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Die Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag (2014–2018)

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Die Gedenkfeiern zum 100. Jahrestag haben zwar vielfältige Formen angenommen, lassen sich aber in zwei Kategorien einteilen. Die von den Staaten veranstalteten Feiern bieten regierenden Staatschefs Tribünen, um sich im Namen der Nation an die Nation zu wenden und die derzeitigen militärischen Aktionen und Ausgaben mit der großen Erzählung von den 70 Millionen Männern, die während des Kriegs auf der ganzen Welt zu den Fahnen gerufen wurden, zu verbinden. Und dann die von der Zivilgesellschaft veranstalteten – von örtlichen Vereinen, Familien, Reisebüros, Organisatoren historischer Rekonstruktion, Studenten und Universitätsprofessoren, Kirchen und Synagogen –, um die allgegenwärtigen Narben dieses ersten totalen Kriegs sowie die tiefen Spuren, die er auf beinahe allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens der Krieg führenden Staaten hinterlassen hat, in den Vordergrund zu rücken.

Diese beiden Kategorien überlagern sich natürlich zum Teil. Wenn die Museen oder Denkmäler modernisiert oder restauriert wurden, wurden die Arbeiten zusätzlich zu den örtlichen Finanzierungen vom Staat subventioniert. In Frankreich hat eine große „Sammelaktion“ dem Nationalarchiv erlaubt, alle möglichen Unterlagen, Objekte und Fotografien im Besitz von Privatpersonen ausfindig zu machen, die in die Sammlungen der Nationalbibliothek und in die des Nationalarchivs eingegliedert wurden. Die Grenze zwischen Staat und Zivilgesellschaft ist immer schwer zu ziehen, aber seit 2014 hat sie in manchen Fällen einen politischen Charakter angenommen.

Sooft der Staat zum Gedenkmikrofon griff, um sich an die Nation zu wenden, verband seine Botschaft gewöhnlich die Traurigkeit über all das vergossene Blut sowie die Hochachtung gegenüber denjenigen, die sich für ihre Länder geschlagen haben. Die Verbindung zwischen den derzeitigen Militärausgaben und der Notwendigkeit einer nationalen Verteidigung wurde durch die Beteiligung von Militärs an den Feiern, die sozusagen die Enkel der Soldaten von 1914 bis 1918 sind, mehrmals in Erinnerung gerufen.

Die Gedenkfeiern der Zivilgesellschaft hingegen haben vor allem die kriegsbedingten Umwälzungen hervorgehoben und die menschlichen Verluste nicht nur für die Armee, sondern für die Nation insgesamt. Zahlreiche Veranstaltungen haben die Rolle der Frauen in dem totalen Krieg zwischen Industriemächten in Erinnerung gerufen. Der Markt – das Rückgrat der Zivilgesellschaft – hat ab 1914 Millionen Konsumenten Gegenstände geliefert, die als Miniaturdenkmäler für alle fungieren konnten. Fremdenverkehrsämter und Reiseveranstalter haben dank der Wallfahrten zu den Schauplätzen des Großen Kriegs lukrative Geschäfte gemacht, sie haben Touristengruppen zu den Gedächtnisorten auf der ganzen Welt gekarrt, wo diese mehr oder weniger echte, mehr oder weniger rührende oder banale Souvenirs erstehen konnten. Und darüber hinaus haben Film, Fernsehen und Internet Hunderte Millionen Zuschauer mit Bildern überschwemmt.

Die steigende Nachfrage nach Gedenkprodukten des Ersten Weltkriegs erklärt sich hauptsächlich aus zwei soziologischen Tendenzen. Die erste ist der Rückgang der religiösen Praxis in zahlreichen Regionen der Welt. Die Erinnerung an diesen Konflikt wachzurufen, heißt, sich auf sakrale Themen zu konzentrieren – Opfer, Tod, Liebe, Leid und Erlösung –, die für die früheren Generationen im Wesentlichen in den Bereich der traditionellen Kirchen gehörten. Da die säkularisierten Mentalitäten die Transzendenz in den Hintergrund drängen, werden diese sakralen Fragen nicht mehr in den Kirchen abgehandelt, sondern an anderen Orten und in anderen Räumen: in Kriegsmuseen, in Gedenkstätten und an Schlachtstätten.

Die zweite Erklärung für die Entfaltung dieses Erinnerungskults schreibt sich in den Aufschwung der Industrie der Familiengeschichte und der Genealogie ein. Wenn die Familie die Gestalt wechselt und Scheidungen häufiger werden, dann verlieren die Familienbande an Bedeutung. Wenn man sich fragt, wie sein Urgroßvater oder der Ort, an dem man lebt, den Krieg erlebt hat, dann befragt man die örtlichen Solidaritäten und Identitäten. Der Kauf eines Zierdeckchens oder eines Aschenbechers aus dem Kriegsjahr 1914 führt folglich die Erinnerung daran in die Privatsphäre ein. Auf diese Weise wie auch auf viele andere domestiziert das Gedenken den Krieg.

Dadurch ermöglicht der Zyklus der Gedenkfeiern des Konflikts von 1914 bis 1918 zahlreichen Menschen, sich auf eine Identität zu berufen – und sich als integrierender Bestandteil einer Nation, die die Umwälzungen des Kriegs erlitten hat, zu betrachten. Dieser Typus der Identitätskonstruktion birgt jedoch eine Falle. Für viele kommt es weniger darauf an, den Krieg gewonnen oder verloren zu haben, als ihn überlebt zu haben, wie die Internationale Gedenkstätte von Notre-Dame-de-Lorette in Nordfrankreich bezeugt, wo die Namen aller im Artois und in Flandern getöteten Soldaten – gleichgültig welcher Nationalität – in alphabetischer Reihenfolge aufgelistet sind. Für andere hingegen und insbesondere für die Franzosen, die Australier und die Briten ist es keineswegs nebensächlich, den Krieg gewonnen zu haben. Die Identität des „Siegers“ kann somit die Spuren eines Typus von Nationalismus aufweisen, der heute politisch nicht folgenlos ist.

Wenn hingegen die Gedenkfeier keine nationale Identität hervorhebt, sondern multiple Identitäten – die Gattin, die Mutter, den Vater, das Kind, das Waisenkind, die Person, die den Invaliden hilft, den Arbeiter, den Bauern, den Lehrer –, dann wird die Erinnerung an die kolossalen Verluste weniger national als örtlich und international. Die Gedenkfeier kann einen pazifistischen Charakter annehmen, wenn sie die Trauergemeinschaft nicht nur auf die Familien der zwei Lager ausdehnt, sondern auf uns alle, Männer und Frauen heute. In zahlreichen Regionen der Welt hat das Gedenken nichts von einer Feier an sich. An diesen Erinnerungsorten wäre das Feiern des Krieges gleichbedeutend mit einem Feiern der Beulenpest.

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