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Getrennte Erinnerungen: Westeuropa und Osteuropa

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Es gibt kein europäisches Gedächtnis des Großen Kriegs. Je mehr man sich dem Osten des Kontinents annähert, umso weniger nimmt er in den nationalen oder internationalen Erzählungen des vergangenen Jahrhunderts eine zentrale Stelle ein. Das liegt zum Teil an der Schaffung neuer Staaten in Mittel- und Osteuropa sowie im Nahen und Mittleren Osten nach 1918, die diesen Krieg als das Vorzimmer ihrer eigenen Geschichte betrachten. Die gleiche Einstellung findet man in der internationalen kommunistischen Bewegung. Als das Jahr 1917, das der zwei russischen Revolutionen, zum Jahr null geworden war, ist das, was zuvor geschehen ist, mehr oder weniger auf den Rang eines Vorworts zu wichtigeren Ereignissen herabgestuft worden. Irland ist das einzige westeuropäische Land, in dem sich diese für Osteuropa bezeichnende Tendenz ebenfalls manifestiert. Bis vor Kurzem wurde dort der Akzent nicht auf 1914 oder 1918 gelegt, sondern auf 1916, das Jahr des Osteraufstands gegen die britische Vorherrschaft. Seit dem Abklingen des bewaffneten Konflikts in Irland im Anschluss an das Karfreitagsabkommen von 1998 hat sich die Gedenklandschaft allmählich derjenigen Großbritanniens angenähert. Ein Jahrhundert nach dem Aufstand von 1916 ist spät, aber unbestreitbar ins Bewusstsein gedrungen, dass mindestens 30.000 Iren ihr Leben für den König und das britische Vaterland geopfert haben.

1914 war Irland de facto eine britische Kolonie. Auch andere zugehörige Gebiete und Kolonien sind 1914 in den Krieg gezogen, um das Mutterland zu verteidigen. Man hat in Verdun Denkmäler für die Muslime, die dort den Tod gefunden haben, errichtet, zahlreiche Soldaten kamen aus Marokko, Algerien oder Senegal.

Die Aufteilung der österreichisch-ungarischen Monarchie und der östlichen Gebiete des deutschen Kaiserreichs war das eigentliche Ziel der Ideologie der Selbstbestimmung von Woodrow Wilson. In dieser Hinsicht ist der Erfolg unleugbar. In diesen neuen, aus der Aufteilung hervorgegangenen Ländern – den Nachfolgestaaten –, die seit Kurzem unabhängig sind, wird das Gedenken des Großen Kriegs durch eine Reihe von bewaffneten Konflikten erschwert, die sie fast alle zwischen 1917 und 1923 geführt haben, um ihre neuen Grenzen endgültig festzulegen. Diese gewaltreiche Phase der Nachkriegsgeschichte geht stark auf das Konto Trotzkis und der Bolschewiki, die eine „rote Brücke“ durch Europa legen wollten. Soldaten der Roten Armee erreichten Warschau im Jahr 1920 und wurden erst nach harten Kämpfen zurückgedrängt. „Rote“ und „weiße“ Kräfte standen einander in Berlin, München und Budapest gegenüber sowie auf einem weitläufigen Gebiet, das die baltischen Staaten und den Balkan umfasste. Die verheerendsten Kämpfe waren vielleicht diejenigen zwischen den Türken und einer Vielzahl von Feinden, darunter griechischen, britischen und französischen Truppen. Unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk wurden diese fremden Heere geschlagen und ein großer Teil der griechischen Gemeinschaft, die seit Jahrhunderten in Anatolien lebte, wurde ausgerottet oder vertrieben. Gleichzeitig waren seit Langem in Europa lebende muslimische Gemeinschaften gezwungen, ihre neue Heimat zu verlassen und in die seit Kurzem unabhängige Türkei zu flüchten.

Alle diese Nachfolgestaaten haben – genau wie Irland – eine nationale Erzählung ausgebildet, deren Ursprung während oder nach dem Großen Krieg angesiedelt ist. Die Männer, die das Postamt in Dublin stürmten und am Ostermontag 1916 die Unabhängigkeit Irlands ausriefen, wurden wegen Verrats erschossen. Dieses Urteil war insofern gerechtfertigt, als diese aufständische Bewegung zu dem Zeitpunkt begann, in dem die gesetzlich konstituierte Autorität, nämlich Großbritannien, im Krieg stand und Iren an der Seite von Engländern, Walisern und Schotten kämpften. Als später die Geschichte der irischen Unabhängigkeit Gestalt annahm, haben der Große Krieg und die irische Beteiligung an diesem Konflikt eine fakultative Präambel zur Errichtung der Freiheit gebildet, die die irischen Patrioten konstruiert hatten. Genauso hat der polnische Unabhängigkeitskrieg von 1918 bis 1921 die Präsenz von Millionen Polen in den Reihen der deutschen, österreichisch-ungarischen und russischen Armeen überdeckt. Es ist also nicht verwunderlich, dass das postkommunistische Polen lieber ein Museum des Unabhängigkeitskriegs – eines Kriegs gegen die Bolschewiki und die Ukrainer – als ein Museum des Großen Kriegs gebaut hat.

In der Türkei wird die schlussendliche Niederlage des osmanischen Heers überdeckt von dem Gedenken des Sieges vom 18. März 1915, ein Datum, an dem die osmanischen See- und Landstreitkräfte unter der Führung des deutschen Generals Liman von Sanders das frankobritische Geschwader vernichteten, das in die Meerenge der Dardanellen vordringen und Konstantinopel erreichen wollte, um die Türkei aus dem Krieg zu eliminieren. Am 24. April 1915 gab das mit den osmanischen Kriegsanstrengungen beauftragte Triumvirat den Anstoß zur Vertreibung der fast zwei Millionen Menschen zählenden armenischen Bevölkerung, die seit Jahrhunderten in Anatolien angesiedelt war. Nachdem die türkischen Verantwortlichen die Ermordung der Anführer der armenischen Gemeinschaft befohlen hatten, ließen sie Gruppen von Soldaten und paramilitärischen, hauptsächlich kurdischen Kräften diese wehrlose Bevölkerung vergewaltigen, verstümmeln und massakrieren, bevor sie die Überlebenden in die mesopotamische Wüste trieben, wo sie dazu verurteilt waren, an Hitze, Durst und Hunger zu sterben. Der Begriff „Genozid“ beziehungsweise Völkermord war 1943 von dem polnischen Juristen Raphael Lemkin geprägt worden, um dieses Verbrechen zu bezeichnen.

Auch heute noch kultivieren Türken und Armenier antagonistische Gedenkpraktiken. Für die Türken ist der 18. März der „Tag der Märtyrer“, an dem man der heldenhaften Aktionen aller im Krieg gefallenen türkischen Soldaten gedenkt. Für die Armenier ehrt man am 24. April, dem „Tag der Märtyrer“, die armenischen Opfer des Genozids. Bis vor Kurzem hatten die Türken nicht das Recht, öffentlich das Wort „Genozid“ zu verwenden, um das Los des armenischen Volks zu bezeichnen, eine Politik der Leugnung, die von einem großen Teil der Welt verurteilt wird. Angesichts der Weigerung der türkischen Behörden, die Verantwortung für den Mord an mehr als einer Million Armenier zu übernehmen und zu akzeptieren, hat der Patriarch der armenisch-apostolischen Kirche, Katholikos Karekin II., am 23. April 2015 sämtliche Opfer des Genozids heiliggesprochen. Nunmehr sind die Armenier, die während des Genozids von 1914/15 umgekommen sind, keine Opfer mehr: Sie sind Sieger in Christus.

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