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Einleitung zur deutschen Ausgabe
ОглавлениеEuropa neu denken, Europa in seiner ganzen zeitlichen Ausdehnung denken, Europa gemeinsam denken – diese drei Ziele verfolgt unser Buch. Als Reise um die Welt der europäischen Erinnerungen in 133 Aufsätzen möchte es einen ganz neuen Blick auf den Kontinent werfen und die Grundfrage aufgreifen: Was ist eigentlich dieses Europa, das – von seiner partiellen politischen Union einmal abgesehen – seit mehr als einem Jahrtausend als Erbe einer gemeinsamen Geschichte eine allgegenwärtige und greifbare Realität darstellt, das von außen betrachtet als unverzichtbar und begehrenswert erscheint, für viele aber weiterhin ein flüchtiges Objekt darstellt, das gleichwohl hitzige Diskussionen auslöst?
Europa neu denken, ohne sich von der gegenwärtigen Sinnkrise, auch nicht von den mit heißer Nadel erstellten Diagnosen und ebenso wenig von den großen „Meilensteinen“ der europäischen Geschichtsschreibung einschüchtern zu lassen – mit einer einzigen Ausnahme. Damit meinen wir Tony Judts 2005 erschienenes großartiges Buch Postwar. A History of Europe Since 1945, dessen Tiefe und Weitsicht uns in jeder Phase unserer Arbeit inspirierte.
Europa in seiner zeitlichen Ausdehnung denken. Auch wenn unsere heutigen Fragestellungen und die Auseinandersetzungen des vergangenen Jahrhunderts unsere Erinnerungen beherrschen, so reicht doch Europa als Gemeinschaft und Erbe, als Objekt und Projekt zurück ins Mittelalter und die Antike, von der es sich herleitet. Schon lange vor Herodot bezog sich der Dichter Hesiod als Erster – um das Jahr 700 vor unserer Zeitrechnung – auf Europa als geografische Einheit. Die „Europäer“ tauchten allerdings erst vierzehn Jahrhunderte später als Gemeinschaft mit der charakteristischen doppelten Dimension von Inklusion und Exklusion auf, nämlich in der Mozarabischen Chronik. Diese wurde 754 von einem unter muslimischer Herrschaft lebenden Christen verfasst, der darin den Sieg Karl Martells, des Großvaters von Karl dem Großen, und seiner Armee über Abd ar-Rahman I., den Emir von Córdoba, und dessen aus Berbern und Arabern bestehenden Heerscharen darstellte.
Europa schließlich auch gemeinsam denken, weil die Brüche und Risse, die das gegenwärtige Europa des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts durchziehen, noch immer viel zu tun haben mit den Auseinandersetzungen über die angemessene Erinnerungskultur, die ein kaum „wiedervereintes“ Europa nach dem Fall der Berliner Mauer bewegt haben. Die Konfrontation der Erinnerungen an den Nationalsozialismus und den Stalinismus, die Schoah und den Gulag, hat uns damals deutlich gemacht, wie nachhaltig prägend die im Lauf des Kalten Kriegs entstandenen Räume wirkten, was erst recht für ererbte Spaltungen aus noch weiter zurückliegender Zeit gilt. Während die postkoloniale und dekoloniale Befragung unserer globalisierten Welt frühere Konfigurationen aus der Zeit der europäischen Weltreiche deutlich werden lässt, kann man diese Geografie des Gedächtnisses und der sie kennzeichnenden Brüche nur dann aufheben, wenn man die verschiedenen, von der Vergangenheit übernommenen Sensibilitäten in Rechnung stellt und sich hinreichend über sie erhebt. Es heißt also, diese große Tektonik der kollektiven Erinnerungen in ihrer langen Dauer, ihrer Gesamtheit und ihren weltweiten Verflechtungen zu betrachten. Es geht um nichts Geringeres als eine Verortung Europas mithilfe seiner geteilten und gemeinsamen Erinnerungen in einer globalen Zeit.
Warum auch sollte man sich wortlos „provinzialisieren“ lassen, um einen Ausdruck aufzugreifen, den der indische Historiker Dipesh Chakrabarty in postkolonialer Perspektive geprägt hat? Verlangt unsere Zeit nicht statt eines Rückzugs auf sich selbst vielmehr nach „einer neuartigen Geschichte Europas in weltbürgerlicher Absicht“ (Wolf Lepenies), die allerdings genügend Gespür für die Vielfalt der Welt hat und die Frage der weltweiten Zirkulationen und mehrfachen Aneignungen offen thematisiert? Unsere gewohnte Dimensionen sprengende Untersuchung ist jedenfalls in alle Himmelsrichtungen offen. Am Ende haben wir mit der Unterstützung von Pierre Monnet (Paris/Frankfurt am Main), Akiyoshi Nishiyama (Tokio), Valérie Rosoux (Löwen/Luxemburg), Olaf Rader (Berlin) und Jakob Vogel (Paris/Berlin), die die Herausgabe der drei Einzelbände übernommen haben und mit denen wir in ständigem Austausch standen, etwas mehr als einhundert Autoren gewinnen können. Sie kommen aus ganz Europa und der ganzen Welt: aus Australien, Belgien, Brasilien, der Demokratischen Republik Kongo, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Italien, Kanada, den Niederlanden, Österreich, Polen, Portugal, Russland, Schweden, dem Senegal, Serbien, Spanien, der Tschechischen Republik, der Türkei, der Ukraine, Ungarn und den USA. Darüber hinaus haben viele unserer Autoren eine grenzüberschreitende Biografie. Würden wir zudem die familiären Wurzeln und die jeweiligen Lehr- und Forschungsstätten berücksichtigen, würden wir noch dazu nach Bulgarien, Kroatien und Tunesien, in den Iran und in die baltischen Länder entführt. Schließlich haben wir darauf geachtet, dass unter unseren Autoren unterschiedliche Generationen mit ihren jeweiligen Sensibilitäten vertreten sein sollten. So kam es zustande, dass zwischen unserem „Nestor“ und unserem „Nesthäkchen“ mehr als ein halbes Jahrhundert liegt.
Die Polyfonie der Texte entspricht der unserer Überzeugungen. Man könnte sie mit den Worten des bulgarisch-französischen Schriftstellers und Wissenschaftlers Tzvetan Todorov zusammenfassen: „Nicht diejenigen, die über eine gemeinsame Erinnerung verfügen, werden die Europäer von morgen sein, sondern jene, die einräumen, dass die Erinnerung des Nachbarn genauso legitim ist wie die eigene.“ Darum geht es nämlich im Grunde, um mit Paul Ricœur zu sprechen: um eine „Erinnerungsarbeit“ (travail de mémoire), die auch eine Arbeit der einzelnen Erinnerungen aneinander (travail des mémoires) ist. Die Entdeckerfreude und die Lust am Austausch wie der Wettstreit bei der gemeinsamen Anstrengung waren für uns alle – bereits in der Entstehungsphase des Projekts – die Gelegenheit zu geteilter Freude. Die miteinander verwobenen Geschichten und Identitäten aufzudröseln, kann nur gelingen, wenn man möglichst viele Blicke zusammenführt. Denn trotz der Erinnerungen, die wir bereits miteinander teilen, ist es für unsere heutigen Anstrengungen von vorrangiger Bedeutung, dass wir, um mit der italienischen Historikerin Luisa Passerini zu sprechen, „teilbare“ Formen der Erinnerung entwickeln. Dieses Potenzial einer Geschichte, die als „Raum für Dialog“ (Robert Traba) betrachtet wird, war für uns jederzeit präsent. In unserem Buch sind wie in einem europäischen, aber auch globalen Wandteppich unterschiedliche Geschichten und Geschichtsfragmente miteinander verwoben, denn es will vor allem dazu beitragen, dass wir das Leben, die Erfahrungen und die Geschichte der anderen auf dem Kontinent – und darüber hinaus – besser verstehen. „Hören wir doch bitte auf damit, von Nationalgeschichte zu Nationalgeschichte aneinander vorbeizureden“, verlangte schon 1928 Marc Bloch in seinem Plädoyer Für eine vergleichende Geschichte der europäischen Gesellschaften. Und der Mitbegründer der Annales bekräftigte immer wieder seine Überzeugung: „Es gibt keine Geschichte Frankreichs, es gibt nur eine Geschichte Europas.“ Eine Generation und einen Weltkrieg später ergänzte das Fernand Braudel zur Feststellung: „Es gibt keine Geschichte Europas, es gibt nur eine Weltgeschichte.“
Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte ist das Resultat eines solchen Abenteuers. Doch warum Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte und nicht „Europa. Die Gegenwart der Geschichte“ oder – noch klassischer – „Eine europäische Geschichte“? Wir wollen damit gleich zu Beginn andeuten, was unsere Untersuchung von einer Geschichte der internationalen Beziehungen, einer vergleichenden Geschichte der europäischen Länder oder einer europäischen Kulturgeschichte unterscheidet. Die Erfahrung lehrt uns ja dies: Eine europäische Kulturgeschichte führt immer zu einer linearen Nacherzählung und sie beruht auf der Illusion einer vorgegebenen Einheit, einer einheitlichen Geschichte, eines europäischen Gedächtnisses im Singular …
Am Beginn unseres Abenteuers stand aber der Wunsch, eine lebendige, offene und dialogische Geschichte zu präsentieren. Zu diesem Zweck finden sich hier 133 Beiträge vereint. Zur Hälfte sind das längere Essays, die durch ebenso viele kürzere Beiträge ergänzt und neu beleuchtet, nuanciert und präzisiert werden, aber auch Widerspruch erfahren können. Dieser Abwechslungsreichtum, der sicherlich etwas Experimentelles und Spielerisches an sich hat, versteht sich als Einladung zu einer Entdeckungsreise. Gemeinsam sind allen Beiträgen die Erzählfreude und der kritische Anspruch, der Sinn für exotische Überraschungen und die Orientierung an fundiertem Wissen als Richtschnur.
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Wenn unser Schwerpunkt auf dem Gedächtnis im weiten Sinn des Wortes liegt, auf den Erinnerungen, die, wie Paul Valéry so treffend sagt, „die Zukunft der Vergangenheit“ sind, dann steht damit nicht die Erzählung dessen, „wie es eigentlich gewesen“ ist (Leopold von Ranke), im Zentrum der Analysen, sondern eine perspektivische Geschichtsbetrachtung von einer zweiten Ebene aus. Bezeichnen wir sie ruhig mit einem Gallizismus als „Geschichte zweiten Grades“. Eine Geschichte Europas, so wie sie wahrgenommen und erörtert wurde, die man für sich in Anspruch nimmt oder von Generation zu Generation neu interpretiert. Es geht um alles, was unsere Vorgänger für wert befunden haben, es aufzuzeichnen, aufzubewahren, zu überliefern und umzuformen, um darüber zu debattieren, weil das für sie etwas Sinnhaftes war; es geht aber auch um das, was uns an unserem gemeinsamen und umkämpften Erbe als existenziell bedeutsam erscheint.
Um drei große Themen geht es bei dieser „Geschichte zweiten Grades“. Das erste wird vor allem in unserem ersten Band behandelt. Im Mittelpunkt steht hier, was Augustinus von Hippo in seinen Bekenntnissen als „Gegenwart der Vergangenheit“ bezeichnete. Damit sind hier keine Totems oder zu verehrenden Erbstücke gemeint, sondern ein komplexes Geflecht von mitunter unangemessenen, ja missbräuchlichen Interpretationen und Aneignungen der Vergangenheit, aber auch von Dingen, die man zu verbergen und zu verdrängen sucht, denn die Erinnerung ist, wie Günter Grass einmal sagte, abwechselnd „Gnade“ und „Fluch“. Im heutigen Europa erstickt das Reich der Erinnerungen, dieses „Totenhaus“, von dem Tony Judt sprach, nicht die Lebendigkeit der verschiedenen Erzählungen und Gegenerzählungen. Trotz der schweren Last der Zeitgeschichte auf den Spuren der Erinnerungsdiskurse und -praktiken wollten wir es uns nicht versagen, Jahrhunderte und Räume zu überspringen und in die Tiefe der Vergangenheit bis hin zu den Ursprungserzählungen einzutauchen. Denn gerade in ihrem Rückgriff auf ein ererbtes, aber immer wieder neu interpretiertes Repertoire lassen sich neue Zukunftsentwürfe am besten ausloten.
Das schmerzliche Erbe des 20. Jahrhunderts verlangt von uns sicherlich eine „solidarische Erinnerung an das nicht Wiedergutzumachende“ (Jürgen Habermas), doch trifft diese Maxime auf die unvermeidliche Verschiedenheit unserer Erfahrungen und die sie konstituierende Heterogenität unserer Erinnerungen. Diese wesensmäßige Diversität ist der Gegenstand unseres zweiten Bandes, der den Titel „Vielfalt und Widersprüche“ trägt. Sie ist auch der Grund für die hier gewählte polyzentrische und kaleidoskopische Herangehensweise, die den verschiedenen Verkörperungen nachgeht, die tief in unsere Erinnerung eingraviert sind. Das können Personen oder Vorstellungen, Orte und Räume, Strukturen wie Ereignisse sein. Unsere Kamera wurde jedenfalls an unterschiedlichen Orten aufgestellt; sie ist mobil, spielt mit den Brennweiten und vermeidet das Standbild.
Ihre Lebendigkeit verdanken die europäischen Erinnerungen nicht zuletzt auch der von Anfang an gegebenen engen Verflechtung Europas mit einer Welt im Wandel. Deshalb verfolgen wir in unserem letzten Band so viele Spuren: Wir gehen der Frage nach, welche Rolle Konflikte und wechselseitige Anziehung gespielt haben, welche Folgen die Durchlässigkeit nach außen und nach innen sowie die Begegnungen und Interaktionen der Erinnerungen zwischen einem Europa inside out und outside in haben, die es letzten Endes verbieten, zwischen einem Selbst und einem anderen zu unterscheiden. Diesen Ansatz fassen wir unter dem Begriff „globale Verflechtungen“ und verweisen damit auf Termini wie global cities, global economy und global memory, die ihrerseits eng mit der von Fernand Braudel geprägten économie-monde und dem von uns vorgeschlagen Begriff mémoires-monde zusammenhängen, dem französischen Titel des dritten Bandes.
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Drei große Themenkomplexe sind es also, um die es hier geht: die Beziehung zur gegenwärtigen Vergangenheit, die Beziehung zur inneren Einheit und Vielheit, die Beziehung zur Welt. Alle drei determinieren sich wechselseitig und die jeweiligen Erinnerungen sind keine reinen Objekte einer abgestorbenen Gelehrsamkeit, die ein Friedrich Nietzsche sonst prompt als belanglose „antiquarische Historie“ abstempeln würde. Einzelne Abschnitte der europäischen Geschichte können durchaus Gegenstand einer gemeinsamen und unaufgeregten Erinnerung sein, gleichwohl ist der Konsens eher selten. Es dominiert die Konflikthaftigkeit der zahlreichen brüchigen und gespaltenen Erinnerungen, die des gleichermaßen distanzierten wie engagierten Blicks einer kritischen Historie bedürfen.
Der Titel Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte hat sich am Ende wie von selbst ergeben. Er umfasst all die Gegensätze, um die es geht, die stets möglichen Polemiken ebenso wie die sich immer wieder einstellenden Versuchungen, uns die europäische Geschichte anzueignen. Wenn wir „unsere Geschichte“ sagen, gehen wir aber nicht von einer fiktiven Gemeinschaft aus und schließen erst recht niemanden aus. Als europäische und nicht europäische Autoren, die sich hier in ihrer Unterschiedlichkeit vereinen, ist es uns bewusst, vor welche Herausforderungen uns die politische, gesellschaftliche und kulturelle Indienstnahme der Vergangenheit stellt. Die Identifikationen mit „unserer“ Geschichte, die hinter diesem Possessiv stecken, sind eben gerade partieller, subjektiver und potenziell antagonistischer Art. Sie müssen deshalb in ihren jeweiligen Kontext eingebettet werden. Gleichwohl gestattet es uns der kollektive Charakter unseres Unterfangens, ein ebenso reales wie mobiles „Wir“ wahrzunehmen, ein „Wir“, das unsere Individualitäten übersteigt, kurz ein „Wir trotz allem“.
Wir sind alle von einer einfachen Leitfrage ausgegangen, die erst in einem zweiten Schritt in Neben- und Unterfragen aufgegliedert wurde: Kann man – und, wenn ja, in welchem Fall – von einem europäischen Gedächtnis im Singular sprechen – oder müssen wir den Plural vorsehen? Sind die europäischen Erinnerungen mehr als die Summe der nationalen Erinnerungen? Verfügt Europa – so wie die Nationen, aus denen es besteht – über die „signifikativen Einheiten materieller oder ideeller Art, aus denen menschlicher Wille und die Zeit das symbolische Element einer Gemeinschaft schmieden“, die Pierre Nora 1984 als Erster auf diese Weise als „Erinnerungs- bzw. Gedächtnisorte“ definiert hat?
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Man gestatte uns an dieser Stelle ein persönliches Wort. Wir sind beide Deutsch-Franzosen aus zwei unterschiedlichen Generationen. Als solche wurden wir (nicht zuletzt) durch unsere jeweilige Familiengeschichte, die aus Berichten und aus Schweigen über Freuden und Dramen, Entdeckungen und Verlusten besteht, für ein konkretes und anfassbares Europa sensibilisiert. Für uns als Wahlberliner haben der historische Moment 1989 und die große Erinnerungsbaustelle, die das wiedervereinte Deutschland darstellt, entscheidend zu unserem gemeinsamen Interesse an Erinnerungsorten und Erinnerungsproblematiken beigetragen. Als Ort, an dem sich alle aktuellen Fragen des Umgangs mit der Vergangenheit zu konzentrieren scheinen, ist Berlin für uns ein lebendiger „Hypergedächtnisort“, der seit dem Fall der Mauer aufs Neue das Interesse der Weltgemeinschaft auf sich gezogen hat und für die Jugend Europas, ja der Welt, zum place to be und zum place to see geworden ist.
Mit Europa wollten wir Pionierarbeit leisten. Und es wurde in der Tat ein regelrechtes Abenteuer. Wie alles hat freilich auch unser Werk seine Grenzen. Von Anfang an war uns klar, dass unsere Befragung der Erinnerungen unweigerlich dazu führen wird, dass die Fülle der Diskurse Randgruppen im Dunkeln lassen und beschwiegene oder tabuisierte Leerstellen überdecken wird. Die Dynamik der Worte und Taten, die sich einen mehr oder weniger großen Anteil am Nachleben im Gedächtnis erkämpft haben, ist auch mithilfe aller kritischen Anstrengung nicht in der Lage, historische Gerechtigkeit walten zu lassen. Trotzdem hindert uns weder diese Einschränkung noch das Bewusstsein eigener Vorprägungen an der Feststellung, dass Europa mit einem Anteil von lediglich einem Viertel französischer Autoren und mit mehr als 50 Prozent Beiträgen, die ursprünglich in einer anderen Sprache verfasst wurden, eine neue Sichtweise anbietet und sich in seinem Ausmaß, seinem Anspruch und seiner Internationalität von allem anderen unterscheidet.
So viel Energie von Vancouver bis Tokio, Helsinki und Melbourne sowie von Wien nach Kinshasa konnte nur deshalb mobilisiert werden, weil im Kontext des memory boom und der seit mehr als 30 Jahren blühenden memory studies eine überwiegend gemeinsame Sprache entstanden ist beziehungsweise nach und nach im internationalen Austausch elaboriert wurde.
Wie fruchtbar hat sich doch der Terminus „kollektives Gedächtnis“ erwiesen, den Maurice Halbwachs vor fast einem Jahrhundert einführte. Die Fülle der Arbeiten, die auf diesem Gebiet von deutschsprachigen Forschern auf der Grundlage der von Jan und Aleida Assmann entwickelten Begriffe „kulturelles Gedächtnis“ und „kommunikatives Gedächtnis“ vorgelegt worden sind, ist hierfür ein spektakuläres Beispiel. Und auf welche success story können die Lieux de mémoire zurückblicken, die nach dem Vorbild von Pierre Nora nach ganz Europa ausstrahlten. Nach den sieben Bänden, die er als Herausgeber zwischen 1984 und 1992 Frankreich gewidmet hat, entstanden nicht minder monumentale Vorhaben in Italien, den Niederlanden, Österreich, Belgien und Polen, etwas weniger umfangreiche in der Schweiz, in Ungarn, Russland und Zentraleuropa. Einer von uns beiden war auf diesem Gebiet mit dem verstorbenen Hagen Schulze bereits als Mitherausgeber der drei Bände der Deutschen Erinnerungsorte (2001) tätig, während der andere zur stattlichen Reihe der Deutsch-Polnischen Erinnerungsorte (2012–2015) beigetragen hat. Und doch ist dieses Gebiet auf europäischer Ebene bislang unbeackert geblieben, wenn man einmal von der dreibändigen akademischen Publikation über europäische Erinnerungsorte absieht, die von Heinz Duchhardt, dem Leiter des Mainzer Instituts für Europäische Geschichte, herausgegeben wurde. Wirkt die Größe der Herausforderung vielleicht einschüchternd wie etwa die Eiger-Nordwand auf Bergsteiger?
Mit diesem Buch möchten wir neue Perspektiven eröffnen und hoffen auch, eine erste phänomenologische und strukturale Analyse der europäischen Erinnerungen in ihrer Gesamtheit entworfen zu haben. Dabei hieß es, ein bloßes monologisches Nebeneinander zu vermeiden und eher Nachhalleffekten nachzuspüren, die Zirkulation von Themen zu ermöglichen sowie Begegnungen und partielle Überschneidungen zu organisieren, um so eine Art allgemeine Grammatik der europäischen Erinnerungen herauszuarbeiten. Nach Möglichkeit sollte es auch zu wechselseitigen Spiegelungen kommen und eine Art Streiflicht wird, so hoffen wir, Gedächtniskulturen, die nichts voneinander wissen wollen, erhellen. Wenn man über unsere Auswahl und unsere Festlegungen diskutieren und vielleicht auch streiten wird, haben wir bereits einen Teil unserer Ziele erreicht.
Zu guter Letzt müssen wir wohl auf das scheinbare Paradoxon eingehen, dass wir keine A-priori-Definition des Begriffs Europa anbieten. Dies ist eine bewusste Entscheidung, denn wir betrachten es als Vorrecht eines kritischen Vorgehens, mithilfe von sich ständig verändernden Gedächtnisinhalten und Erinnerungspraktiken jeglicher essenzialistischen Konzeption entgegenzutreten, die ihrerseits die von ihr untersuchten Gegenstände als unveränderlich betrachtet. Die unaufhörlichen identitären Neuformierungen Europas von einer Generation zur anderen, von Raum zu Raum, von einer sozialen Gruppe zur nächsten stehen im Mittelpunkt unserer Reise durch das Europa der Erinnerungen. Wenn wir uns absichtlich nicht auf die unlösbaren Auseinandersetzungen um eine Definition Europas einlassen, wird dies unserer Untersuchung dabei helfen, zu erfassen, was Europäer und Nichteuropäer – die von gestern wie die von heute – in ihrer jeweiligen Zeit bei der Nennung dieses Namens assoziierten und verstanden, aber auch was sie als für ihr eigenes Schicksal Verantwortliche taten und hofften im Angesicht der Herausforderungen ihrer Gegenwart und unter Heranziehung der Partituren der Vergangenheit, auf deren Grundlage sie mehr oder weniger gekonnt ihre Zukunftsmusik komponieren.
Auch wenn „wir Europäer, die wir letzten Endes für unsere Zukunft verantwortlich sind, nichts mehr gegen unsere Vergangenheit tun können“, wie der ungarisch-französische Historiker François Fejtő 1988 in seinem Requiem pour un empire défunt („Requiem für eine untergegangene Monarchie“) schreibt, hat der Umweg über die Erinnerungen nichts mit Rückwärtsgewandtheit zu tun. Mit seinen 133 Beiträgen, die man ebenso gut als Ausgangspunkte wie als Orientierungsmarken betrachten darf, ist es vor allem anderen das Ziel von Europa, Neugierde zu wecken und zu Diskussionen anzustiften. Die europäischen Erinnerungsorte sind durch vielfältige Wechselbezüge und Spiegelungen miteinander verbunden und können deshalb nicht unabhängig voneinander existieren. Damit erinnern sie daran, dass die europäischen Erinnerungen, wie bereits Edgar Morin betont hat (Penser l’Europe, 1990, beziehungsweise Europa denken, 1991), vor allem „dialogischer“ Natur sind. Sie sind nichts Starres und leben nur durch die vielen Akteure, die sie teilen. Sie formieren sich ständig neu und werden das sein, was wir aus ihnen machen.