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Zunehmende Entpolitisierung

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Das antifaschistische Gedächtnis, das während der kurzen Periode der Befreiung und der Nürnberger Prozesse (1946/47) vorherrschte, verlor in Westeuropa mit dem Kalten Krieg an Gewicht. Kurz nach 1968 eröffnete die zugleich nationalrevolutionäre wie neokonservative Neue Rechte aus einer Position heraus, die schnell als revisionistisch und/oder negationistisch erkannt wurde, einen Erinnerungskrieg, der die gesamte Zwischenkriegszeit, den Zweiten Weltkrieg und die historische Erfahrung der Befreiung betraf. Besonders nach 1989 insistierte eine gewisse anti-antifaschistische Geschichtswissenschaft auf dem Syllogismus Antifaschismus = Kommunismus, Kommunismus = Totalitarismus, also Antifaschismus = Totalitarismus. Historische Narrative und Medienberichte begannen, die nationalsozialistische und faschistische Gewalt mit der der Résistance zu vergleichen. Seit dem Ende des Kriegs waren die deutschen Heimatvertriebenen, die italienischen foibe und die antifaschistischen Säuberungsaktionen in Frankreich und Italien Gegenstand von Erinnerungskonflikten. Der deutsche Historikerstreit 1986 war keinesfalls eine Ausnahme: Kontroversen über die faschistische Vergangenheit fanden in Italien, in Frankreich, in Spanien und Portugal sowie im gesamten postkommunistischen Mittel- und Osteuropa statt. Seit 1999 gelingt es den spanischen Eliten nicht mehr, diejenigen zum Schweigen zu bringen, die lautstark fordern, dass man „das historische Gedächtnis“ des franquistischen Unterdrückungsapparats wiedergewinne, insbesondere jenes der republikanischen desaparecidos, die während des Kriegs hinter der Front getötet worden sind und die verlangen, dass man mehr als 114.000 Leichen suche und exhumiere. 2007 hat das Parlament ein Gesetz über das „historische Gedächtnis“ verabschiedet; da dieses aber den Staat nicht zwingt, die Fälle gewaltsamen Verschwindens unter Franco zu untersuchen, blockieren rechtsgerichtete Behörden weiterhin dessen Anwendung auf zentraler, regionaler oder lokaler Ebene.

Sowohl als Gegenstand der Erinnerung als auch als politische Kategorie taucht der Faschismus bei jeder Krise der repräsentativen Demokratie und/oder wirtschaftlichen Rezession wieder auf. In solchen Zeiten (die 1980er-Jahre, der Beginn der 1990er-Jahre, nach 2008) haben die sozialen und wirtschaftlichen Ängste tendenziell politische Verhaltensweisen und Bewegungen verstärkt, die Parolen und Themen aufnehmen, die die Faschisten in den 1930er-Jahren populär gemacht hatten. Obwohl sie es im Allgemeinen ablehnen, Faschisten genannt zu werden, bleiben sie der Semantik des Faschismus treu.

Das Gedächtnis (re)konstruiert sich tendenziell auf verschiedenen Ebenen, je nach dem Zusammenhang, in dem die Erinnerung aktiviert wird. Seit den 1990er-Jahren hat „ein sozialer Imperativ aus dem Zeugen“ des Völkermords oder anderer Formen totalitärer Herrschaft „einen Apostel und einen Propheten gemacht“ (Anne Wieviorka). Dieser Prozess führt tendenziell zu einer „Zivilreligion“ (Enzo Traverso). „Die jahrzehntelang ignorierten Überlebenden der nazistischen Vernichtungslager werden heute […] zu lebenden Ikonen“, während „andere Zeugen […] wie die Widerstandskämpfer, die mit der Waffe den Faschismus bekämpft hatten, ihre Aura verloren haben oder, vom ‚Ende des Kommunismus‘ verschlungen, völlig in Vergessenheit geraten sind“ (Enzo Traverso). Mit dem Ende des Kalten Kriegs hat die öffentliche Erinnerungspolitik in Westeuropa und in Deutschland Formen der Musealisierung und Geschichtsdidaktik der faschistischen Ära entwickelt, die weniger umstritten sind als die, die vor den 1980er-Jahren existierten (oder nicht existierten). Gegen Ende des 20. Jahrhunderts haben eine allgemeine Krise der Politik und eine signifikante Entwicklung der dominierenden moralischen Werte das Interesse des Publikums dafür geweckt, was man als entpolitisierte oder apolitische Sicht des Faschismus und seiner Folgen auffassen könnte, wie man am Beispiel der Würdigung der homosexuellen und behinderten Opfer der eugenischen Politik des Faschismus durch mehrere europäische Staaten sieht. Die Chronologie der Berliner Mahnmale für die Opfer des Nationalsozialismus bietet ein typisches Beispiel für diese neue offizielle Erinnerungspolitik: die ermordeten Juden, 2005; die Homosexuellen, 2008; die Sinti und Roma, 2012; die Opfer des Euthanasieprogramms, 2014.

Der Faschismus bleibt trotz seiner scheinbaren Auflösung im Begriff des Totalitarismus am Ende des 20. Jahrhunderts in ganz Europa und speziell in den mittel- und osteuropäischen Ländern sowie in Deutschland ein dauerhafter Gegenstand des kollektiven Gedächtnisses. Die postkommunistischen Gesellschaften sehen im Faschismus ein von der offiziellen Propaganda der kommunistischen Regime manipuliertes überlebtes Konzept, besonders dort, wo die nach 1989 an die Macht gekommenen Eliten die faschisierenden, mit den Nazis verbündeten Regime oder ihre virulent antikommunistischen Kollaborateure voller Nachsicht neu bewerten (wenn sie sie nicht offen rehabilitieren). Der Faschismus, der zwischen den 1940er- und 1970er-Jahren als weltweites Phänomen wahrgenommen wurde, kommt am Ende des 20. Jahrhunderts in den offiziellen Aussagen der Erinnerungspolitik und in den Medien immer weniger vor, ausgenommen im größten Teil West- und Südeuropas sowie in Russland. Fügen wir noch hinzu, dass der erneute Aufschwung rechtsextremer populistischer und fremdenfeindlicher Bewegungen seit den 1990er-Jahren, insbesondere nach der Wirtschaftskrise von 2008, den Faschismus wieder in die öffentliche Debatte über die Lehren der Vergangenheit einbezogen hat.

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