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Der Kontinent des Kriegs

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Die These vom „europäischen Bürgerkrieg“ wurzelt zweifelsohne in diesen charakteristischen Merkmalen des Zweiten Weltkriegs. Der „zweite Dreißigjährige Krieg“, ein weiterer, von Charles de Gaulle geschätzter Vergleich, um die Jahre 1914–1945 zu benennen, ruft in Erinnerung, dass die Lektüre dieser Kriege vor dem Hintergrund einer viel weiter zurückreichenden konfliktreichen Geschichte erfolgt. Europa, heute ein Kontinent des Friedens in einer zum Teil mythisch verklärten zeitgenössischen Sicht, erscheint im Lauf seiner Geschichte viel mehr als ein Kontinent des Kriegs. Die komplexe Karte der Konflikte, die für die europäische Geschichte konstitutiv sind, hat keineswegs zu einer unlesbaren Marketerie geführt, sondern durch Nachahmungseffekte dazu beigetragen, die konfliktreichen europäischen Gemeinschaften dank der Verbreitung identischer Gedenkpraktiken zu vereinen.

Das Motiv des Krieges, das seit Homer in der europäischen Literatur allgegenwärtig ist, ist vielleicht das beste Beispiel dafür. Auf dem Gebiet des Wortes entwickelt sich eine gemeinsame Grammatik, die die großen Autoren und die großen Werke von einer Sprache und einer Kultur in eine andere im vollen Sinn des Wortes übersetzbar macht: Die germanische Sage der Nibelungen, die die Vernichtung des Besitzes der Burgunder am Rhein am Ausgang der Antike schildert, das Rolandslied, das den Kreuzzug Karls des Großen gegen die Sarazenen in ein Epos verwandelt, die historischen Dramen Shakespeares, die den Hundertjährigen Krieg und den Rosenkrieg behandeln, Der abenteuerliche Simplicissimus Teutsch von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Kriegs, Pan Tadeusz von Adam Mickiewicz sowie Krieg und Frieden von Lew Tolstoi über die Napoleonischen Kriege, Im Westen nichts Neues von Erich Maria Remarque über den Ersten Weltkrieg, Die Brücke über die Drina von Ivo Andrić über die Konflikte auf dem Balkan oder auch Leben und Schicksal von Wassili Grossman und Die Wohlgesinnten von Jonathan Littell über den Zweiten Weltkrieg sind repräsentative Beispiele dafür. Die visuellen Künste eignen sich zu ähnlichen Zirkulierungen, von dem Wandteppich in Bayeux über Les misères et les malheurs de la guerre von Jacques Callot und Die Schrecken des Krieges von Francisco de Goya, die Primo Levi für den Einband der Erstausgabe von Ist das ein Mensch? auswählte, bis hin zu Guernica von Pablo Picasso.

Diese Vergangenheit kriegerischer Konflikte hat sich zunächst an Orten verankert, wobei manche Schlachtfelder zweimal, dreimal oder gar viermal gedient haben. Das gilt für Fleurus im belgischen Hennegau (1622, 1690, 1794, 1815) oder Lützen in Sachsen (1632 und 1813), was die Propaganda mancher Kriegführenden selbstverständlich hervorgehoben hat, um die Revanche für eine vergangene Demütigung zu betonen. Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg gibt seinem Sieg über die Russen im Jahr 1914 den Namen Tannenberg, um die Niederlage des Deutschritterordens im Jahr 1410 gegen das Heer der Polen und Litauer auszulöschen. Der polnische Plakatmaler Tadeusz Trepkowski zieht 1945 sofort eine frappierende Parallele zwischen den drei Daten 1410, 1914 und 1945 und sieht den Untergang des „Dritten Reichs“ in einer Kontinuität mit dem jahrhundertelangen Kampf der Polen und Slawen gegen den deutschen Aggressor. Eine ganze klassische heroische Kultur, die sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts aus den Heldentaten der Nation oder aus Topoi der Antike speist, versteht sich darauf, derartige Parallelen zu ziehen. Die Verteidigung des Leonidas vor den Persern bei den Thermopylen liefert einen Archetyp, den man selbst in heutigen Actionfilmen findet.

Wie immer auch dieser oder jener Krieg enden mochte, das Resultat ist jedenfalls eine große Homogenität, die sich jedem Reisenden, der den Kontinent durchquert, aufdrängt: keine europäische Stadt ohne Triumphbogen, ohne Siegessäule, ohne Prunkstraßen, die nach stiftenden Siegen oder Schlachten benannt sind, wobei der Leipziger Platz in Berlin, der der Völkerschlacht von 1813 gedenkt, ein Echo im Austerlitz-Bahnhof in Paris findet oder im Waterloo-Bahnhof in London. Auf den großen Plätzen befinden sich die Statuen von Generälen und Helden des Vaterlandes, in den Museen die Fresken, die die militärischen Eroberungen und Tugenden der Ahnen glorifizieren. Es gibt auch keine europäische Stadt, die nicht daran erinnert, dass sie in Ruinen lag und wiederaufgebaut wurde, so etwa das während des Dreißigjährigen Krieges zerstörte Magdeburg, das 1689 von der Armee des Sonnenkönigs Ludwig XIV. zerstörte Heidelberg, die im Ersten Weltkrieg in Ruinen gelegten Städte Verdun und Reims; Rotterdam, London, Warschau, Leningrad, Königsberg und Dresden, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, bis hin zu Sarajevo und Vukovar, die in den Jugoslawienkriegen verheert wurden. Paris oder Prag, Rom oder Krakau stehen in dieser schwindelerregenden Liste als wie durch ein Wunder verschonte Ausnahmen da. Die Neuerungen auf dem Gebiet der Gedächtnispraktiken verbreiten sich sehr schnell, etwa die Kriegerdenkmäler, die Kenotaphe oder die Gräber des unbekannten Soldaten, diese „großen Friedhöfe unter dem Mond“, wie Georges Bernanos sie nannte, die von einem Ende des Kontinents bis zum andern das Andenken an die Kriege und die Hekatomben bewahren, die ihn in Blut getaucht haben. Durch ihre gotische, barocke oder klassische Architektur oder durch ihre Materialien, Stein oder Backstein, unterscheiden sich die europäischen Städte, nicht aber durch diese austauschbaren Dekorationen, die übrigens zu Unrecht als erinnerungsfördernd angesehen werden, denn nichts ist durch die Alltagsroutine so schnell zur Unsichtbarkeit bestimmt wie ein Denkmal, wie Robert Musil ironisch anmerkte.

Das Gedächtnis der Kriege, das meistens von einer patriotischen Logik und der nationalen Gemeinschaft bestimmt wird, bietet auch die Möglichkeit, die traditionellen Koalitionen zu erkennen. Es begründet eine Europakarte der Bündnisse und der Erbfeindschaften, die sich in den nationalen Stereotypen einnistet – die Polen etwa warten seit Napoleon ständig auf die Franzosen – und in der transkontinentalen Mode dieser humoristischen Postkarten am Ende des 19. Jahrhunderts aufblühte, auf denen man sieht, wie ein Deutscher mit Pickelhaube über einen französischen Zuaven oder Spahi herfällt, während er von hinten von einem Russen angegriffen wird, der groß wie ein Bär und wie ein Muschik gekleidet ist.

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