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Anerkennung und Gerechtigkeit

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Verweise auf mangelnde Gerechtigkeit im deutschen Schulsystem fehlen in kaum einer der bildungspolitischen Debatten der Nach-PISA-Ära. So zeigt die entsprechende Forschung z.B. immer wieder, dass der Bildungserfolg in Deutschland deutlich von der sozialen Herkunft der Kinder abhängt (vgl. Bos u.a. 2011). Die Frage nach der Gerechtigkeit der Schulsysteme wird bisher meist mit empirischen Verweisen auf messbare Ungleichheiten beim Bildungszugang, den schulischen Leistungen oder den Ergebnissen in Leistungstests beantwortet. Aus diesen Befunden wurden und werden bildungspolitische Handlungsnotwendigkeiten abgeleitet (vgl. auch KMK 2006; 2010). Damit politische Reformbemühungen einem moralischen Anspruch, gerade hinsichtlich ungleicher Bildungschancen, gerecht werden können, erscheint eine Einbettung in gerechtigkeitstheoretische Überlegungen sinnvoll. Drei derzeit populäre Ansätze können dafür als Betrachtungsfolie dienen: die Verteilungsgerechtigkeit nach John Rawls, die Teilhabegerechtigkeit nach Amartya Sen sowie die Anerkennungsgerechtigkeit nach Axel Honneth (vgl. auch STOJANOV 2008; 2011; WIGGER 2011; BERKEMEYER/MANITIUS 2013). Für Ansätze der Verteilungsgerechtigkeit ist die formale Gleichheit zentrales Gerechtigkeitsprinzip. Oberster Grundsatz ist nach Rawls (1979) die Gewährung des gleichen Rechtes auf Freiheit für alle Mitglieder der Gesellschaft (vgl. RAWLS 1979, S. 336). Ungleichheiten gelten jedoch unter der Bedingung als legitim, dass sie den am „wenigsten Begünstigten die größtmöglichen Vorteile bringen“ und „mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen“ (ebd., S. 336). Dies bedeutet, dass eine Umverteilung von Ressourcen diejenigen Gesellschaftsmitglieder, die nicht aus eigenem Verschulden benachteiligt sind, bei der Wahrnehmung ihrer Gleichheitsrechte unterstützen soll. Für schulische Bildung heißt dies, dass sie dem Gebot der Leistungsgerechtigkeit folgen soll und Schüler nicht wegen bestimmter Merkmale wie der sozialen Herkunft oder des Geschlechtes benachteiligen darf. Weiter bedeutet es, dass aus unverschuldeten Gründen Benachteiligte ein Recht auf Kompensation dieser Nachteile haben, ein Gedanke, der Maßnahmen wie einer zusätzlichen Förderung leistungsschwächerer Schüler oder der Idee des Bildungspaketes des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zugrunde liegt. Aus Perspektive dieser Gerechtigkeitstheorie sind derzeit verwendete Indikatoren der Bildungsberichterstattung bereits eine gute Informationsquelle. Sie geben etwa Auskunft über die Verteilung von Bildungsausgaben, das Bildungsangebot oder die Bildungsbeteiligung.

Für Vertreter der Teilhabegerechtigkeit, zuvorderst Amartya Sen, ist das oberste Ziel die Fähigkeit zu einer autonomen Lebensführung (vgl. SEN 2010). Der Fokus der Gerechtigkeit liegt nicht auf dem Besitz von Gütern, sondern auf Befähigungen (capabilities), die das Individuum in die Lage versetzen, ihre Lebensführung frei zu gestalten (vgl. ebd.). Schulen sehen sich dadurch aufgefordert, diese Befähigungen mit ihren Schülerinnen und Schülern zu entwickeln und einzuüben. Ob Schulen Befähigungen tatsächlich vermittelt haben, darüber geben Bildungsberichte derzeit z.B. über Indikatoren zur Zertifikatsvergabe Auskunft, deren Vergabe mit der Erreichung bestimmter Fähigkeiten verbunden ist.

Aus Perspektive der Anerkennung wird Gerechtigkeit nicht ausschließlich durch formale Gleichheit und die Kompensation von Nachteilen durch Umverteilung, aber auch nicht nur durch den Erwerb von Befähigungen zur autonomen gesellschaftlichen Teilhabe verwirklicht, sondern durch die Qualität sozialer Beziehungen (vgl. HONNETH 2004b). Ziel ist nicht eine individualistische, sondern eine kommunikative Form von Freiheit. Zentrale Aufgabe des Staates aus Sicht der Anerkennungsgerechtigkeit ist die „gleichmäßige Gewährung von Chancen der Partizipation an konstitutiven Anerkennungsbeziehungen“ (ebd., S. 224). Die Prinzipien, die in den drei Anerkennungsformen Liebe, Recht und Wertschätzung wirken, sind die Bedürfnisgerechtigkeit, die Rechtsgleichheit und die Leistungsgerechtigkeit – sie gemeinsam zielen auf die Gewährung individueller Autonomie und damit auf soziale Gerechtigkeit (vgl. ebd.). Das „individualistische Leistungsprinzip“ ersetzt in modernen Gesellschaften die ständische Statushierarchie als „neues Kriterium der sozialen Wertschätzung“ (HONNETH 2003, S. 174). Soziale Wertschätzung bedeutet eine Anerkennung der „besonderen Eigenschaften, durch die Menschen in ihren persönlichen Unterschieden charakterisiert sind“ (HONNETH 1992, S. 197). Es geht also um die Fähigkeiten und Eigenschaften des Einzelnen und deren Wert für die Gesellschaft, wobei der Bezugsrahmen für die Beurteilung dessen, was als wertvoll gilt, prinzipiell deutungsoffen ist (vgl. ebd.). Dass die wechselseitige Anerkennung dieser Fähigkeiten symmetrisch gedacht werden muss, heißt für Honneth, dass „jedes Subjekt ohne kollektive Abstufungen die Chance erhält, sich in seinen eigenen Leistungen und Fähigkeiten als wertvoll für die Gesellschaft zu erfahren“ (HONNETH 1992, S. 210). Hier zeigen sich bereits die Schwierigkeiten, die sich hinsichtlich einer Übertragung auf das Bildungssystem ergeben, denn in Schulen ist der Bezugsrahmen für Werturteile, zumindest formal, an schulische Leistungen gekoppelt. Hier setzt Stojanov (2011) an und begründet Bildungsgerechtigkeit als eigenständige Gerechtigkeitskategorie, da sie mit ihren Besonderheiten nicht unter den Begriff der Gerechtigkeit subsumiert werden könne. Er zählt sie zu der Klasse der gesellschaftlich besonders umkämpften Begriffe (vgl. STOJANOV 2011), da sie sich durch einen streitbaren normativen Gehalt auszeichne. Wichtigstes Differenzmerkmal zum Oberbegriff Gerechtigkeit sei der Umstand, dass die Fähigkeit zu autonomen Entscheidungen bei Heranwachsenden nicht vorausgesetzt werden kann, im Gegenteil, sie durch Schulbildung erst ermöglicht werden soll. Daher könne mit Ansätzen der Verteilungsgerechtigkeit Bildungsgerechtigkeit nicht vollständig rekonstruiert werden (vgl. ebd.). Stojanov arbeitet aus Perspektive der Anerkennungsgerechtigkeit heraus, was Bildungsgerechtigkeit auszeichnet: Schulische Interaktionsformen und damit verbundene Anerkennungserfahrungen der Empathie, des Respektes und der Wertschätzung stellen die Ressourcen dar, die Heranwachsende benötigen, um Herkunfts- und Sozialisationslimitierungen überschreiten zu können (vgl. ebd.). Damit wendet sich Stojanov gegen eine einseitige Gleichsetzung von Bildungsgerechtigkeit mit Begabungsgerechtigkeit oder Leistungsgerechtigkeit. Hier liegt das Dilemma der Bildungsgerechtigkeit aus Sicht der Anerkennung: Wenn man sie konsequent zu Ende denkt, laufen ihr die Funktionen der Schule (vgl. FEND 1980), insbesondere die Selektions- und Allokationsfunktion, zuwider, denn mittels dieser Funktionen erkennen Schulen eben nicht die ganze Person des Schülers mit ihren Eigenschaften und Fähigkeiten an, sondern nur diese, die für Schulleistungen relevant sind. Helsper u.a. zeigen beispielhaft, dass sich institutionelle Missachtung auch auf die anderen Anerkennungsmodi auswirkt und zu einer Selbstabwertung der ganzen Person führen kann (HELSPER u.a. 2005). In diesem Sinne beurteilt Stojanov die frühe Selektion im deutschen Schulsystem als ungerecht (vgl. STOJANOV 2006). Kinder würden zudem durch diese Selektion auf eine bestimmte ‚Begabung‘ festgelegt, womit zugleich ihr Potential zur Entwicklung neuer Fähigkeiten und Persönlichkeitseigenschaften missachtet wird (vgl. ebd.).

Schließlich lässt sich mit Lothar Wigger (2011) konstatieren, dass Bildungsgerechtigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann, wobei der Fokus auf jeweils einem Gerechtigkeitsprinzip liegt, das als gerechtigkeitsverbürgend herausgestellt wird. Wigger ordnet den gerechtigkeitstheoretischen Perspektiven Funktionen des Bildungssystems zu, die in diesen besondere Beachtung finden: die Leistung des Bildungssystems für die arbeitsteilige Wirtschaft, die Leistung für das Leben in der Demokratie sowie für die individuelle Autonomie und Identität (vgl. WIGGER 2011). Verteilungsgerechtigkeit ist danach eng verbunden mit der Selektions- und Allokationsfunktion der Schule, die Teilhabegerechtigkeit hebt auf die Qualifikations-, Sozialisations- und Integrationsfunktion ab, während die Anerkennungsgerechtigkeit mit der Personalisationsfunktion in Verbindung steht (vgl. ebd.), welche die Förderung des Einzelnen um seiner selbst willen und damit die Ermöglichung einer individuellen Bildung fokussiert. Für eine gerechtigkeitstheoretische Betrachtung des Schulsystems sind alle drei Perspektiven relevant und nicht voneinander trennbar, da Bildungsgerechtigkeit auf verschiedenen Ebenen entsteht bzw. verhindert wird: auf Ebene der Institutionen über eine gerechte Ressourcenverteilung, auf Ebene des Individuums über die tatsächliche Vermittlung von Fähigkeiten, die ein gutes Leben ermöglichen und die Sozialbeziehungen, die zur Autonomie befähigen (vgl. BERKEMEYER/MANITIUS 2013). Die derzeitige Bildungsberichterstattung spiegelt mit ihren Indikatoren zum größten Teil Prinzipien der Verteilungsgerechtigkeit, da eingesetzte Ressourcen und erhaltene Outcomes in der Regel statistisch erfasst werden und damit zur Verfügung stehen. Daher kann es als aktuelle Herausforderung für die Bildungsberichterstattung gelten, Indikatoren zu entwickeln, mit deren Hilfe Prozesse auch der Teilhabe- und Anerkennungsgerechtigkeit nachgezeichnet werden können, um den Status der Gerechtigkeit im Schulsystem adäquater abbilden zu können.

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