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4. Erziehungs- und bildungstheoretisch ausgewiesene Forschungsfelder der Allgemeinen Pädagogik heute
ОглавлениеDie in der Zeit der europäischen Aufklärung und des an diese anschließenden Neuhumanismus in Europa entwickelten Grundbegriffe moderner Pädagogik und die auf ihrer Grundlage entwickelten Erziehungstheorien, Bildungstheorien und Theorien pädagogischer Institutionen weisen für die moderne Erziehungswissenschaft und die pädagogische Praxis einen Experimentalcharakter aus, den die Antike im Rahmen ihres Paradigmas allenfalls der Philosophie, nicht aber der theoretischen Pädagogik und auch nicht der Erziehung von Kindern und Jugendlichen zuerkannt hatte.
Im Folgenden werden allgemeinpädagogisch zu definierende Forschungsaufgaben genannt, von denen einige in einem letzten Abschnitt exemplarisch erläutert werden.
Zu den allgemeinen und übergreifenden Problemstellungen theoretischer, wissenschaftlicher und praktischer Pädagogik gehört, dass Erziehungs- und Bildungsprozesse über produktive negative Erfahrungen vermittelt sind, in denen Bekanntes fremd, schon Gelerntes wieder fraglich wird und Brüche in den Wissens- und Könnens-Horizonten Lernender entstehen, an die Neues angelagert werden kann (vgl. BENNER/ENGLISH 2004; ENGLISH 2013).
Ohne die Thematisierung der produktiven Negativität bildender Erfahrungen und der ihr Zustandekommen unterstützenden pädagogischen Einwirkungen ist eine pädagogisch ausgewiesene erziehungswissenschaftliche Forschung gar nicht möglich. Soll die Erziehungswissenschaft als eine unter pädagogischen Problemstellungen forschende Disziplin Bestand haben, so muss sie zu den anderen im Bereich der Erziehung forschenden Disziplinen, insbesondere zur Psychologie und Soziologie, in eine Beziehung treten, die es erlaubt, an der Eigenlogik pädagogischer Prozesse ausgerichtete Theorien und Forschungsvorhaben zu ent wickeln und die Theorien, Fragestellungen, Erkenntnisse und Resultate anderer Disziplinen unter pädagogischen Problemstellungen zu reinterpretieren.
Zu den Spezifika, die pädagogische Theorieentwicklung und erziehungswissenschaftliche Forschung hier einbringen muss, gehören nicht nur die genannte grundbegriffliche Basis und die sich auf sie stützenden Handlungstheorien, sondern auch Grundformen pädagogischen Handelns, die der Eigenlogik moderner pädagogischer Praxis verpflichtet sind und diese konkret umsetzten (vgl. BENNER 2012, S. 208–314). Zu diesen Grundformen zählen wir erstens ein disziplinierendes pädagogisches Handeln, das bei den Heranwachsenden eine Konzentration und Aufmerksamkeit erzeugt, welche die Bereitschaft der Lernenden stärkt, den Horizont alltäglicher Welterfahrung und zwischenmenschlichen Umgangs zu verlassen und in erfahrungserweiternde und umgangsergänzende Lehr-Lernprozesse einzutreten.
Die zweite elementare pädagogische Handlungsform schließt hieran an. Es ist diejenige einer Erziehung durch Unterricht, welcher bildende Blickwechsel inszeniert und erfahrungs- und umgangserweiternde Wissensformen, -bestände und Zusammenhänge erzeugt, die für ein distanziertes und reflektiertes Welt- und Selbstverhältnis heute unverzichtbar sind. Der gesamte Kanon des erziehenden Unterrichts an öffentlichen Schulen setzt sich aus erfahrungs- und umgangserweiternden Fächern und Fächergruppen zusammen, zu denen im Bereich der Grundschulen die Kulturtechniken des Lesens, Schreibens, Zeichnens und Rechnens, aber auch soziale Techniken des gemeinsamen Lernens, des Hin- und Zuhörens und des Übens und auf der Mittelstufe des Schulsystems die nach Kunden ausdifferenzierten Unterrichtsfächer sowie auf der Oberstufe wissenschaftspropädeutische Fächer gehören. Sie alle vermitteln Kenntnisse, die für ein Verstehen der verwissenschaftlichten, historischgesellschaftlich gewordenen modernen Welt unverzichtbar sind.
Hinzu kommt eine dritte pädagogische Handlungsform, die an unterrichtlich vermittelte und gestützte Lehr-Lernprozesse anschließt und auf den Übergang und Eintritt der nachwachsenden Generation in die ausdifferenzierten Handlungsfelder moderner Gesellschaft vorbereitet. Dies ist die Handlungsform einer beratenden Erziehung, welche die Partizipationsmöglichkeiten der Teilhabe der nachwachsenden Generation am öffentlichen Leben in den Bereichen von Arbeit und Sitte, Erziehung und Politik, Kunst und Religion nutzt und stärkt.
Pädagogische Disziplinierung fordert zum Anhalten der Bedürfnisse und zum Eintritt in Prozesse des Lernens und Nachdenkens auf. Erziehender Unterricht erweitert Erfahrung und Umgang durch die Einführung in ein Denken und Urteilen, welches zwischen lebensweltlichen, teleologischen, szientifischen, ideologiekritischen, pragmatischen und voraussetzungskritischen Wissens- und Urteilsformen zu unterscheiden versteht. Pädagogische Beratung zeigt auf den Übergang in intergenerationelle Handlungsformen und Anbahnung einer Handlungskompetenz, die es der nachwachsenden Generation erlaubt, am öffentlichen Leben zu partizipieren.
Für den Grundcharakter erziehungswissenschaftlicher Forschung bedeutet dies, dass sie weder als reine Erziehungsforschung, die pädagogische Prozesse und Einwirkungsversuche auf Lernprozesse Heranwachsender nur beobachtet und erklärt, noch als isolierte Bildungsforschung möglich ist, die Outputkompetenzen misst und vergleicht (vgl. ZEDLER 2012; 2013). Von einer primär psychologisch orientierten Bildungsforschung unterscheidet sich eine pädagogische Erziehungs- und Bildungsforschung dadurch, dass sie pädagogische Prozesse unter gleichzeitiger Berücksichtigung erziehungs-, bildungs- und institutionstheoretischer Fragestellungen untersucht und Zusammenhänge zwischen einer vorgegebenen Inputorientierung von Lehr-Lernprozessen durch Lehrpläne und Richtlinien, einer disziplinierenden, unterrichtenden und beratenden Erziehung und der Entwicklung von Kompetenzen in den drei Bereichen Grundkenntnisse, Urteils- und Partizipationskompetenz erforscht und klärt.
Die Erziehungsphilosophie ist daher zusammen mit der Bildungsphilosophie und der Allgemeinen Pädagogik dazu aufgerufen, an der Konzeptualisierung, Kritik, Verbesserung und Weiterentwicklung pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Forschungsvorhaben mitzuwirken und für diese Wege aufzuzeigen, wie Forschungsvorhaben den Experimentalcharakter der pädagogischen Praxis stärker berücksichtigen und an den theoriegeleiteten Wissensformen der Pädagogik und Erziehungswissenschaft teilhaben können (vgl. REINMANN/SESINK 2011).