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Das Heer der Vermissten

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Von den zehn Millionen in Uniform getöteter Männer währen des Großen Krieges hat die Hälfte keine bekannte Grabstätte. 1914 ist der Krieg zu mehr als einer Tötungsmaschine geworden, und zwar vor allem aufgrund der exponentiellen Entwicklung der Artillerie und der unwiderstehlichen Intensität der Feuerkraft, die von der industriellen Revolution auf die Welt losgelassen worden war. Zwei Drittel der während des Konflikts getöteten Männer wurden aus der Entfernung getötet, von Waffen, die sie nie erblickten.

Mächtige Kanonen bombardierten die Städte von Weitem: Paris wurde am Karfreitag des Jahres 1918 getroffen und 88 Gläubige starben während der Messe in der Kirche Saint-Gervais. Doch auf den Schlachtfeldern und hauptsächlich an der Westfront hat die Artillerie das monströseste Gemetzel angerichtet. Der während des Krieges sechsmal verwundete Ernst Jünger verglich die Erfahrung eines Artilleriebeschusses mit dem Schauspiel eines riesigen Hammers, der mit einem fürchterlichen Krachen herabfällt und den eigenen Kopf nur um Zentimeter verfehlt. Der Mut bestand darin, sich nicht zu rühren. 1918 war eine von vier an der Westfront abgefeuerten Granaten eine Gasgranate, was das Entsetzen und das Leid noch zusätzlich verstärkte.

Genauso verheerend waren die zwar weniger häufig eingesetzten unterirdischen Tunnels, die mehrere Kilometer Niemandsland durchliefen und Explosionen unter den feindlichen Stellungen ermöglichten, oft am Anfang von offensiven Operationen. Die Artillerie begnügte sich nicht mit dem Töten. Sie grub buchstäblich das Gelände um, weshalb nur wenige notdürftig an der Front ausgehobene Gräber unversehrt blieben. Die Toten von 1914 sind also während der gesamten Dauer des Kriegs von der Artillerie beschossen und die ersten Friedhöfe sind in Ruinen gelegt worden.

Die Schlacht um Verdun 1916 zeigte ein anderes Antlitz der furchtbaren destruktiven Macht der modernen Artillerie. Als sie zu Ende ging, war es unmöglich, die Überreste der deutschen und der französischen Soldaten zu unterscheiden, die sich zehn Monate lang – die längste kontinuierliche Schlacht der Geschichte – ohne Unterlass dasselbe Gelände streitig gemacht hatten. 1927 widmete Monsignore Charles Ginisty, der Bischof von Verdun, diesen Überresten ein Beinhaus, das heute noch existiert.

Diese Verwandlung von Ackerland in eine Mondlandschaft glich eher dem Staub, der eher zum Schlamm wird als wieder zu Staub, um eine biblische Sprache aufzugreifen, die so vielen Soldaten vertraut war. Dieser Typus von Krieg machte die Erkennung der sterblichen Überreste schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Was die Bombenangriffe den urbanen Bevölkerungen währen des Zweiten Weltkriegs zufügten, das fügte die Artillerie den Soldaten von 1914 bis 1918 zu.

Aus diesem Grund wurde das Heer der Toten rasch zu einem Heer von Vermissten. Das war übrigens auch die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „vermisst“: wer nirgends anwesend ist. Aufgrund der Störung des Nachrichtenwesens und der totalen, vom Krieg ausgelösten Verwirrung hatte die Ankündigung, dass ein Soldat vermisst wurde, potenziell mehrere Bedeutungen. Er konnte gefangen genommen, verwundet worden und außerstande sein, seinen Namen zu nennen, oder er konnte wahnsinnig geworden sein. Er konnte auch getötet worden sein. Für das Heer bedeutet „vermisst“, dass er beim Morgenappell nicht angetreten war und deshalb nicht mehr zur Stärke seines Regiments gezählt werden konnte. Mitglieder des Roten Kreuzes reisten durch die Welt, um etwaige Informationen über das Schicksal der Vermissten zu sammeln. Man entdeckte manche von ihnen in Spitälern oder Kriegsgefangenenlagern, doch die meisten hatten sich buchstäblich in Luft aufgelöst. Diejenigen, denen der Tod eines Verwandten bestätigt wurde, hatten paradoxerweise Glück. Man kann sich die Qual der Familien vorstellen, die nicht die geringste Ahnung hatten, was denjenigen, die ihnen lieb und teuer waren, ab 1914 zugestoßen war. Millionen Menschen haben das durchgemacht. Während des Kriegs und manchmal lange danach waren sie dazu verurteilt, mit der Leere, dem Unbekannten, einer Abwesenheit ohne Antwort fertigzuwerden. Es ist begreiflich, dass in dieser Periode spiritistische Praktiken verbreitet waren.

Diese Revolution des industriellen Kriegs hat drei Innovationen auf dem Gebiet der Gedenkkultur gebracht. Das Auftreten eines Namenkults rund um die im Krieg Gefallenen und die in allen Krieg führenden Ländern große Anzahl von Kriegerdenkmälern, auf denen diese Namen standen, waren die erste Innovation. Die zweite war die Errichtung von Kenotaphen, von leeren Gräbern, die symbolisch die Millionen Männer verkörpern sollten, die nie zurückgekehrt sind, oder von Denkmälern zur Erinnerung an die Vermissten gewisser Schlachten wie beispielsweise derjenigen an der Somme und der um Ypern. Diese Schauplätze waren von den Namen der Toten oder der vermeintlich Getöteten dominiert. Die dritte Innovation war die Schaffung von Gräbern, die die sterblichen Überreste eines „unbekannten“ Soldaten der verschiedenen Krieg führenden Nationen aufnehmen sollten – und damit die Schaffung eines einzigen Grabes, das alle diejenigen repräsentieren sollte, die über die Welt verstreut waren.

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