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Märtyrer und Martyrium
ОглавлениеDer deutliche Unterschied zwischen den türkischen und armenischen Gedenkpraktiken rückt einen anderen bezeichnenden Aspekt des Grabens zwischen den vielen europäischen Erzählungen des Großen Kriegs und seinen Nachwirkungen in den Blick. Westlich einer Linie, die ungefähr von der Ostgrenze Italiens bis zur Westgrenze Polens verläuft, greifen die Gedenksprachen nicht mehr auf das Vokabular der Märtyrer und des Martyriums zurück. Während des Kriegs war diese Terminologie in Frankreich, wo die katholische und revolutionäre Rhetorik fest eingebürgert war, stark vertreten. In den protestantischen Ländern wie Großbritannien hingegen war das Wort „Märtyrer“ bereits archaisch und wurde weitgehend verworfen, als sich die Sprache der Gedenkfeier von 1914 bis 1918 herausbildete.
Dieser sprachliche Graben hat sich im Lauf der Zeit vertieft. Die katholische und orthodoxe Rhetorik des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und dann den Kommunismus hat zahlreiche größere Unterschiede zwischen den Gedenksprachen der beiden Teile Europas bewirkt. Wenn in Westeuropa eine säkularisierte Terminologie des Opfers – für die Familie, die Gemeinschaft und die Nation eher als für Gott oder das Christentum – überlebt hat, ist sie dennoch weit davon entfernt, einen ebenso mächtigen Einfluss wie die religiösen Praktiken Osteuropas auszuüben. Vor einem Jahrhundert war diese Unterscheidung keineswegs festgelegt. Sprecher der Kompanie Jesu unterhielten sich mit dem Präsidenten der französischen Republik darüber, ob es angebracht sei, das Bild des Sacré-Cœur auf der Nationalflagge anzubringen. Die an der Front liegende Stadt Reims sowie Leuven im besetzten Belgien wurden während des Krieges als Märtyrerstädte bezeichnet. Diese Metaphern sind nach dem Zweiten Weltkrieg rasch verschwunden und sind heute in zahlreichen Regionen Europas obsolet. Dieser Graben säkular/religiös hat die Existenz einer gemeinsamen Gedenksprache des Großen Kriegs verhindert, die Polen mit Portugal, Serbien mit Schottland und den Osten mit dem Westen Europas verbindet. Der Beitritt der ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts nach 1992 zur Europäischen Union bedeute auch eine Gedächtnislandschaft mit vielen Brüchen und Verwerfungen.
Hätten die führenden Politiker von 1914 auch nur die geringste Vorstellung von der Tragweite und der Unumkehrbarkeit der Schäden gehabt, die ihre Entscheidung, in den Krieg einzutreten, Europa und den Europäern gebracht hat, hätten sie vermutlich ihre Meinung geändert. Doch die Geschichte erlaubt keine Neuanfänge und das Blutbad, das diese verantwortlichen Politiker ausgelöst haben, hat Europa in eine Welle der Gewalt und des Todes getrieben, von der es sich nie gänzlich erholt hat. Wenn Europa 1914 nicht Selbstmord begangen hat, so hat es sich eine Verletzung zugefügt, die noch immer nicht verheilt ist. Man braucht in Europa nur um sich zu blicken, um heute noch die Folgen dieser verhängnisvollen Tat festzustellen.