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Die drei großen Gedächtnisbooms

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Auf den Krieg von 1914 bis 1918 – das größte Blutbad der Geschichte zu diesem Zeitpunkt – folgte der erste Gedächtnisboom des 20. Jahrhunderts. Wie auch bei den späteren Gedenkwellen war der Motor die Technologie. Wenn die Fotografie und der Film Erfindungen des 19. Jahrhunderts waren, so haben die technischen Fortschritte den Kontakt der Massen mit unbelebten oder belebten Bildern des Kriegs exponentiell gesteigert. Die Notwendigkeit, das Andenken an alle diese Toten zu bewahren, hat eine starke Nachfrage nach Gedenkmedien jeglicher Art erzeugt: Die Bücher und Publikationen, die Kunstwerke (ob nun volkstümlich oder nicht), die Fotos und kommerziellen Filme über den Krieg waren sehr zahlreich. Für die Wissenschaftler wie für die Autoren und Künstler der Avantgarde – für Sigmund Freud wie für Marcel Proust oder Virginia Woolf – wurde das Gedächtnis zu einem Gegenstand der Faszination, ja sogar zu einer Obsession. Auch die allgemeine Vorliebe für illustrierte Bücher und Kriegsgeschichten schien unbegrenzt, bevor der Beginn des Zweiten Weltkriegs zusätzliche neue Absatzmöglichkeiten in der ganzen Welt schuf.

Der zweite Gedächtnisboom des 20. Jahrhunderts, der in den Achtzigerjahren begann, hatte ebenfalls einen technologischen Motor. Im Lauf dieser Jahre haben die Mittel für die Aufzeichnung, die Aufbewahrung, die Erkennung, die Verwertung und die Verbreitung von Kriegserlebnissen eine radikale Umwandlung durchgemacht. Die Ton- und Bildaufnahmegeräte und dann das Internet haben es ermöglicht, Kriegsbilder sowie die Stimmen und die Gesichter der Opfer in Umlauf zu bringen wie nie zuvor. Die dem Großen Krieg gewidmeten Archive und Museen haben in den Achtzigerjahren und danach überhandgenommen. In den Jahrzehnten davor sind die Wunden der Okkupation und der Kollaboration des Zweiten Weltkriegs mehr oder weniger vernarbt und die Schoah hat einen zentralen Stellenwert in der Erzählung des Kriegs von 1939 bis 1945 eingenommen. Der Einkommenszuwachs in den Achtzigerjahren hat ermöglicht, mehr für kulturelle Produkte auszugeben, vor allem in Museen aller Art, die für eine gebildetere Bevölkerung bestimmt waren. Der Vietnamkrieg hat dann den Krieg von 1914 bis 1918 in Erinnerung gerufen, die Sinnlosigkeit und Brutalität beider hervorgehoben und dadurch die Vereinigten Staaten, die sich bislang kaum für den Ersten Weltkrieg interessierten, für diesen Gedächtnismarkt zugänglich gemacht, der in Europa bereits auf ein reges volkstümliches Interesse stieß.

Die späte Bewusstwerdung der Schoah spielte in der Art und Weise, wie diese Gedenkfeiern gedacht wurden, ebenfalls eine Rolle. Die Schoah war nicht nur eine monströse Entstellung der Kriegspraktiken. Sie war der Kern der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Die zivilen Opfer der Schoah und die der Vielzahl von Gräueln nach 1945 konnten nicht Gegenstand der gleichen Gedenkfeier wie die Soldaten von 1914 sein. Letztere hatten sich dafür entschieden, zu kämpfen; eine Entscheidung, die gewiss vom Gesetz, vom familiären Druck und von der Öffentlichkeit diktiert worden war, aber immerhin eine Entscheidung. Sie hätten meutern oder desertieren können. Die zivilen Opfer der Schoah hatten diese Möglichkeit nicht.

Als man die Erinnerung an sie und an andere Opfer des Krieges wachrufen wollte und dabei spät, aber doch explizit die Soldaten einschloss, rührte man an einem neuen Typus von Gedächtnis, das traumatische Gedächtnis, in dem die psychologischen Verwüstungen des Kriegs tief vergraben sein können und lange nach den auslösenden Ereignissen hervorbrechen und lebenslange Auswirkungen haben können. Andere Opfer der Gewalt – etwa die sexuellen Missbrauchs oder auch die Zivilbevölkerungen von Polizeistaaten – sind zu den Menschen hinzugekommen, die dazu verurteilt sind, unter traumatischen Erinnerungen zu leiden, die heute von der Medizin anerkannt werden. Diese Porträtgalerie von Opfern des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat auf subtile Weise die Modelle der Gedenkfeiern von 1914 modifiziert. Die traumatische Psychose ist zulässiger und verständlicher geworden, als man begonnen hat, in ihr den Vorfahren der posttraumatischen Belastungsstörung zu sehen, an der die Soldaten späterer Konflikte leiden. Der von den Familien entrichtete Preis und insbesondere der von Frauen, die verpflichtet waren, die in den Konflikten der Siebzigerjahre und danach traumatisierten Männer zu pflegen, hat den Historikern erlaubt, die Geschichte der Nachwirkungen von 1914 bis 1918 neu zu schreiben und dabei dem Schlagschatten des Kriegs mit seinem Gefolge an Gebrechen und der Art und Weise, wie diese auf dem Familienleben nach 1918 gelastet haben, mehr Aufmerksamkeit entgegenzubringen.

Der dritte Gedächtnisboom tritt mit der exponentiellen Entwicklung der sozialen Netze im digitalen Zeitalter seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts auf. Ohne die Miniaturisierung und die Globalisierung, ohne Handys, ohne die Videospeicher und die Instantfotografie hätte es nie den Skandal um Abu Ghuraib gegeben, ein irakisches Gefängnis, in dem amerikanische Soldaten pornografische und gewalttätige Fotos von Folterungen, die sie an ihren Gefangenen begingen, und der Lust, die sie dabei verspürten, aufnahmen und schamlos untereinander teilten. Als diese Bilder „viral“ – und anders ausgedrückt: unkontrollierbar und unwiderlegbar – geworden sind, ist das Gedächtnis des Krieges und seiner Grausamkeiten in eine neue Phase eingetreten. Die virale Zirkulation ist das wichtigste Merkmal dieses dritten Gedächtnisbooms, der eine erneute Zirkulation symbolträchtiger Bilder von Soldaten des Ersten Weltkriegs auf den Schlachtfeldern sowie von Kriegsmaterial, das mehr als dreißig Millionen Menschen getötet oder verstümmelt hat, auslöste.

Jeder dieser drei Gedächtnisbooms bestätigt, dass die Art und Weise des Erinnerns zutiefst auf das einwirkt, woran man sich erinnert. Der Große Krieg ist nicht die einzige treibende Kraft des derzeitigen digitalen Gedächtnisbooms, aber er ist ein wesentliches Moment von ihm. Die Umwandlung des Krieges, der einst auf einem hauptsächlich von Soldaten besetzten Schlachtfeld geführt wurde und heute als ein Konflikt auftritt, der mehrheitlich die Zivilbevölkerung trifft, ist mit der Problematisierung und Infragestellung eines gewissen Typs der heroischen Ikonografie und Literatur über Männer in Waffen einhergegangen. Die Schoah ist die Verkörperung des Kriegs, der von Soldaten gegen Zivilisten geführt wird. Andere Katastrophen sind nachgefolgt und haben dazu beigetragen, unseren Blick auf den Krieg zu verändern. Aufgrund dieser mehr und mehr von Zivilisten bevölkerten Bilder ist trotz der türkischen Leugnung der Genozid der Armenier sichtbar geworden, der sich im Herzen der Erzählung vom Großen Krieg angesiedelt hat und die spätere Ermordung der europäischen Juden durch die Nazis vorwegnimmt.

Natürlich sind die älteren Darstellungen von Männern in Uniformen, die als edle Krieger dargestellt werden, nicht verschwunden. Man begegnet ihnen noch in vielen Regionen der Welt. Dennoch hat sich eine zweite Kategorie von visuellen oder verbalen Darstellungen, die den Krieg als eine durch nichts gerechtfertigte Schändlichkeit präsentieren, parallel zu dem durchgesetzt, was Edmund Wilson einmal als „patriotic gore“1 bezeichnet hat. Auch diese zweite Kategorie hat eine weltweite Verbreitung gefunden und partizipiert am digitalen Gedächtnisboom. Diese Serie von Bildern hat einen tiefen und gleichsam einstimmigen Ekel angesichts von Schauspielen ausgelöst, die unvermeidlich mit den heutigen bewaffneten Konflikten einhergehen: etwa Bilder von Obdachlosen, von zerfetzten Körpern von Kindern und anderen Bewohnern von Kriegszonen. In manchen Regionen Westeuropas und Nordamerikas neigen diese Bilder dazu, die politische Legitimität des Kriegs zu hinterfragen. In anderen Regionen haben sie die Mobilisierung zugunsten militärischer Vergeltungsmaßnahmen gefördert. Wir können nicht ignorieren, dass syrische Kinder in Flüchtlingslagern in der Nähe von Aleppo genau auf dem Boden leben, auf dem vor einem Jahrhundert die armenischen Kinder lebten, die dem Genozid entkommen waren.

Man kann noch nicht wissen, ob die schlechte (visuelle) Presse, die der Krieg im Allgemeinen und der von 1914 bis 1918 im Besonderen in diesen letzten Jahren erhalten hat, die Befürwortung des Kriegs in der Öffentlichkeit erschweren wird. Es ist jedoch unübersehbar, dass die gesamten sozialen und medialen Praktiken, die heute den Krieg und dessen Opfer umgeben, sehr wenig mit den Gedächtnissprachen, die vor 1914 gängig waren, gemeinsam haben. Diese Transformation der Kriegsbilder, die für den Konflikt von 1914 bis 1918 unübersehbar ist, ist noch im Gang.

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