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3. Die europäische Aufklärung und die neuhumanistische Klassik als Kontext der Entstehung der modernen Erziehungsphilosophie
ОглавлениеWir lesen heute das Höhlengleichnis Platons als eine auch erziehungstheoretisch zu interpretierende Parabel. Aber das geschieht durch die Brille der neuzeitlichen und modernen Pädagogik, in der das pädagogische Generationenverhältnis auf Seiten der Erwachsenen wie auf Seiten der Heranwachsenden wesentliche Veränderungen erfahren hat und die pädagogische Interaktion zu einer eigenlogischen Praxis geworden ist.
Während Aristoteles das Verhältnis der älteren zur jüngeren Generation als ein politisches Regierungsverhältnis dachte, in dem nur diejenigen gut regieren können, die zuvor gut regiert worden sind (vgl. ARISTOTELES: Politik 1332 b–1333 a), gründet Rousseau die politische Praxis in seiner Lehre vom Gesellschaftsvertrag auf eine Selbstregierung der Erwachsenen, die sich als Untertanen Gesetzen unterwerfen, an deren Entwicklung sie als Teilhaber der Souveränität im Staate mitwirken (vgl. ROUSSEAU 1762 a, Buch 1, Kap. 6). An die Stelle des politisch definierten Verhältnisses der Erwachsenen zur nachwachsenden Generation und der darin eingebetteten regierenden pädagogischen Praxis als einer Form der politischen Praxis in der Polis tritt bei Rousseau die Konzeption einer „negativen Erziehung“, welche nicht durch Gewöhnung in die vorgegebene Sitte und Herrschaftsordnung einführt, sondern in der nachwachsenden Generation die Herausbildung eines Selberdenkens und Selberhandelns zu unterstützen sucht, das nicht einfach dem Denken und Handeln der Erwachsenen nachfolgt, sondern in einer neuen Intergenerationalität begründet ist (vgl. ROUSSEAU 1762 b, Vorwort).
Aus Platons Begriff einer a-kosmischen Natur des Menschen, den schon Schleiermacher in seiner Übersetzung von Platons Dialog Protagoras in den Begriff einer weltoffenen unbestimmten Bildsamkeit transformierte und als „unbegabte“ Natur (vgl. PLATON: Protagoras 321 c) des Menschen auslegte, der seine Fähigkeiten selbst entwickeln muss, wird bei Rousseau der Begriff einer ambivalenten, weltoffenen Perfektibilität. Diese bringt ein erstes bildungstheoretisches Prinzip moderner Erziehung auf den Begriff, das von der pädagogischen Praxis die Anerkennung einer schon dem Neugeborenen innewohnenden Fähigkeit verlangt, der Fähigkeit nämlich, Fähigkeiten zu entwickeln. Parallel hierzu wird aus Platons Begriff der bildenden Umlenkung des Blicks als der Fähigkeit, aus negativen Erfahrungen zu lernen, in denen die Welt fremd und neu begriffen werden kann, ein schon in Rousseaus Konzeption negativer Erziehung angelegtes erziehungstheoretisches Prinzip, das Fichte, Schleiermacher und Humboldt später durch den Begriff einer Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit auszuweisen suchten (vgl. STĘPKOWSKI 2010).
Das antike Verständnis der Unausgestattetheit des ersten erwachsenen Menschen wurde in den Begriff der modernen Bildsamkeit des Kindes und die antike Rede von der Kunst der bildenden Wendung des Blicks im Bildungsprozess der Erwachsenen in das moderne Verständnis einer pädagogischen Aufforderung zur Selbsttätigkeit überführt. Danach konnte auch ein dritter Grundbegriff pädagogischen Denkens und Handelns entwickelt und mit diesem die antike Subordination der Erziehung unter die Politik einer wesentlichen Korrektur unterzogen werden. An die Stelle einer politischen Finalisierung der Erziehung tritt in der Moderne die Forderung nach einer didaktischen und gesellschaftspädagogischen Transformation aller außerpädagogischen Anforderungen an die Erziehung, welche einem vierten Grundbegriff, dem einer nicht-hierarchischen Ordnung der ausdifferenzierten Formen der menschlichen Mitgesamttätigkeit (SCHLEIERMACHER), verpflichtet ist (vgl. BENNER 2012, S. 58–126).
Moderne Erziehung erkennt nicht nur von Geburt an die unbestimmte Bildsamkeit und Lernfähigkeit eines jeden Menschen an, die sie durch Aufforderungen zur Selbsttätigkeit zu stimulieren sucht, sie gründet sich zugleich auf die erziehungstheoretischen Prinzipien der Transformation außerpädagogischer Anforderungen in pädagogisch legitime und einer bildungstheoretischen Nicht-Hierarchizität, welche der Erziehung eine gleichbedeutsame Stellung unter den ausdifferenzierten Formen menschlichen Handelns zuerkennt. Zusammengenommen machen die Prinzipien der unbestimmten Bildsamkeit, der Aufforderung zur Selbsttätigkeit, der pädagogischen Transformation und der Nicht-Hierarchizität das aus, was man den Experimentcharakter der neuzeitlichen, insbesondere der modernen Erziehung nennen kann.
Von ihm spricht Rousseau, wenn er die Erwachsenen dazu auffordert, die Kindheit zu studieren, und dies damit begründet, sie kennten diese ganz sicher nicht. Unter Kindheit versteht Rousseau keine Ausgangsform des noch nicht sozialisierten Kindes, das seine Bestimmung nach Maßgabe der Vorstellungen der Erwachsenen und der Anforderungen der Gesellschaft erhält, sondern eine unbekannte Kindheit, die auf eine unbekannte Erwachsenheit hin ausgerichtet ist. In der gesamten Geschichte der Menschheit war den Neugeborenen ihre künftige Bestimmung unbekannt. Seit der Moderne kennen wir die Sondersituation, dass nicht nur den Kindern ihre eigene Bestimmung, sondern auch den Erwachsenen die künftige Bestimmung der Kinder unbekannt ist. Moderne Kinder werden als Menschen, nicht als Angehörige eines bestimmten, ihnen von Geburt her zugeschriebenen Standes geboren. Ihre Kindheit ist unbekannt, weil auch ihr Status als Erwachsener unbekannt ist. Der unbekannten, weltoffenen Kindheit entspricht somit ein unbekannter, weltoffener Status des Erwachsenen. Beide sind eingebettet in ein neues Generationenverhältnis, in dem Eltern nicht mehr die künftige Bestimmung der Kinder repräsentieren, sondern diesen eine Freiheit zuerkennen, ihre Lebensform, ihren Beruf, ihre Partner und die Formen der Vergemeinschaftung selbst zu wählen. Suchte Platon die menschliche Freiheit darauf zu gründen, dass Erwachsene, ohne jemals Kind gewesen zu sein, ihre künftige Bestimmung in einem vorgeburtlichen Leben unter den ihnen durch Los vom Schicksal zuerkannten Selbstbestimmungsmöglichkeiten immer schon gewählt haben, so zielt der Begriff moderner Freiheit auf eine Wahl der eigenen Lebensform, die nicht Erwachsenen vorbehalten ist, sondern in die Heranwachsende durch eine Erziehung eingeführt werden, die keiner vorgeburtlichen Wahl mehr zum Durchbruch verhilft, sondern die Wahl der Wahl offen hält und nicht entscheidet.