schlacht getöteten Männer übrig bleibt. Sie sind in alphabetischer Reihenfolge – jeder in seinem Regiment – eingraviert, nicht, um ihren Rang anzuzeigen, sondern, um den Besuchern und den Pilgern zu erlauben, die Namen ihrer Familie aufzufinden. Auch heute noch suchen Millionen Menschen diesen Ort auf.

Die Vermissten von 1914 bis 1918 waren die ersten einer langen Reihe von Menschen, die vom Krieg und der Gewalt des letzten Jahrhunderts, sei es auf nationaler oder internationaler Ebene, verschlungen worden sind. Nach dem Großen Krieg begann die Suche der Überlebenden des Spanischen Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs nach allen Angehörigen, die vermisst wurden, aber das Blutbad womöglich überlebt hatten. Die Schoah hat zu den Vermissten des Kriegs Millionen Opfer hinzugefügt. Das Denkmal in Yad Vashem in Jerusalem enthält einen immensen, zum Himmel zeigenden Zylinder, der die Namen und die Gesichter der während der Schoah ermordeten Juden enthält. Auch hier ist der Kult der Namen aus der Asche der Vernichtung hervorgegangen. Die für die Toten und Vermissten von 1914 bis 1918 konzipierten Gedenkpraktiken haben vergleichbare Gesten zur Ehrung derjenigen angeregt, die verschwunden waren oder die man ab den Siebzigerjahren in ihrem eigenen Land „zum Verschwinden gebracht“ hatte, denn so lautete die neue Formulierung der Staatskriminalität.

Alle, die am 11. September 2001 Zeugen des Anschlags auf das World Trade Center gewesen sind, haben einen weiteren Ausbruch der Gewalt von solchem Ausmaß miterlebt, dass auch hier die Körper ganz einfach verschwunden sind. Wie bei den Toten von 1914 bis 1918 hat die Hälfte derjenigen, die am 11. September in Manhattan vermisst wurden, keine Spuren hinterlassen. Und wie in London und in Berlin 1918, wie in den Lagern der „displaced persons“ 1946 und wie auch in Buenos Aires 1985 haben manche weiterhin gehofft, haben sich weiterhin geweigert, an die Wahrscheinlichkeit zu glauben, und haben sich weiterhin Fragen gestellt. Unmittelbar nach dem Anschlag haben sie Botschaften und Fotos in ganz Manhattan angeschlagen: Haben Sie meinen Sohn gesehen? Meinen Gatten? Meine Tochter? Die Gesichter dieser Unschuldigen verlangten nach unserer Aufmerksamkeit, lieferten aber nur selten Antworten.

Diese Bilder von Vermissten schaffen eine Brücke zwischen dem 20. und dem 21. Jahrhundert. 1914 hatte die Staatsgewalt eine nie da gewesene Geschwindigkeit erreicht und uns nicht nur mit Verstümmelung und Tod bedroht, sondern mit dem Verschwinden, dem Tod an einem unbekannten, unzugänglichen und undefinierten Ort. Ab 1918 sind Millionen Menschen in dieses Niemandsland eingetreten und nie wieder zurückgekehrt. Sie sind die Nachfahren der Vermissten der Schlachtfelder des Großen Kriegs.

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